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Seit dem 19.Juli 2004 wird das Vierte Gesetz für moderne Leistungen am
Arbeitsmarkt geregelt im Sozialgesetzbuch II durch die Arbeitsagenturen und die
Sozialhilfeträger umgesetzt.
Das Gesetz selbst enthält bereits viele Regelungen, die als grundgesetzwidrig angefochten
werden können. Auch bestehen Regelungslücken zu anderen Gesetzeswerken, z.B. zum Familienrecht
oder zur Jugendhilfe, in Teilen auch zur Krankenversicherung. Die Auslegung des Gesetzes durch die
Bundesagentur für Arbeit (BA) in den Durchführungsempfehlungen der BA oder im Antrag auf
Arbeitslosengeld II (ALG II) wirft zusätzliche datenschutzrechtliche bzw. grundgesetzrelevante
Fragen und Probleme auf.
Der Vollzug des Gesetzes scheint in weiten
Teilen eine weitere Verschlechterung gegenüber den Betroffenen zu bewirken und oftmals völlig
regelwidrig abzulaufen. Dafür trägt vor allem die Bundespolitik die politische Verantwortung.
Sie hat durch die kurzfristige Inkraftsetzung
des Gesetzes Beschäftigte der Arbeitsagenturen an die Grenzen ihrer Kraft und massenhaft
Bedürftige in die Bredouille gebracht, wenn sie ihre Miete, die laufenden und einmaligen Aufwendungen
nicht zahlen können. Der Einführungsdruck, unter den Hartz IV gesetzt wurde, mündete
folgerichtig in ein Umsetzungschaos mit Rechtsbeugung.
Für viele Antragsteller von ALG II war die Ausfüllung des Antrages auf ALG II die erste
große Hürde. Das 16-seitige Formular wurde schubweise beginnend mit dem 19.Juli 2004 an die
Bezieher von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verschickt.
Schon vor der Verschickung fanden sich grobe
Fehler im Formular. Dazu gehörten neben der kontinuierlichen Verwechslung von Bedarfs- und
Haushaltsgemeinschaft vergessene Hinweise zur Freiwilligkeit von Angaben wie Telefonnummer, E-Mail-Adresse,
Anzahl der Räume in der Wohnung.
Die Antragsteller und ihre erwerbstätigen
Angehörigen werden u.a. aufgefordert, Verdienstbescheinigungen von den jeweiligen Arbeitgebern
einzureichen oder die Anschrift des Vermieters anzugeben. Diese wie auch andere Fragen verstoßen
eindeutig gegen den Sozialdatenschutz.
Die Arbeitslosenzeitung Quer wandte sich
daraufhin an den Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar. Heraus kam, dass der
Bundesdatenschutzbeauftragte bei der Erarbeitung des Formulars gar nicht gefragt worden war. Er verhandelte
mit der BA insgesamt 15 datenschutzrechtliche Fehler.
Seine Stellungnahme gelangte an die
Öffentlichkeit, weil das Sozialhilfeberatungszentrum Tacheles in Wuppertal es an die Frankfurter
Rundschau weitergab. Auf ein von der BA in Aussicht gestelltes, berichtigtes Formular warten wir noch
heute.
Durch weitere Mängel im Formular
dürfte ein Großteil der ALG-II-Beziehenden erheblich Geld verloren haben.
Erst am 9.7.2004 kam zwischen Bundestag und
Bundesrat das Optionsgesetz und damit eine erste Novellierung des SGB II im Deutschen Bundestag zustande.
Seitdem übten Bundespolitik, Arbeitsagenturen, Kommunalpolitik und Sozialhilfeträger massiven
Druck auf die bedürftigen Menschen aus.
Zum anderen machten die Medien Druck. Sie
behaupteten, nur die Anträge hätten Chancen auf Bearbeitung, die schnellstens bzw. pünktlich
eingereicht würden. Daraufhin fingen die Sozialhilfeträger an, Betroffenen einen Abgabetermin bis
zum 15.9.2004 zu stellen richtig wäre der 31.12.2004 gewesen.
In Frankfurt am Main wurde bei nicht
pünktlicher Abgabe sogar mit der Nichtweitergewährung der Sozialhilfe gedroht. Die
Arbeitsagenturen haben Betroffene, denen sie einen ALG-II-Antrag zugesandt hatten, teilweise
großflächig mit Meldeterminen überzogen.
An die Meldetermine gekoppelt waren
Aufforderungen zur Abgabe der ALG-II-Anträge, zum Besuch von Informationsveranstaltungen, zu
telefonischen Vorsprachen bei der Arbeitsvermittlerin sowie Sanktionsdrohungen.
Die Umsetzung der Sozialgesetzbücher II und XII begann erwartungsgemäß mit Pleiten, Pech
und Pannen. Heinrich Alt, Vizekanzler der BA, musste zugeben, dass bei 1,8 Millionen Anträgen eine
Panne passiert war. Ein Fehler im Computerprogramm hätte dafür gesorgt, dass bei den Kontonummern
der Antragsteller die Nullen von rechts statt von links aufgefüllt wurden. Tausende von
Überweisungen an Banken und Kreditinstitute wurden an die Arbeitsagenturen zurückgeschickt. Bis
weit über den Jahreswechsel mussten Beschäftigte der Arbeitsagenturen die Fehler per Hand
ausbügeln.
Laut Herrn Alt sollten alle spätestens am
5.1.2005 ihr ALG II auf dem Konto haben. Sei dies nicht der Fall, gäbe es Abschlagszahlungen. Doch
alles kam anders.
Anfang Januar 2005 hatten sehr viele Menschen
weder ALG II auf dem Konto noch einen Bescheid. In den Arbeitsagenturen Berlins standen bis tief in die
dritte Januarwoche hinein riesengroße Schlangen in den Jobcentern. Nicht nur Kontonummern waren
falsch, Anträge waren auch unauffindbar. Speziell in den Bezirken Mitte/Tempelhof/Wedding sowie
Friedrichshain/Kreuzberg wurden 12000 Anträge gesucht.
Letztere stammten vorrangig von
Sozialhilfebeziehern. Sie hatten die Anträge teilweise bereits bis zum 15.9.2004 abgeben müssen,
doch die Kisten mit den Anträgen waren infolge von Umzügen der Arbeitsagenturen zunächst
unauffindbar.
Als Hauptgrund machte der
2.Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Friedrichshain/Kreuzberg Personalmangel geltend.
Die Betroffenen hatten ihre liebe Not, wenigstens Abschläge für den Lebensunterhalt und die Miete
zu bekommen. Nach ihren Aussagen waren die Arbeitsagenturen in den ersten Wochen kaum bereit,
Abschläge zu zahlen.
Eine große Hürde für die Antragsteller war, dass die Arbeitsagenturen erst im Januar 2005
mit der Einrichtung der Jobcenter begannen. Denn die Arbeitsagenturen sind seit Jahresanfang nur noch
zuständig für Arbeitslose, die Arbeitslosengeld beziehen und somit dem SGB III
(Arbeitsförderung) unterstehen. Für ALG-II-Beziehende sind jetzt die Jobcenter zuständig.
Aufgrund dieser neuen Konstellation waren die
Arbeitsagenturen ab Januar im Umzug. Die Jobcenter erhielten neue Niederlassungen. In jeder Stadt und in
jedem Stadtbezirk teilten sie sich anders auf. Ab Mitte Januar fingen die Antragsteller von ALG II erst
einmal an, die neuen Niederlassungen zu suchen.
Seit März wurden die Jobcenter personell
aufgestockt mit Beschäftigten der Telekom und aus Personalüberhangsfonds des Landes Berlins.
Diese Angestellten waren zumeist mit der inhaltlichen Bearbeitung der Anträge völlig
überfordert. Für sie stand keine Computervernetzung zu den vorherigen Leistungen Arbeitslosengeld
oder -hilfe zur Verfügung. Außerdem kamen sie zunächst nicht an die Akten heran, da erst
eine Akteneinsichtserlaubnis eingeholt werden musste.
Der stellvertretende Leiter der ARGE
Friedrichshain/Kreuzberg erklärte am 3.3.2005, wegen der großen Arbeitsbelastung könne noch
lange keine Vermittlungstätigkeite für die ALG-II-Beziehenden beginnen außer bei
Jugendlichen.
Etwa 260000 (9,3%) der ALG-II-Anträge
wurden abgelehnt. Ungefähr 5% der Langzeitarbeitslosen reichten wegen mangelnder Erfolgsaussichten
erst keinen Antrag ein. Hauptgrund für die Ablehnung war die Anrechnung von Partnereinkommen. Tacheles
e.V. (Wuppertal) schätzt darüber hinaus, dass bis zu 90% der ausgestellten Bescheide falsch sind.
Die Fehlerhaftigkeit bezieht sich auf Form und
Inhalt. Kein Bescheid war selbsterklärend. Die Betroffenen sahen sich unklaren Tabellen
gegenüber. Manche erhielten nur die erste Seite und gar keine Tabellen. Es war nicht ersichtlich, wie
es zu Abschlägen bei Regelleistungen, Kosten der Unterkunft, zur Einkommensermittlung und -anrechnung
gekommen war. In sehr vielen Fällen fehlte die Begründung der Entscheidung.
Inhaltlich gab es eine Reihe wiederkehrender
Fehler. Dazu gehörten neben »vergessenen« Kindern (kein Sozialgeld) die Minderung der
Unterkunftskosten, die doppelte Anrechnung des Kindergelds bei Mutter und erwachsenem Kind, vergessene
befristete Zuschläge sowie unbewilligte Mehrbedarfe, Umzugsaufforderungen oder Aufforderungen zur
Kündigung der Mietverträge. Den meisten Beschäftigten der Arbeitsagenturen schien die
Sozialhilfepraxis völlig fremd, und sie entschieden willkürlich ohne Anleitung oder Empfehlungen.
Erst ab Mitte Januar gab die BA
Durchführungshinweise zum SGB II heraus. Auffällig ist dabei, dass diese an etlichen Stellen von
der Sozialhilfepraxis abweichen. Die Verordnungen zum SGB II sind noch nicht vollständig. Einen ersten
Fachkommentar gibt es erst seit Anfang März.
Die BA erließ aufgrund der vielen oft
fachlich begründeten Mängel die Order, die Sachbearbeiter hätten bei ersichtlichen
Fehlbescheidungen die Fehler sofort zu beseitigen. Das passierte auch in vielen Fällen. Dieses
Vorgehen höhlt allerdings die Einlegung von Widersprüchen als Verfahren der Rechtsmitteleinlegung
aus. Es suggeriert Betroffenen, dass der Bescheid nun in Ordnung sei. Dies war häufig mitnichten der
Fall.
Seit Januar 2005 sind 5,605 Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften des SGB II. 4,089 Millionen ALG-
II-Beziehende sind im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Davon sind 2,4 Millionen ALG-II-
Beziehende erwerbslos. Wegen der fehlerhaften Bescheide zählte die BA Ende Februar 212000
Widersprüche. Erledigt wurden davon bisher 36000, etwa 16000 wurden als ganz oder teilweise berechtigt
befunden. In rund 700 Fällen wurde bisher Klage erhoben, meist wegen unklarer Entscheidungen zur
Leistungshöhe. Nach Erhalt der Begründung durch das Jobcenter wollten sie ihren Widerspruch
begründen.
Die Folgen waren vielseitig: Entweder steckten
daraufhin Änderungsbescheide im Briefkasten. Oder sie wurden nach vier Wochen postalisch mit
Strafandrohung zum Nachreichen der Begründung aufgefordert. Einstweilige Anordnungen führten
nicht zu einer gerichtlichen schriftlichen Entscheidung, sondern zum Änderungsbescheid des Jobcenters
und wurden auf diese Weise abgebogen.
Im gesetzesfreien Raum scheint sich momentan
auch die Vermittlung in Arbeitsgelegenheiten nach §16 Abs.3 zu bewegen. Die gegenwärtige ARGE-
Praxis in Hamburg, Erwerbslose sofort und umstandslos in 1-Euro-Jobs zu schicken, ist eindeutig
rechtswidrig. Laut SGB II sollen die Betroffenen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis
vermittelt werden oder es soll mit ihnen eine Eingliederungsvereinbarung abgeschlossen werden. Im Rahmen
der Eingliederungsvereinbarung soll geprüft werden, ob nicht Arbeitsfördermaßnahmen nach dem
SGB III (Arbeitsförderung) als Ermessensleistungen für die Betroffenen in Frage kommen. Erst als
letzte Maßnahme sind so genannte 1-Euro-Jobs angedacht.
Gegenwärtig werden Betroffenen aber
beinahe ausschließlich und sofort Arbeitsgelegenheiten angeboten. Die meisten haben keine
Eingliederungsvereinbarung. Die Arbeitsagenturen weisen die Erforderlichkeit der Maßnahme zur Aufnahme
von Arbeit im ersten Arbeitsmarkt nicht nach. Diktatorisch und willkürlich drohen sie mit Strafen.
Andererseits wird nach und nach deutlich, wie
sehr »1-Euro-Jobs« Arbeitsplätze verdrängen: Hierzu gehören Beispiele wie der
Umzug des Bezirksamtes Neukölln, wo »1-Euro-Jobber« eine Umzugsfirma ersetzten, aber auch
die vielen Beispiele, wo ausgebildete Lehrer und Sozialpädagoginnen an Schulen auf 1-Euro-Basis nicht
wiederbesetzte Lehrerstellen übernehmen müssen.
Auch die Zustimmung zu Arbeitsgelegenheiten
läuft seltsam. Der stellvertretende Leiter der ARGE Friedrichshain/Kreuzberg wusste am 3.3.2005 nur
von 50 Maßnahmen, die die zwölf ARGE in Berlin erst bewilligt hätten, aber mehr als 350 ALG-
II-Beziehende sind ihnen bereits zugewiesen. Die verzögerte Zustimmung der ARGE begründete er
damit, es gebe in zunehmendem Maße Zwistigkeiten zwischen den Trägern der Maßnahmen und den
Vereinen und Behörden, in denen die Menschen dann beschäftigt sind. In Berlin soll es eine
interne Verfügung gegeben haben, wonach die Maßnahmen nur im 50er70er Pack bei den
Trägern bewilligt werden. Zu den Trägern gehören z.B. Bequit, Kubus oder der Internationale
Bund für Jugendsozialarbeit.
Die Träger leiten die »1-Euro-Jobber« an Vereine und Behörden weiter und stecken
selbst die Aufwandspauschale der Arbeitsagenturen ein. Die Kosten, die bei den Einsatzstellen entstehen,
können die finanziell meist knappen Vereine nicht aus eigenen Mitteln tragen. Damit ergibt sich das
Problem, dass die eigentlichen Einsatzstellen die »1-Euro-Jobber« ohne Kofinanzierung gar nicht
annehmen können. Aus diesem Grunde erscheinen »1-Euro-Jobber« gegenwärtig nur in
Schulen.
Andererseits sind viele Vereine, die vorher
Arbeitskräfte auf Basis von ABM oder SAM beschäftigt haben, gezwungen auf »1-Euro-
Jobber« zurückzugreifen, selbst wenn sie diese Jobs ablehnen, um ihr Angebote an
ökologischen, kulturellen, sportlichen oder sozialen Zwecken aufrechterhalten zu können.
Die Vereine der Stadt Bielefeld haben dagegen
politisch Stellung bezogen: Sie fordern die Finanzierung regulärer
Beschäftigungsverhältnisse durch den Bund zur Erhaltung der öffentlichen Pflichtaufgaben im
Rahmen der Vereinsarbeit. Doch die Tendenz geht dahin, dass öffentliche Pflichtaufgaben in
Arbeitszwangsmaßnahmen erledigt werden. Vielen Vereinen ist klar, dass sie dann die Kontinuität
und Qualität ihrer Arbeit vergessen können.
Ena Bonar
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