SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2005, Seite 19

Bemerkenswerte Filme auf der Berlinale

Herumspuken in den Zwischenreichen

Japan, Mitte des 19.Jahrhunderts: Wie der Samurai Munezu von seinen Klanherren beauftragt wird, einen Abtrünnigen, seinen Freund Yaichiro, im Zweikampf zu töten. Wie er erkennen muss, dass Ritterlichkeit nicht mehr zählt, als eine Kugel aus dem Hinterhalt den Kontrahenten tötet. Wie er in die Stadt aufbricht, um ein Leben als Geschäftsmann an der Seite einer Frau zu beginnen, die nach dem herkömmlichen Kastendenken zu minder wäre, um gleichberechtigt mit ihm zu leben…
Kakushi Ken-Oni No Tsume (The Hidden Blade, Japan 2004, Regie: Yoji Yamada) ist ein Bericht über den Verfall der alten Werte und die Nachfrage, wie bewahrenswert sie waren. Wenn der Gefolgsmann den Zynismus der Anführer erkennt, muss er den vertrauten Weg verlassen und einer neuen, ins Ungewisse führenden Fährte folgen…
Über die Zeitenwende: Japan, im Sommer 1945: Die Niederlage Japans zwingt den Kaiser, seine Göttlichkeit aufzugeben. Im Gespräch mit einem US-amerikanischen Offizier bewegt der Tenno seine Lippen wie ein Fisch, bevor er zu sprechen beginnt. Ein Fisch auf dem Trockenen: Wenn der Offizier seinen japanischen Übersetzer hinausschickt und der Kaiser auf seine Bemerkung, es sei besser, ohne Untergebene miteinander zu sprechen, zu hören bekommt, nur er, der Imperator, habe Bedienstete… Der Hinweis auf seine Vielsprachigkeit und sein Anspruch, Wissenschaftler zu sein, verfangen nicht beim Gegenüber. Die Frage nach Hitler versteht der Tenno nicht, er sei dem Mann doch nie begegnet…
Die Neue Zeit: US-Soldaten wollen den Herrscher der Japaner fotografieren. Entsetzt winkt das Hofpersonal erst ab, legt dann Verhaltensmaßregeln fest. Doch dem Entmachteten gefällt es plötzlich, ein »Star« zu sein. Bereitwillig posiert er für die GIs. Alleine in seinen Gemächern, probt er, versteckt beobachtet von einem Diener, wie es ist, sich als »normaler Mensch« zu bewegen…
Alexander Sokurows Solonze (Die Sonne, Russland/Italien/Frankreich/
Schweiz 2004) leuchtet die Behausung des letzten Gottkaisers kaum aus. Das »Licht der Erkenntnis« fehlt, wo Ignoranz und zeremonielle Beschränktheit ihr Dasein behaupten.
Wie sich der Tenno bewegt, wie sich sein Gang von jenem der »von außen Kommenden« ebenso unterscheidet und der Redefluss eines zuvor nicht zu Hinterfragenden erst in Gang gesetzt werden muss durch fischartige Mundbewegungen, das führt Alexander Sokurow exemplarisch vor. Wissend, dass er einen Kriegsverbrecher porträtiert, zeigt er doch den gefallenen Gott in der Zeitenwende, sowie folgerichtig die Erkenntnis, aus dem Dunkel ins Licht zu gelangen.

Aufbrechende Wunden

Jeong-haes Alltag unterliegt, so scheint es, einen geregelten Ablauf. Tagsüber ist sie die beliebte Kollegin im Postamt, stets hilfsbereit und freundlich: Nach Arbeitsschluss begleitet sie die anderen in ein nahe gelegenes Lokal, dann verabschiedet sie sich. Seit sie ein kleines Kätzchen von der Straße aufgelesen hat, verlässt sie die Runde etwas früher, aus Sorge um ihr »Pflegekind«. Den Kolleginnen entgeht nicht, dass sich Jeong-haes Kontakt mit dem männlichen Geschlecht auf den Schalterdienst beschränkt. Umso aufmerksamer beobachten sie ein kurzes Treffen mit einem jungen Mann, der Jeong-hae offenbar vertraut ist…
Zeynep arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel. Auf dem Heimweg wartet ihr Verehrer, ein Page, auf sie, doch er wird allenfalls als lästiges Anhängsel von ihr geduldet. Daheim kümmert sie sich um den Haushalt, versorgt den von der Arbeit heimkehrenden Vater. Nachts schleicht sich der Vater an ihr Bett…
Der Mann, mit dem sich Jeong-hae trifft, ist ihr einstiger Verlobter, der sie von seiner bevorstehenden Heirat in Kenntnis setzt. Einst hat sie ihn in der Hochzeitsnacht verlassen. Auch bei diesem Treffen, Jahre danach, verweigert sie ihm die Erklärung…
Zeynep erhält Kleider aus einem Nachlass. Sie wechselt ihr einförmig unscheinbares Outfit, probiert ein strahlend rotes Kleid, das sie attraktiv aussehen lässt, setzt einen äußerlichen Kontrapunkt zum grauen, stets gleich bleibenden Alltag. Der heimkehrende Vater versetzt ihr eine schallende Ohrfeige…
Jeong-hae in Yeoja, Jeong-hae (The Charming Girl, Südkorea 2004, Regie: Lee Yoon-ki) und Zeynep in Melegin Düsüsü (Angels Fall, Türkei/Griechenland 2004, Regie: Semith Kaplanoglu) sind junge Frauen, die eine Wunde in sich tragen, die eines Tages unvermeidlicherweise aufbricht. Jeong-hae, die als Kind von ihrem Onkel missbraucht wurde, ist ebenso wie die dem stetigen Missbrauch durch ihren Vater ausgesetzte Zeynep beziehungsunfähig. Erst die Konfrontation mit ihren Peinigern, die für Zeyneps Vater tödlich endet, ermöglicht ihnen einen Neubeginn.
Sowohl Lee Yoon-ki als auch Kaplanoglu lassen sich Zeit, die seelischen Deformationen ihrer weiblichen Hauptfiguren offen zu legen. Kein plakatives Psychodrama erzählt von deren Leiden. Je routinierter Jeong-hae und Zeynep ihren Alltag bewältigen, desto selbstverständlicher dessen Ablauf scheint, desto mehr wird dessen Widersinnigkeit deutlich und — die Notwendigkeit, sich mit dem Ursprung der Angst auseinanderzusetzen.

Gelassen und unerbittlich

Oz ist 17 und die Königin der Straße. Sie verkauft den Stoff, aus dem die Träume sind, selbst traum- und illusionslos. Im Jugendknast begegnet sie der gleichaltrigen Marisol, der das Jugendamt ihr Kind wegnehmen will, das sie alleine erzieht. Ihre Chancen, es zu behalten, sind ebenso gering wie die Aussicht, von der Nadel loszukommen. Und da ist die 15-jährige, wohlbehütete Suzette, deren erster Freund ausgerechnet ein um einige Jahre älterer Dealer ist, der ihr auf der Flucht vor der Polizei eine Waffe zugesteckt hat, die sie als Komplizin eines Überfalls erscheinen lässt…
On the Outs (USA 2004, Regie: Lori Silverbush, Michael Skolnik) ist ein kleines Wunder an Authentizität, was einerseits daran liegen mag, dass jugendliche Insassen einer Jugendstrafanstalt das Drehbuch mitentwickelt und ihre Erfahrungen eingebracht haben, vorwiegend jedoch dem Fehlen von Belehrungswut und verlogener Anteilnahme zu verdanken ist. On the Outs zeigt, wie cool eine Oz ist und gleichzeitig wie perspektivlos. Es ist nicht die Intention der Filmemacher, auf das ungenützte Potenzial der Oz hinzuweisen, allenfalls darauf, dass sie die einzige wäre, die die Kraft hätte, auszusteigen. In den Straßen von Jersey City ist kein Platz für sozialarbeiterisches Gelaber und hollywoodeske Tränengeschichten, On the Outs zeigt nicht mehr und nicht weniger, als sein Titel verspricht — ein Independent-Film der ebenso gelassen wie unerbittlich dem Rhythmus seiner Protagonisten folgt.

Sehnsucht nach Nähe

Wassermangel in Taipeh: Den Protagonisten in Tsai Ming-Liangs neuem Film Tian Baian Yi Do Duo Yun (The Wayward Cloud, Frankreich/Taiwan/China 2004) fehlt es nicht allein am Wasser, es mangelt, wie üblicherweise in den Filmen des taiwanesischen Meisterregisseurs, an der Luft zum Leben, an der Unfähigkeit zum Miteinander, gleichzeitig ist die Sehnsucht nach Nähe und nach dem Geliebtwerden unablässig präsent, und wird hier, liebevoll-ironisch durch bunte Wunschpakete in Form von Musicalszenen kontrastiert.
The Wayward Cloud führt auf vergnügliche Weise vor, was man mit Wassermelonen alles anstellen kann, besticht durch ungewöhnliche Kameraperspektiven und erschüttert durch seine Schlusssequenz, die zum Stärksten zählt, was das zeitgenössische Kino in den vergangenen Jahren zu bieten hatte. Da findet die Shang-Chyi, die weibliche Hauptfigur, eine Bewusstlose, die zuvor als Hauptdarstellerin eines im Haus gedrehten Pornofilms vorgestellt wurde, im Aufzug, heischt um Hilfe und findet sie in Form der Crew des Pornofilms. Die Bewusstlose, vielleicht schon Tote, wird von diesen gewaschen, um alsdann mit ihr die noch ausstehenden Szenen des Filmes zu drehen. Entsetzt und zugleich erregt beobachtet Shang-Chyi diesen Vorgang, synchronisiert die orgastischen Schreie der Verstummten, Missbrauchten. Bei einem »Positionswechsel« treffen ihr Blick und jener des »privat« von ferne begehrten Hauptdarstellers Hsaio-Kang aufeinander. Dieser unterbricht die Dreharbeiten und nähert sich mit erigiertem Glied raschen Schrittes dem Fenstergitter…
Die Türkei, in den 70er Jahren: Eine restriktive Gesellschaft, in der Angst und Intoleranz gleichermaßen das Verhältnis der Menschen zueinander bestimmen. In Trebolu, einem grenznahen Fischerdorf am Schwarzen Meer, lebt die alte Ay¸se. Seit ihre Schwester gestorben ist, zieht sie sich immer mehr zurück. Nur Mehmet und Cengiz, zwei Jungen aus der Nachbarschaft, halten Kontakt zu ihr. Immer mehr scheint sie sich von dieser Welt zu verabschieden, bis ein geheimnisvoller Fremder den Ort besucht… Bulutlari Beklerken (Waiting for the Clouds, Türkei/Griechenland 2004, Regie: Yesim Ustanglu) erzählt über eine Doppelexistenz: Ay¸se ist die Überlebende einer ethnischen Säuberung zu Jahrhundertbeginn. Ihren alten griechischen Namen hat sie abgelegt, um als »Ay¸se« nicht gefragt und nicht bedrängt zu werden. Als sie ein weiterer Überlebender (der »geheimnisvolle Fremde«) nach Jahrzehnten besucht, fragt sie ihn nach dem verschollenen Bruder. Das alte, vergilbte Foto, letzte Erinnerung an die zerstörte Familie, nimmt sie mit, als sie ihre letzte Reise ins ferne Griechenland antritt, ungewiss, den Bruder zu finden und ebenso ungewiss, willkommen zu sein… Waiting for the Clouds von Yesim Ustanglu widmet sich, ebenso wie der vorangegangene (und mehrfach ausgezeichnete) Film Journey to the Sun einem türkischen Tabuthema. Langsam, nachgerade die Zeit anhaltend, gemahnt dessen ruhiger Erzählfluss doch stets an Faulkners Wort, das Vergangene sei nicht tot, es sei nicht einmal vergangen…

Kurt Hofmann

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