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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 3

Johannes Paul II. (1978—2005)

Hungrige Seelen und heilige Doppelmoral

Papst Johannes Paul II. ist gestorben, wie er gelebt hat. Ein letztes Mal hat er die Welt in Atem gehalten, Anhänger wie Kritiker mobilisiert und Millionen von Zuschauern ausgerechnet während und nach dem »heiligen« Osterfest über Wochen an den Fernseher gebannt. Ein letztes Mal hat er jene bemerkenswerte Mischung aus Gläubigkeit und Ungläubigkeit provoziert, die Millionen von Menschen nach Rom »pilgern« und sie »im Hause des Herrn« gleichzeitig klatschen und grölen lässt, man möge ihn doch sofort heiligsprechen. Ein letztes Mal hat dieser Papst der inneren Einkehr einen Triumphzug seiner weltlichen Macht ausgelöst, der in seiner Nachhaltigkeit weitreichende Weichen in die Zukunft stellt.
Ein letztes Mal hat er damit aber auch die ganze Widersprüchlichkeit seines Pontifikats wie der von ihm repräsentierten Religiosität offenbart. Mit Doppelmoral zur Moral, mit weltlicher Diplomatie und Happening-Veranstaltungen zum verinnerlichten Glauben, mit modernster Technik zur Anti-Modernität, mit einem konsumistischen Glauben gegen den materialistischen Konsumismus, mit einer Authentizität, die sich gekonnt inszeniert — so hat dieser Papst zu einem bemerkenswerten weltweiten Aufschwung katholischer Gläubigkeit beigetragen und diese gleichzeitig entleert.
Die öffentliche »Inszenierung« seines individuellen Leidens, die selbst nichtgläubige Kommentatoren und Zuschauer als ein bewunderungswürdiges Zeugnis menschlicher Authentizität meinen anerkennen zu müssen, kann ihren reaktionären Charakter allerdings nur schlecht verschleiern. Jesus sei auch nicht vom Kreuz gestiegen, soll Johannes Paul II. gesagt haben. Doch Jesus hat das Leiden am Kreuz nicht als Fügung in den Status quo inszeniert, sondern seine Schmerzen und seinen Protest herausgeschrien und gegen jene, die ihm dies antaten — inklusive seines Vaters —bittere Klage erhoben. Dass die christliche Kirchentradition die menschliche Verzweiflung und Opposition des Leiden Christi erfolgreich zur gottgefälligen Hinnahme des »Schicksals« umzuinterpretieren vermochte, allein darin verdeutlicht sich wie in einer Nussschale ihr reaktionärer, herrschaftsgefälliger Gehalt.

Der Reaktionär

Im Oktober 1978 an die Macht des »Heiligen Stuhls« gekommen, hat sich Johannes Paul II. bemerkenswert erfolgreich auf seinen Kreuzzug für den Glauben gemacht. Stück für Stück hat er die politischen, ökonomischen und kulturellen Schalthebel der katholischen Kirche erobert und für das Rollback gegen die einflussreiche Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils benutzt. Konsequent hat er den ebenso ideologischen wie institutionellen Kampf gegen alle Formen progressiv-liberaler Theologie aufgenommen, von den Jesuiten und Franziskanern über linksliberale und feministische Theologien bis zu jener einst machtvollen und ausgesprochen anziehenden Theologie der Befreiung. Vertreter all dieser Strömungen wurden abgesetzt und kaltgestellt, denunziert und verfolgt, während Vertreter ultrakonservativer Laienorganisationen oder ultrareaktionärer Geheimorden wie des berüchtigten Opus Dei hofiert und befördert wurden.
Das ausgrenzende Rollback gegen Frauen und Laienorganisationen innerhalb der katholischen Kirche und die Reaktivierung der innerkirchlichen Inquisition (Glaubenskongregation) unter dem deutschen Kardinal Ratzinger sind dabei zwei Seiten eines integralen Prozesses der Rückeroberung innerkirchlicher Hierarchie. Und diese Rehierarchisierung diente einem gleichermaßen weltlichen wie spirituellen Ziel, das sich bis zur Perfektion im Glauben und Wirken des polnischen Katholiken Karol Wojtyla verkörpert sah. Sein Leben lang kannte dieser Mann »nur ein Ziel: den Ersatz der dem Diesseits sich zuwendenden Religiosität (mit ihrer beinahe schon unauflöslich erscheinenden Identifikation mit sozialem Engagement) durch eine wieder voll aufs Jenseits gelenkte Spiritualität« (Werner Raith).
Hier, im geradezu physischen Ekel vor Diesseitigkeitsparolen (Raith), verband sich die neokonservative Kulturrevolution innerhalb der Katholischen Kirche — Stichworte: Sexualität, Ehe und Empfängnisverhütung — mit dem päpstlichen Bündnis mit den neokonservativen Revolutionären unter Ronald Reagan. Und ihr Mittel war die Reaktivierung der alleinigen Jurisdiktionsgewalt des Papstes über die Gesamtkirche. Mit diesem Dogma päpstlicher Unfehlbarkeit unterwarf Johannes Paul II. alle und alles, Glaubensinhalte wie Definitionsmacht über die Zugehörigkeit zur katholischen Gemeinschaft, seiner ganz persönlichen Willkürherrschaft.
Das verdrängen jene, die ihn nun zum Kämpfer gegen den Totalitarismus und für Menschenrechte stempeln, allzu gern. Die massive Einschränkung der Rede- und Forschungsfreiheit in katholischen Studienanstalten und die Verweigerung der Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtserklärung sprechen ebenso eine andere Sprache wie das Wohlwollen, mit dem autoritäre Regime und Fürstentümer oder die italienische Mafia vom Papst und seinem Vatikan geschont oder gar umworben wurden. Und die Vehemenz des päpstlichen Eintretens für die Glaubensfreiheit seiner polnischen Brüder und Schwestern kontrastiert auffallend mit der Vehemenz, mit der er den Glaubenskampf bspw. der irischen Katholiken ignoriert hat.
Auch der Kämpfer gegen den »menschenverachtenden Kommunismus« (Spiegel), als den sie ihn nun alle sehen möchten, war er nie. So feindlich er den polnischen »Kommunisten« gesinnt war, so freundlich war er den Kubanern gesinnt (vgl. S.4). Selbst im polnischen Fall sind dicke Fragezeichen angebracht. So massiv er — im aktiven Bündnis mit der US-amerikanischen CIA — die Subversion gegen die polnischen »Kommunisten« ideologisch und finanziell gefördert hat, so einträchtig verstand sich Johannes Paul mit dem polnischen Militärdiktator Jaruzelski und kritisierte allzu oft den praktischen Kampf der Gewerkschaft Solidarnosc — zumal als diese noch deutlich sozialistisch gesinnt war.

Der Mensch

Karol Wojtyla war, wie man so schön sagt, der richtige Mann zur richtigen Zeit. Aufgewachsen in den dunklen Zeiten des europäischen Bürgerkrieges und zumal in der von diesem besonders betroffenen polnischen Gesellschaft hat er, zuerst unter der Diktatur Pilsudski, dann unter dem deutschen Faschismus und schließlich in dem an diesen anschließenden »Realsozialismus«, niemals erfahren, was Demokratie ist oder sein kann. Von individuellen Schicksalsschlägen persönlich betroffen — früher Tod von Mutter, Bruder und Schwester, sowie selbst nur knapp dem Tode entronnen —, tröstete sich der junge Wojtyla mit dem Glauben an Mystizismus und Personenkult und brachte es schnell zu innerkirchlichen Würden. Von der Reformpolitik des Zweiten Vatikanischen Konzils in den 60er und 70er Jahren marginalisiert, wurde er als einer der Letzten erneut einer der Ersten, als es Ende der 70er Jahre darum ging, auf die tief greifende Krise weltlich-linker Befreiungsbewegungen und den Aufstieg neuer Fundamentalismen (den sich in der iranischen Revolution verkörpernden neuen Islamismus, den sich in Reagan und Thatcher verkörpernden Zweiten Kalten Krieg, den sich im Aufstieg des Postmodernismus verkörpernden neuen Irrationalismus) eine innerkirchliche Antwort zu geben.
Und so wie diese neuen Fundamentalismen zu Beginn ihres Siegeszugs gerade von den Progressiven unterschätzt und belächelt wurden, geschah es auch Johannes Paul II. Unterschätzt und belächelt wurde dabei vor allem seine »spirituelle Kraft«, seine Fähigkeit, Millionen zutiefst verunsicherter Christen einen neuen Glaubensinhalt anzubieten. Keiner hat dabei wie er das alte christliche Liedgut erneuert, das die Übel menschlicher Dieseitigkeit mit der Vertröstung auf ein jenseitiges Heil kompensiert.
Mit den modernsten Mitteln spätkapitalistischer Kultur- und Massenindustrie begann eine spirituelle Offensive, die ihresgleichen sucht, und zuerst durch das ominöse Attentat des Türken Ali Agca, dann durch seine langjährigen Krankheiten erfolgreich aufrechterhalten werden konnte. Vor allem infolge des Zusammenbruchs des ehemals »real existierenden Sozialismus«, als plötzlich nur noch der Papst aus grundsätzlichen Erwägungen gegen jenen wild gewordenen Kapitalismus predigte, den er einstmals selbst durch sein Bündnis mit den neoliberalen Neokonservativen mitbeschworen hatte, entstand in den 90er Jahren um ihn eine Aura der Authentizität, die in ihrer Massenwirkung durchaus vergleichbar ist zur Wirkung eines Che Guevara oder Malcolm X in den 60er und 70er Jahren.

Die Transzendenz

So sehr sich die Bedürfnisse der nach solcher Authentizität verlangenden Menschen gleichen, so sehr verdeutlicht dieser Vergleich aber auch den entscheidenden Unterschied zwischen den Protagonisten.
Wird der menschliche Traum nach Erlösung aus dem irdischen Jammertal im revolutionären Sozialismus radikal verweltlicht und zum Imperativ einer Transformation des historischen Bösen — »by any means necessary« (Malcolm X) —, wird die Sehnsucht nach Erlösung in der christlichen Religion in ein überirdisches Reich göttlicher Vernunft überführt. Dort verdichtet sie sich dann zu einer metaphysischen und verinnerlichten Erlösungsidee, die Entfremdung nicht mehr aufzuheben verspricht wie im revolutionären Sozialismus, sondern sie zum unhintergehbaren Sündenfall ontologisiert. Armut und Askese, bei den einen das gelebte Ethos als Einsicht in die möglichst noch zu Lebzeiten zu überwindende Notwendigkeit, werden bei dem anderen zu ewig währenden Mitteln im Kampf gegen das wohl nie zu überwindende sittlich Böse.
Wer jedoch das fortwirkende Phänomen des Johannes Paul II. einzig als ein reaktionäres wahrzunehmen vermag, verkennt jenen in der religiösen Transzendenz begründeten, unvergänglich oppositionellen Stachel, der ausgerechnet diesen Papst zum wenn auch inkonsistenten, so doch scharfen Kritiker von Neoliberalismus und Krieg werden ließ. Die weltlich-liberale Kritik an seinen Taten — und er war in der Tat ein Täter, und sei es nur durch Unterlassung einer Hilfe, die seine Autorität hätte leisten können (AIDS- Prävention durch Kondome) — trifft deswegen nicht oder nur sehr bedingt jene Millionen hungriger Seelen, denen es um gerade diesen Glauben, diese Transzendenz, geht.
Deren Blick aufs Jenseits im Glauben wiederum verschleiert allerdings, dass und wie solcherart religiöse Transzendenz gerade in postmodern- neoliberalen Zeiten gleichsam zwangsläufig einher geht mit einer durch und durch reaktionären Weltlichkeit, dass und wie diese Zeiten das Bedürfnis nach Transzendenz gleichzeitig beflügeln wie sie dessen traditionelle Formen entleeren.
Ob die christlichen Religionen dieser Herausforderung dauerhaft gewachsen sind, bleibt trotz all ihres momentanen Erfolges fraglich. Der Mensch, hat einmal ein schlauer und konsequent diesseitig orientierter Mensch gesagt, ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat und Gesellschaft. Und dieser Mensch ist durchaus ein Lenker seines eigenen Schicksals. Er ist es zum Teil bereits heute und er kann es mehr noch sein, wenn er sich endlich zum kollektiven Schritt aus jenem irdischen Jammertal entschließt, das noch immer mit dem Namen Kapitalismus am treffendsten charakterisiert ist. So sehr das religiöse Bewusstsein auch ein Protest gegen dieses irdische Elend ist — Seufzer der bedrängten Kreatur, Gemüt einer herzlosen Welt, Geist geistloser Zustände —, so ist es gleichzeitig ihr konzentriertester Ausdruck, der klassische Fall eines nonkonformistischen Konformismus.
Die Forderung, die Illusionen religiöser Heilsversprechen aufzugeben, bleibt deswegen auch nach Johannes Paul II. »die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist« (Karl Marx).

Christoph Jünke

P.S.: Kurz vor Drucklegung erreicht uns die Nachricht, dass der deutsche Kardinal Ratzinger zum neuen Papst gewählt wurde — sicherlich ein Zeichen der nachhaltigen Stärke des alten Pontifex. Dass ausgerechnet der Königsmacher zum neuen König gemacht wird, könnte aber auch ein Zeichen seiner Schwäche sein. Wir werden sehen — ganz entspannt im Hier und Jetzt.



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