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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2005, Seite 24

Aus der Alltagsgeschichte des Kapitalismus

Kapital-Verbrechen

Zur »geschichtlichen Laufbahn des Kapitals« bemerkt Rosa Luxemburg, einen Satz von Karl Marx fortführend, dieses sei nicht nur »aus allen Poren blut- und schmutztriefend zur Welt« gekommen, sondern es setze sich derart auch »Schritt für Schritt in der Welt durch«. Die bürgerlich-liberale Theorie habe nur die eine Seite des historischen und aktuellen Prozesses im Blick, den »friedlichen Wettbewerb« und Warenaustausch auf dem Markt, das gleiche Eigentumsrecht. Die andere Seite der Kapitalakkumulation sei die, wo »ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung und Plünderung zutagetreten«, und es koste gedankliche Mühe, unter »diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben«, der kolonialen Zugriffe und Kriege »die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden«.
Die gewalttätige, kriminelle Seite der Kapitalismusgeschichte zeigt sich nach Rosa Luxemburg vor allem dort, wo die kapitalistische Wirtschaftsweise sich daranmacht oder darauf aus ist, nichtkapitalistische Produktionsformen zu zerstören und damit die eigene Machtsphäre auszuweiten, aber auch dann, wenn rivalisierende Kapitalgruppen nationalstaatliche Politik dazu einsetzen, die Interessensphären weltweit neu zu verteilen.
Das von uns hier vorgestellte Buch zielt nicht darauf ab, den zuletzt genannten Aspekt der Vergangenheit und Gegenwart kapitalistischer Weltpolitik, den Imperialismus der Moderne also, systematisch zu behandeln: dazu liegt eine Fülle lesenswerter älterer und neuerer Literatur vor. Thema unseres Buches ist auch nicht der Faschismus als die extreme Ausformung staatsverbrecherischer Politik, bei der sich kapitalistische Interessen, Rassismus und kriegerischer Griff nach der Weltmacht miteinander verbanden.
Es geht in diesem Buch vielmehr um die Beschreibung der »ganz normalen« Kriminalität in der Geschichte der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse und industrieller Warenproduktion, von der überseeischen Expansion Europas bis in die Gegenwart; vom Raub der Edelmetalle Amerikas, der Freibeuterei, dem Sklavenhandel und den Zuckerplantagen in der Karibik oder der Vernichtung indischer Baumwollmanufakturen als Voraussetzung für die englische Textilindustrie, über die »Modernisierung« des Kapitalismus durch Fließbandarbeit, um die Machenschaften beim Öl, dem Treibmittel der modernen Wirtschaft, bis hin zur heutigen Rüstungsindustrie.
Die verschiedenen Facetten bei den verbrecherischen Gewohnheiten des Kapitals werden an Beispielen gezeigt, und die Berichterstattung darüber gruppiert sich bei uns nach begehrten Objekten kapitalistischen Wirtschaftens: Edelmetalle, Zucker, Baumwolle, Öl, Automobile und militärische Hardware. Es geht uns auch darum, anhand der für die verschiedenen Entwicklungsstadien des Kapitalismus jeweils prägenden Leitsektoren eine historische Skizze anzulegen. So charakterisiert die Plünderung der Silber- und Goldschätze Amerikas die Phase der ursprünglichen Akkumulation, die durch besonders brutale Vorgehensweisen gegenüber allem »Nichteuropäisch-Unchristlichen« bestimmt war. Die Geschichte der Zuckerproduktion steht für die Einführung von Plantagenökonomien, eine neuartige und unter Kapitalgesichtspunkten effiziente Methode der Warenproduktion, die ausschließlich für den Export bestimmt war. Damals formierte sich das bis in die Gegenwart hinein gültige Beziehungsmuster wirtschaftlicher Abhängigkeit zwischen Europa als dem Zentrum und der außereuropäischen Welt als der Peripherie. Die Plantagenwirtschaften griffen auf Sklavenarbeit zurück, für die im Wesentlichen in Afrika rekrutiert wurde. Beide — menschliche Ware und koloniale Agrarprodukte — wurden vom Handelskapital gemanagt, das im 17. und 18.Jahrhundert den Höhepunkt seines weltweiten Wirkens erlebte. Baumwolle kann als Rohstoff der industriellen Revolution bezeichnet werden; ohne sie wäre der industrielle Aufbruch wahrscheinlich anders verlaufen — erst der Ausschluss indischer Textilimporte vom englischen Markt schuf die Voraussetzung für eine einheimische Industrie. Importsubstitution, wie dieser Vorgang in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur bezeichnet wird, wird noch heute jedem nachholenden Land als probates Mittel für erfolgreiche Industrialisierung empfohlen — aber sie setzt politische Macht voraus.
Öl ist das Treibmittel der modernen Wirtschaft, die ihren Anfang mit dem sog. Fordismus nahm. Fließbandfertigung senkte die Produktionskosten beträchtlich, sodass Lohnsteigerungen möglich wurden, die die Arbeiter in die Lage versetzten, die von ihnen geschaffenen Waren, sog. langlebige Konsumgüter wie bspw. Pkw, zu erwerben. Massenproduktion und -konsum veränderten soziale und politische Szenarien in den modernen Industriegesellschaften bis hin zu der Umdeutung von Unternehmern zu Arbeitgebern und Arbeitern zu Arbeitnehmern. Der heutige Kapitalismus als ein weltweit tätiges System kann allen marktwirtschaftlichen Propagandisten zum Trotz nicht ohne militärische Instrumente daherkommen. Rüstungs- und Waffenproduktion sind für ihn unerlässlich, aber auch äußerst profitabel. All diesen Beispielen ist ein hoher Verbrechensgrad gemeinsam.
Es zeigt sich, dass die Geschichte des Kapitalismus geprägt ist durch Kapitalverbrechen — nicht nur als Missetaten einzelner, sondern im Sinne immer wieder auftretender »organisierter« Kriminalität, die keine Rücksicht nahm auf das Existenzrecht von Menschen. Kein Grund also zur Selbstgefälligkeit eines, so der gegenwärtige Stand, »Systemsiegers« im welthistorischen Prozess.
Thomas Dunning, ein englischer Schuhmacher, der um 1840 die Proteste seiner Handwerkskollegen gegen die Einführung von industriellen Fertigungsmethoden in der Branche im Nordwesten Englands organisierte, fasste seine Erfahrungen wie folgt zusammen: »Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. 10% sicher, und man kann es überall anwenden; 20%, es wird lebhaft; 50%, positiv waghalsig; für 100% stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300%, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.«
Das Streben nach maximalem Profit verleitet zu riskanten Handlungen, die nicht immer ungesetzlich sein mögen, aber Brutalitäten einkalkulieren, sofern der Profit stimmt. Die Geschichte des Kapitalismus liefert Hinweise en masse für diese Aussage, hier ein kleiner chronologischer Auszug:
♦  Die Durchdringung einer naturalwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsweise mit Geldbeziehungen lag in den Händen einer Kaufmannsschicht, die sich wirtschaftlich über Geld-Kapital reproduzierte. Zu dessen Quellen gehörten einerseits Raub und Plünderungen; andererseits drang das Kaufmannskapital in die bäuerliche Sphäre ein, deren Mehrprodukt es sich aneignete. Das Kaufmannskapital agierte auf internationaler Bühne und in großem Stil. Es war als Finanzier an den Kreuzzügen beteiligt, die man auch als gewaltige Raubzüge werten kann.
♦  Die merkantilistische Epoche des Kapitalismus wurde maßgeblich von Handelskompagnien geprägt; sie waren Monopolunternehmen, an denen der Staat als Gesellschafter neben privaten Investoren beteiligt war. Sie erhielten staatliche Unterstützung nicht nur in kommerzieller sondern auch in militärischer Hinsicht. Die Kolonialisierung des heutigen Indonesien durch die holländische VOC (Vereinigte Ostindische Kompagnie, Stammsitz in Amsterdam) ist hier exemplarisch. Die örtlichen Produzenten wurden durch schiere Gewalt gezwungen, ihre Produkte an die Handelskompanie abzuliefern, zu Bedingungen, die von ihr diktiert wurden. Um Preisverfall vorzubeugen, zögerten die niederländischen Herren nicht, Produktionsstätten stillzulegen, Gewürzsträucher abzuholzen und der Bevölkerung damit die Existenzgrundlage zu entziehen.
♦  Dreieckshandel: Die Übertragung feudaler Verhältnisse in die neuen Kolonien, von Spanien in Amerika praktiziert, erwies sich als nicht zukunftsfähig. Die Rekrutierung von Arbeitskräften durch Zwangsverpflichtungen war — demografisch bedingt — begrenzt. Der Handel mit Menschen als Ware trat an ihre Stelle. Der Einsatz von Sklaven bedingte eine Neuausrichtung der ökonomischen Strategien; denn der Kauf von menschlicher Arbeitskraft erforderte Investitionen, die durch entsprechende Vermarktung erwirtschaftet werden mussten. Die agrarische Produktion musste demnach auf eine vollständige Kommerzialisierung ausgerichtet werden. Dazu bot sich ein Zweig des Luxushandels an, der im Gegensatz zu herkömmlichen Gewürzen auch in gemäßigten Klimazonen betrieben werden konnte — Zucker. Was heute eine niederpreisige Alltagsware ist, war im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ein Produkt, das grammweise gekauft wurde. Die Plantagenbewirtschaftung des Zuckerrohrs hat eine lange Tradition, sie wurde seit Jahrhunderten im Vorderen Orient praktiziert. Die dank der spanischen Kolonialpolitik weitgehend entvölkerten Inseln der Karibik boten da ein ideales neues Terrain. Hier nahm ein neuer Wirtschaftskreislauf Gestalt an: Handelskapital beschaffte Sklaven in Westafrika, verschiffte die menschliche Ware in die Karibik, belud die Schiffe für den Rückweg nach Europa mit Zucker, der von einigen Zentren wie Liverpool und Bordeaux aus vermarktet wurde. Das Handelskapital akkumulierte an mehreren Stellen; bei den Geschäften mit den lokalen Sklavenbeschaffern in Afrika, dann beim Verkauf in der Karibik und schließlich bei der Vermarktung des Zuckers. Entscheidend für den Geschäftserfolg war die Monopolstellung, die wiederum staatlicherseits garantiert wurde.
♦  Das Vordringen der Industrie in vorkapitalistische Sphären war begleitet von Gewalt gegenüber den dortigen Produzenten. Die Highland Clearances in Schottland zu Beginn des 19.Jahrhunderts sind exemplarisch für die sozialen Barbareien beim Siegeszug des Industriekapitalismus. Der rapide Aufschwung der englischen Textilindustrie stellte neue Anforderungen an die Versorgung der massenhaft Beschäftigten. Bevorzugtes Nahrungsmittel war Hammelfleisch, der Mehrbedarf konnte aus den traditionellen Weidegebieten nun nicht gedeckt werden. Gleichzeitig gaben technische Neuerungen bei der Textilproduktion der Wollverarbeitung Auftrieb, die kostengünstiger produzierte als die europäische Konkurrenz. Auch für die Wolle stellte sich deshalb die Frage nach erweiterten Bezugsquellen. Die schottischen Highlands boten bislang brachliegende Nutzfläche an. Für die Grundherren war die Transformation der Ländereien in Weideland wirtschaftlich lukrativ. Es galt nur noch, die Pächter zu zwingen, das Land zu verlassen. Rechtliche Möglichkeiten gegen eine Vertreibung hatten diese nicht, denn es gab keine schriftlich fixierten Verträge, die die Nutzung verbrieft hätten. Im Jahr 1785 begannen die Clearances in Glengarry. In den nächsten fünfzig Jahren wurden die Highlands »gesäubert« mit tatkräftiger Hilfe des Militärs. Die Blackwatch-Regimenter werden noch heute von patriotischen Schotten verachtet wie die besonders skrupellosen Grundherren der Clans MacDonell, Campbell und Gordon. Am brutalsten waren der Herzog und die Herzogin von Sutherland, die über einen Landbesitz von ca. 1 Million Acres verfügten. Die örtlichen Revolten waren angesichts der geballten Militärmacht erfolglos. Widerspenstigen wurden die Katen angezündet; das ohnehin kärgliche Hab und Gut wurde mutwillig zerstört. Die britische Öffentlichkeit nahm von diesen Vorgängen keine große Notiz; die nationale Presse feierte vielmehr den wirtschaftlichen Fortschritt.
♦  Bis in die 60er Jahre des 19.Jahrhunderts diente der Eisenbahnbau in der außereuropäischen Welt vorrangig der Ausbreitung der Warenwirtschaft. Beispiele hierfür sind die nordamerikanischen Eisenbahnen und die an Russland für den Bahnbau vergebenen Anleihen. Die Bahnsysteme, die in Asien und Afrika gebaut wurden, dienten fast ausschließlich imperialistischen Zwecken, d.h. der wirtschaftlichen Monopolisierung und der politischen Unterwerfung der Hinterländer, so auch die ostasiatischen und zentralasiatischen Eisenbahnbauten Russlands. Denselben Charakter tragen die von Russland getragenen Eisenbahnkonzessionen in Persien, die deutschen Anleihen für die Bagdad-Bahn, die deutschen Bahnbauten in den afrikanischen Kolonien. Den Zusammenhang zwischen Bahnbau und Vorteilen für die eigene Wirtschaft belegt der deutsche Außenhandel mit der osmanischen Türkei. Vor dem Bahnbau beliefen sich hier die deutschen Exporte auf 28 Millionen Mark (1898); im Jahr 1911 waren sie auf 113 Millionen Mark hochgeschnellt. Anleihen mussten selbstverständlich mit entsprechender Verzinsung zurückgezahlt werden.
Eine Grundregel der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist, die menschliche Arbeitskraft als Mittel einzusetzen für die Schaffung von Profit. Das von persönlichen Banden gelöste Arbeitsverhältnis macht den Arbeiter zu einem Produktionsfaktor in einem Prozess, bei dem Geld über Warenproduktion in Mehrgeld verwandelt wird, das nach Abzug aller dabei entstehenden Kosten den Profit bildet. Die Höhe der Profitrate, also des Profits im Verhältnis zum eingesetzten Kapital, ist maßgeblich von den Verhältnissen in der Produktion abhängig, daher der Drang, die Lohnkosten zu senken und die Produktivität steigernde Maßnahmen zu treffen. So wird der prinzipiell a-soziale Charakter der kapitalistischen Wirtschaftsweise verständlich, deren humanes Gesicht, etwa in der Ära des Wohlfahrtsstaats, immer nur das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sein kann.

Werner Biermann/ArnoKlönne

Bei dem Text handelt es sich um die (gekürzte) Fassung der Einleitung zu dem im März im Kölner PapyRossa-Verlag erscheinenden neuen Buch des Autorengespanns Werner Biermann und Arno Klönne: Kapital-Verbrechen. Zur Kriminalgeschichte des Kapitalismus (208 Seiten, 14,80 Euro).



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