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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 5

Jürgen Klute (WASG) zum Elend des Neoliberalismus und den Perspektiven der Wahlalternative in NRW

Über die Wahl hinaus

Bei den Landtagswahlen am 22.Mai in Nordrhein-Westfalen tritt erstmals auch die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) an. Spitzenkandidat ist der seit 1989 als Industrie- und Sozialpfarrer und Leiter des Sozialpfarramts im Kirchenkreis Herne tätige Jürgen Klute, der sich in Forschung und Publizistik seit vielen Jahren schwerpunktmäßig mit dem Thema »Zukunft der Arbeit« beschäftigt. Für die SoZ sprachen Rolf Euler und Christoph Jünke mit ihm.

Als die Initiative für eine neue Wahlalternative im letzten Jahr bekannt geworden ist, hat sie eine bis weit in die großen bürgerlichen Presseorgane reichende Publizität erreicht. Nun tritt sie zu ihrer ersten Landtagswahl an, die Publizität ist jedoch weitestgehend weg. Bei der WAZ, um ein Beispiel zu nennen, taucht die WASG allenfalls noch im gleichen Atemzug mit der NPD auf. Wie will, wie kann man diese Tabuisierung nun im Wahlkampf wieder durchbrechen, um der großen Koalition des Sozialraubs etwas entgegenzusetzen?

Zum ersten hat uns bisher natürlich das Sammeln der vorgeschriebenen Unterschriften für die Direktkandidaten in allen 128 Wahlkreisen sehr viel Zeit gekostet. Von Tür zu Tür zu gehen, hat Zeit und Arbeitskraft gebunden. Gleichzeitig ist dies natürlich auch ein Teil unserer Strategie, bekannt zu werden.
Zum zweiten haben wir bereits viele Veranstaltungen vor Ort durchgeführt und dabei die Erfahrung gemacht, dass viele Zeitungen, mit ein paar Ausnahmen, dann auch recht fair und informativ berichten. Ein Teil unserer Zielgruppen liest vor allem den Lokalteil. Die WAZ unter der Geschäftsführung von Bodo Hombach ignoriert uns allerdings nachhaltig auf regionaler Ebene.
Drittens werden wir natürlich nun, da diese Phase erfolgreich abgeschlossen ist, provokanter und gezielter vorgehen. Da gibt es schon einige Überlegungen.

Welche Erfahrungen habt ihr bisher im Kontakt zu den Menschen gemacht? Herrschen auch dort Desinteresse und Ignoranz vor?

Absolut nicht. Als Referent habe ich auf einer Reihe von Veranstaltungen die Erfahrung gemacht, dass diese gut besucht waren, die Räume immer voll waren, von 20—25 über 50—60 und manchmal auch mehr. Das ist auf dieser Basisebene schon mehr als viele etablierte Parteien aufzuweisen haben. Interessanter noch sind die dortigen Diskussionen gewesen. Die Leute waren sehr dran an den Themen, haben sehr interessiert, gewissenhaft und durchaus auch kritisch nachgefragt, was wir eigentlich machen wollen. Das heißt aber ja nur, dass sie auch ernst nehmen, was wir vorschlagen.
Arbeitslosigkeit spielt in diesen Diskussionen eine zentrale Rolle, aber auch Fragen der Steuergerechtigkeit bspw., also die Finanzierungsfrage. Ein anderer Punkt, der mir aufgefallen ist, ist die Politikverdrossenheit, die Frustration von Leuten, die lange gar nichts gemacht haben, nun aber das Gefühl haben, dass sie wieder was machen müssten. Mit dieser Einstellung wollten sie sich dann angucken, was wir vorzuschlagen haben.

Es geht also über die Möglichkeiten der Wahl hinaus auch darum, sich wieder politisch zu engagieren?

Ja, das ist meine Beobachtung. Es sind immer wieder Leute dabei, die das deutlich artikulieren. Stammtischparolen habe ich bisher nicht gehört, es geht um mehr als »Dampf ablassen«.
Das war schon beim Sammeln der Unterschriften deutlich. Zuerst waren die Menschen natürlich misstrauisch, wer da vor ihrer Tür stand. Wenn sie aber ein wenig Vertrauen geschöpft hatten, brach es aus den meisten geradezu heraus — dass sie die Schnauze voll haben, von dem, was passiert. Sie haben erzählt, wie viele Leute sie im Arbeits- und Lebensumkreis haben, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, und was sie diesbezüglich erlebt und durchgemacht haben. Die Bereitschaft, sich auf unsere — oder andere — Alternativen einzulassen, hat mich sehr überrascht. Vor allem ältere und junge, alleinerziehende Frauen sind sehr ansprechbar.

Auf welche Bewegungen und Gruppen stützt sich die WASG denn vor Ort?

Mit unterschiedlichen Gewichtungen von Ort zu Ort, treffen sich auf der einen Seite Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die als solche mehr machen wollen. Die SPD als politischer Flügel der Arbeiterbewegung hat da jede Glaubwürdigkeit verloren und wird auch nicht mehr als solcher akzeptiert. Dann gibt es Leute aus der Arbeitslosenbewegung, teilweise selbst arbeitslos. Es gibt auch einige, die schon früher politisiert waren und sich lange Zeit zurückgezogen hatten. Manche sind Opfer von Hartz IV oder auch der »New Economy« geworden und haben sich als solche neu oder repolitisiert. Erstaunlich für mich: Es sind auch viele Menschen aus dem kirchlichen Bereich dabei.
Ferner gibt es Unterstützung von einigen lokalen alternativen Listen, die, zum Teil erfolgreich, bereits bei den Kommunalwahlen angetreten waren. Ohne Mitglied der WASG zu sein, unterstützen sie unsere Kandidatur und helfen vor Ort bei der Organisation. Immerhin haben wir allein in NRW mittlerweile fast 2000 Mitglieder. Das scheint mir bemerkenswert.

Das hört sich so an, als ob genügend Grundlagen gebildet werden, eine Parteiorganisation auch nach der Wahl vor Ort zu verankern?

Es scheint zu gelingen, dass die Wahlinitiative mehr wird als ein Strohfeuer. Dass wir es bisher geschafft haben, innerhalb weniger Wochen in allen Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, zeigt für mich, dass bemerkenswert viel Substanz vorhanden ist. Bei vielen Gesprächen mit WASGlern vor Ort habe ich immer wieder gehört, dass es diesen Mitgliedern um ein langfristiges Projekt geht, dass das Parlament, so wichtig es die meisten auch nehmen, kein Selbstzweck sei. Erklärte Absicht vieler ist, dass es ihnen um ein wirkliches alternatives Projekt gegen den Neoliberalismus geht.

Gibt es auch lokale alternative Gruppen, die euch explizit nicht unterstützen? Und wie gestaltet sich die Situation mit der anderen flächendeckend präsenten linken Partei, der PDS?

Außer den etablierten Parteien haben wir bisher keine ausgesprochenen Gegnerschaften gefunden. Was die PDS angeht, so ist unsere Haltung, dass sie es im Westen nicht geschafft hat, sich zu etablieren — das kann man der Wirklichkeit ja entnehmen. Wir haben nichts gegen die PDS, wir wollen nur ein eigenständiges Projekt präsentieren.

Mit dem Ziele, dass die westlichen PDSler bei einem Erfolg der WASG sich derselben anschließen?

Darüber gibt es derzeit keine Diskussion bei uns. Sicherlich hätte niemand etwas dagegen, wenn sich dies so gestalten würde. Es gibt viele inhaltliche Überschneidungen, aber auch Unterschiede. Die WASG versteht sich als Alternative im System. Der demokratische Sozialismus, der auf den Fahnen der PDS steht, ist da weitergehender in Richtung einer Systemalternative. Die WASG tritt mit einer Wirtschaftspolitik an, die auf Keynes fußt, und ich wüsste nicht, dass dies die theoretische Grundlage der PDS wäre.

Was macht denn diese Alternative aus?

Die WASG versteht sich, wie gesagt, nicht als Alternative zum System. Wir sagen nicht, dass wir den Kapitalismus durch den Sozialismus ersetzen wollen. Es gibt sicherlich einzige Gruppierungen innerhalb der WASG, die dafür offen wären, doch die strategische Überlegung ist, dass systemische Alternativen derzeit ausgesprochen schwer zu diskutieren sind in der praktischen Politik. Eher kommunikabel ist die Frage nach Alternativen im System.
Und da geht es vor allem gegen den Neoliberalismus. Dessen Vordenker Hayek formuliert sehr prägnant, dass soziale Gerechtigkeit ein Fortschrittshemmnis ist und dass umgekehrt die Spannung zwischen Arm und Reich den Motor des Fortschritts darstellt. Der Neoliberalismus zielt also auf eine Gesellschaft, die ganz bewusst ein bestimmtes Quantum an Armen hat und auch will.
Die Alternative der WASG steht dagegen für die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit, und das heißt auch Gleichheit. Ohne Gleichheit keine soziale Gerechtigkeit. Denn ohne eine materielle Mindestausstattung, ohne die Anerkennung eines wirtschaftlichen Existenzrechts, sind politische Rechte nicht realisierbar. Während der Neoliberalismus von der Kostensenkungslogik her denkt, gründet die Programmatik der WASG auf den Menschenrechten.
Auf der praktisch politischen Ebene hat dies die Konsequenz einer nachhaltigen Stärkung nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik und der Forderung nach einer Erneuerung staatlicher Verantwortung für eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Denn nur Reiche können sich bekanntlich einen armen Staat leisten.

Viele Linke würden sagen, das eine solche Alternative im System illusorisch ist, dass man die Zwangsläufigkeit des Neoliberalismus nur in Frage stellen kann, wenn man das System selbst in Frage stellt.

Das ist eine schwierige Frage. Theoretisch habe ich als Theologe keine Schwierigkeit damit, auch das System in Frage zu stellen. Ich habe aber den Eindruck, dass eine solche Infragestellung politisch gegenwärtig nicht vermittelbar ist. Ganz pragmatisch geht es darum, wie ich Politik, mit der ich nicht einverstanden bin, ändern kann. In gewisser Weise ist das auch ein Experiment, von dem wir nicht wissen, wie es ausgeht. Es geht aber eben darum, die Sache nicht einfach laufen zu lassen. Und Zwangsläufigkeit kann ja nicht Automatismus bedeuten, dann hätte Politik ja keinen Sinn. Ich denke schon, dass eine begrenzte Umsteuerung auch innerhalb des Systems möglich ist.
Und ein zentraler Aspekt dabei ist eine andere Steuerpolitik. Memorandum, Attac, Ver.di und IG Metall haben ja das solidarische Einfachsteuersystem vorgelegt, das auch wir vertreten. Dieses solidarische System setzt gezielt darauf, hohe Einkommen und vor allem die Unternehmen zu besteuern, nicht das wegzubesteuern, was dem Facharbeiter zukommt. Es geht vor allem um die globalen Akteure, die von den Steuergeschenken profitiert haben. Es geht um die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die sich nicht aus sich selbst generieren lässt.

Auch Rot-Grün ist 1997/98 mit solchen Ideen angetreten. Sie hat es dann bloß nicht umgesetzt. Wie gedenkt ihr, euch diesen scheinbaren Sachzwängen zu entziehen?

Ich würde schon noch einmal zurückfragen wollen, ob die SPD, und es geht hier vor allem um die SPD, wirklich unter dem Druck der globalen Akteure eingebrochen ist, oder ob nicht bei Clement, Schröder, Eichel überhaupt eine innere Nähe zur Großindustrie und zum Neoliberalismus Ausschlag gebend sind.
Jedenfalls sagt die WASG, dass sie keinesfalls mit Parteien koaliert, zu deren Politik sie eine Alternative sein will, sollte sie den Sprung ins Parlament schaffen. Unsere Einschätzung ist, dass wir nur mit einer lautstarken und konsequenten Opposition etwas verändern können.

Schleswig-Holstein zeigt jedoch, wie schnell man in eine solche Situation kommen kann. Und es bestätigt scheinbar die Rede von SPD und Grünen, dass die linken Stimmen es der CDU ermöglichen, sie abzulösen.

Das ist doch nicht unser Problem. Wenn der SPD die Leute weglaufen, weil sie heute eine neoliberale Politik macht, hat sie das selbst verantworten. Zum anderen sind unsere Zielgruppe weniger die SPD- Wähler als die vielen Nichtwähler. Hier in Nordrhein-Westfalen werden die Leute weniger zu Wählern der radikalen Rechten als zu Nichtwählern. Das gesamte linke Spektrum kann ja nur gestärkt werden, wenn diese Leute wieder wählen gehen

Es geht euch nicht nur um soziale Gerechtigkeit, es geht euch auch um Arbeit. Geht es dabei um arbeiten, arbeiten, arbeiten?

Nein, es geht nicht um irgendeine Arbeit. Es geht um den Zusammenhang von Arbeit und Leben. Arbeit ist nicht das ganze Leben. Hier setzt ja auch die WASG-Programmatik für Arbeitszeitverkürzung an, als Antwort einerseits auf die Arbeitslosigkeit und zugleich als Weg, Leben und Arbeiten in ein anderes Gleichgewicht zu bringen. Es geht um eine Neuverteilung von Arbeit und Einkommen. Es geht darum, dass Arbeitsmöglichkeiten für alle zur Verfügung gestellt werden, die ein auskömmliches Einkommen und eine angemessene Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum ermöglichen. Das heißt also: keine Niedriglohnsektoren, keine prekären Arbeitsverhältnisse, kein Verzicht auf Gesundheitsschutz und ähnliches.
Der Begriff der angemessenen Beteiligung am Volkseinkommen ist in der Tat ein schwammiger Begriff, aber es geht zuallererst darum, dass ein solcher Anspruch endlich wieder formuliert wird. Es gibt ein schönes Lied des uruguayischen Sängers Daniel Viglietti, in dem es heißt: »Ich frage euch, ob ihr in diesem Land niemals gedacht habt, dass, wenn die Hände uns gehören, uns auch gehört, was sie uns geben.« Das ist einfach eine Art, anders zu denken, zu fragen, ob die Dinge so sein müssen, wie sie sind. Viele Menschen in unserem Land haben offenbar verlernt, so zu fragen.
Viele Menschen sind sich über mögliche Alternativen nicht mehr klar, haben sich vollkommen eingelassen auf die neoliberale Logik. Sie glauben manchmal selbst, dass ihre Arbeitskraft zu teuer sei. Selbst Arbeitslose zeigen mitunter Verständnis, dass ihr Arbeitsplatz abgebaut wurde, weil sie angeblich zu teuer seien. Wenn es uns gelingt, diese Perfidie wieder in den Blickwinkel zu bekommen, den Mythen der Kostensenkung entgegenzutreten und die Leute zum Nachdenken und Nachfragen zu bewegen, was uns vermittelt wird durch die Medien und die etablierte Politik, das wäre ein wichtiger Schritt.

Das heißt, der Spitzenkandidat Jürgen Klute macht sein neues politisches Engagement nicht abhängig vom Wahlausgang der WASG?

Nein, das mache ich sicherlich nicht.

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