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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 16

Newroz-Feiern in Kurdistan

Ruhe vor dem Sturm?

Die Kundgebungen anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz sind immer auch Ausdruck des politischen Protests der kurdischen Bevölkerung gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat. In den vergangenen Jahren wurden die Kundgebungen regelmäßig verboten. Das Militär und Polizeikräfte gingen mit massiver Gewalt gegen die Teilnehmenden an den trotzdem durchgeführten Veranstaltungen vor; es gab Verletzte, Tote und eine Vielzahl von Festnahmen.
Vor dem Hintergrund der EU-Beitrittsverhandlungen wurden die Newroz-Feiern 2005 somit auch zum Test für den Umgang der türkischen Regierung und ihrer »Sicherheitskräfte« mit der kurdischen Opposition. Nach den Prügelorgien der Polizei am 6.März in Istanbul anlässlich einer Demonstration zum Internationalen Frauentag, die zu internationalen Protesten führte, musste der türkischen Regierung klar sein, dass die diesjährigen Newroz-Feierlichkeiten unter ganz besonderer Beobachtung stattfinden.
Begleitet von vielen Verhinderungsversuchen im Vorfeld wurden die Newroz-Veranstaltungen bis auf Dersim von den türkischen Behörden in diesem Jahr genehmigt. Dies wurde von kurdischer Seite allgemein als großer politischer Erfolg gewertet.
Für das Verbot in Dersim wurde der Vorwand herangezogen, die Kundgebungsanmeldung sei unter dem kurdischen Namen »Newroz« und nicht in türkischer Schreibweise »Nevroz« beantragt worden. Dies wurde den Organisatoren als Separatismus ausgelegt.
Bereits vor dem 21.März kam es allerdings in verschiedenen Städten bei kleineren Vorfeiern zu Übergriffen der Polizei. In Siirt griff die Polizei nach Angaben der Zeitung Özgür Politika am 15.3. eine solche Feier mit Tränengas an und eröffnete das Feuer. Ein 16-Jähriger wurde dabei durch Schüsse am Bein verletzt. Auch in Iskenderun löste die Polizei ein Newroz-Fest gewaltsam auf. Lehrern, Schülern und allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurde die Teilnahme an den Newroz-Veranstaltungen verboten und bei Zuwiderhandlungen disziplinarrechtliche Maßnahmen angedroht. Die Militär- und Polizeipräsenz wurde in den Veranstaltungsorten bereits vor dem 21.3. sichtbar verstärkt.
Die Einschüchterungsversuche liefen jedoch offensichtlich ins Leere. Die Beteiligung an den Newroz-Kundgebungen war landesweit noch nie so groß wie in diesem Jahr. Allein in der heimlichen kurdischen »Hauptstadt« Diyarbak?r haben sich mehr als eine Million Menschen an der Newroz-Kundgebung beteiligt und auch in den anderen Kundgebungsorten waren die hohen Teilnehmerzahlen, die durchgängig über denen des Vorjahres lagen, bereits eine politische Demonstration für sich. Auch in den türkischen Großstädten wie Istanbul und Ankara haben jeweils mehr als 100000 Menschen für eine »demokratische Föderation von Kurden und Türken« demonstriert.
Von den Rednern der Newroz-Veranstaltungen wurde vor allem endlich eine Lösung der kurdischen Frage, ein Ende der Repression und Kampfhandlungen sowie der Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung und die Freilassung von Abdullah Öcalan eingefordert. In vielen Orten wurde auch der EU- Beitritt der Türkei thematisiert. Eine friedliche Lösung der kurdischen Frage wurde als wichtige Voraussetzung des Beitrittsprozesses eingefordert.

Beobachtungen in Sirnak

Unsere süddeutsche Newroz-Beobachterdelegation fuhr nach Sirnak, einer Kleinstadt von derzeit etwa 53000 Einwohnern, nahe der irakischen Grenze. Etwa 10 Kilometer vor der Stadt wurde der öffentliche Bus von Soldaten angehalten. Alle männlichen Reisenden wurden aufgefordert auszusteigen. Es wurden die Ausweise kontrolliert und die Personen mit erhobenen Händen abgetastet. Nach der Kontrolle des Busses konnte weitergefahren werden. Für alle kurdischen Mitreisenden war der Vorfall völlig unerheblich. Sie sind normalerweise weitaus härtere Kontrollen und Willkürakte des Militärs gewohnt.
In Sirnak fahren gepanzerte Armeefahrzeuge mit ausgefahrenem Gewehr ganz selbstverständlich durch die Hauptstraßen. In den Bergregionen rund um die Stadt finden seit Wochen immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Militär- und Guerilla-Einheiten statt. Anfang des Jahres sind in Sirnak fünf Jugendliche von Militärs zu Tode gefoltert worden.
Im ländlichen Einzugsbereich der Stadt wurden etwa sechs Wochen vor Newroz vier Frauen festgenommen und getötet. Die Armee behauptete hinterher, bei den Frauen habe es sich um Guerilla-Kämpferinnen gehandelt, die im Gefecht umgekommen seien. Die Menschen sprechen von einer angespannten Atmosphäre in der Stadt und der Region.
Die Einwohnerzahl der Stadt hat sich in wenigen Jahren mehr als verdreifacht. Zwei Drittel der Bewohner sind Flüchtlinge aus den durch das türkische Militär zerstörten bzw. entvölkerten Dörfern der Umgebung. Im Zeitraum 1990—1996 wurden während der heftigsten Phase des Krieges zwischen PKK und türkischer Armee von der Armee mehr als 3700 Dörfer und Weiler zerstört und etwa 3 Millionen Menschen vertrieben. 1992 kam es zu einem direkten Angriff der Armee mit Geschützfeuer auf die Stadt.
Die Zerstörungen sind immer noch zu sehen und prägen zusammen mit den eilig erstellten Notunterkünften für die Flüchtlinge das Bild der Stadt. Die Armut ist allgegenwärtig und unübersehbar. Fast alle Flüchtlinge in Sirnak sind arbeitslos und leben am Rande des Existenzminimums. Kühe laufen frei durch die Stadt und fressen aus dem Müll. Die DEHAP (kurdische Demokratiepartei des Volkes) ist zwischenzeitlich die stärkste politische Kraft im Verwaltungsbezirk der Stadt und stellt auch den Bürgermeister.
Ohne finanzielle Mittel aus Ankara wird der mühevolle Versuch unternommen, die vielfältigen Probleme in den Griff zu bekommen: Wohnungsnot, in vielen Häusern gibt es kein fließendes Wasser, keine ausreichende Kanalisation in der Stadt, keine befestigten Straßen in der Mehrheit der Wohnviertel, wilde Müllentsorgung und damit verbundene Hygieneprobleme etc.
Trotz massiver Einschüchterungen durch die anwesenden Militär- und Polizeikräfte versammelten sich zur Newroz-Veranstaltung 10000 Menschen auf dem Kundgebungsplatz in der Stadtmitte. An allen Zufahrtswegen zum Kundgebungsplatz waren Panzerwagen mit maskierten MG-Schützen aufgefahren. Auf den Dächern der umliegenden Häuser waren Scharfschützen postiert.
Für viele war auch in diesem Jahr bereits der Weg zur Kundgebung mit mehreren Polizeikontrollen und Durchsuchungen verbunden. Trotzdem ist es gelungen, Transparente und Fahnen durch die Absperrungen zu bringen. Fahnen der PKK wurden ebenso gezeigt wie Bilder von Abdullah Öcalan.
Mit Blick auf die verschneiten Cudi-Berge und im Bewusstsein der aktuellen Operationen der türkischen Armee in den umliegenden Bergregionen ließen die Anwesenden keine Zweifel aufkommen, wem ihre Unterstützung gilt: Solange die kurdische Frage nicht gelöst ist, wird auch der bewaffnete Widerstand gegen die türkische Armee, die in Kurdistan nach wie vor wie eine Besatzungsarmee in Erscheinung tritt, als legitim betrachtet.

Der Schein trügt

Seit einigen Jahren versucht die türkische Regierung, die politische Tradition der Newroz-Veranstaltungen durch selbst angeordnete und durchgeführte Gegenveranstaltungen zu unterlaufen. In Sirnak richtete der örtlich zuständige Militärgouverneur die Gegenveranstaltung aus. Umgeben von Militärs, Dorfschützern und türkischen Nationalflaggen »feierte« er in einer Runde von 300 Leuten das »Fest der Blümchen und des Honigs«.
Der Zugang zum Festplatz wurde durch ein Transparent mit der Aufschrift »Ich bin stolz, ein Türke zu sein« geschmückt. Die kurdische Bevölkerung ignorierte die peinliche Angelegenheit einfach. Nach Beendigung der eigenen Newroz-Veranstaltung zogen Tausende, die zurück in die Vororte mussten, in einer Art schweigendem Demonstrationszug am Gouverneur und seinen Lakaien vorbei. Die Mehrheitsverhältnisse waren eindeutig.
Sofern in den Medien überhaupt über die Ereignisse zu Newroz in der Türkei berichtet wurde, erfolgte dies unter dem Maßstab des staatlichen Terrors der Vergangenheit. Daran gemessen war sicherlich eine Entspannung der Situation festzustellen. Von Normalität unter demokratischen und menschenrechtlichen Maßstäben war die Situation in der Türkei jedoch selbst an diesem unter internationaler Beobachtung stehenden Newroz-Tag weit entfernt.
Im Verhältnis zu den vorangegangenen Jahren konnten die Newroz-Veranstaltungen weitgehend friedlich verlaufen. Mehrheitlich beschränkten sich die Maßnahmen von Militär und Polizei auf Störmanöver und Einschüchterung. So überflogen z.B. Militärmaschinen in kurzen Abständen das Newroz-Gelände in Diyarbak?r während der Veranstaltung und kreisten Hubschrauber über den Köpfen der Teilnehmenden.
In der Zwischenzeit ist jedoch bekannt geworden, dass im Nachhinein in vielen Städten strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die jeweiligen Organisatoren der Newroz- Veranstaltungen eingeleitet wurden. In Cizre und Mersin wurden Kinder und Jugendliche im Zusammenhang von Newroz-Feiern von Antiterroreinheiten der Polizei u.a. wegen »Rufen von Parolen im Namen einer separatistischen Organisation«, »Durchführung illegaler Straßendemonstrationen mit terroristischen Zielen« und »Angriff auf die türkische Fahne« festgenommen.
Insbesondere der Fahnenvorfall in Mersin am 21.3. hat eine landesweite antikurdische Propagandawelle ausgelöst. Als ein Mann am Rande der Newroz-Kundgebung den Gruß der faschistischen »Grauen Wölfe« zeigte, kam es zu einem Handgemenge, bei dem eine türkische Fahne zu Boden fiel, auf der dann herum getreten wurde. Die Fahne war offensichtlich zuvor einem kurdischen Jungen von einem Unbekannten in die Hand gedrückt worden.
Nach der Rekonstruktion der Ereignisse schließen die Veranstalter der Newroz-Kundgebung nicht aus, dass es sich um eine gezielte Provokation gehandelt hat. Ganz zufällig wurde gerade dieses Ereignis medienwirksam auf Film gebannt und umgehend in den türkischen Fernsehsendern ausgestrahlt. Seitens der türkischen Regierung, der Armeeführung und der türkisch-nationalistischen Presse wurde der Flaggenvorfall für eine bisher so noch nie da gewesene nationalistische Kampagne ausgenutzt.
Die angebliche Missachtung der türkischen Flagge durch »die Kurden« sei, so die gemeinsame Klage türkischer Nationalisten bis hin zur MHP, das Ergebnis der Liberalisierungspolitik der letzten Jahre. Es sei jetzt eine politische Kehrtwende und entschlossene Antwort auf die »kurdischen Provokationen« erforderlich. Die Armeeführung erklärte, man sei bereit, »den letzten Blutstropfen zu opfern, um das Vaterland und seine Fahne zu verteidigen«.
Vor öffentlichen Gebäuden und Offizierswohnungen hängt seit Newroz demonstrativ die türkische Flagge. Insbesondere in den kurdischen Gebieten wurden auch Ladenbesitzer aufgefordert, die türkische Nationalfahne aufzuhängen. In den Tagen nach Newroz fanden in mehreren Städten Fahnenaufmärsche statt, die gemeinsam von staatlichen Stellen, nationalistischen Parteien und Faschisten organisiert wurden.
Armee und Regierung scheuen sich offensichtlich nicht, auch mit den »Grauen Wölfen« wieder offen zusammenzuarbeiten. Die antikurdisch aufgeheizte Stimmung hat in den letzten Wochen bereits zu mehreren Anschlägen auf Büros der DEHAP und Übergriffe auf linke und kurdische Oppositionelle geführt. Auf einen früheren Anwalt von Abdullah Öcalan wurde ein Mordanschlag verübt.
Parallel zur Flaggenkampagne startete die türkische Armee im Süd-Osten der Türkei eine erneute Offensive gegen die kurdische Guerilla. Es handelt sich um die größte Militäraktion seit mehreren Jahren. Operationen mit Tausenden von Soldaten und Dorfschützern, unterstützt von Kampfflugzeugen und Cobra-Hubschraubern werden u.a. vom Gabar-Berg bei Mardin und den Cudi Bergen bei Sirnak gemeldet.
Offizielles Ziel der Militäroffensive ist die Bekämpfung der PKK-Guerilla. Die Soldaten gehen jedoch auch direkt gegen die Dorfbevölkerung in den umkämpften Gebieten vor. Die Möglichkeiten, Land- und Viehwirtschaft zu betreiben, sollen verunmöglicht werden. So werden Felder angezündet, Vieh getötet und Brunnen vergiftet. Dieses Vorgehen ist eine Fortsetzung der Dorfzerstörungen und Vertreibungspolitik vergangener Jahre.

Der verdrängte Konflikt

Nicht zuletzt die jüngste Entwicklung nach Newroz zeigt, dass die Lobreden der vergangenen Monate bezüglich der Einleitung eines tatsächlichen Reformprozesses in der Türkei nichts als Augenwischerei sind. Die derzeitigen Militäraktionen und anti-kurdische Stimmungsmache sind Anzeichen einer sich zuspitzenden Situation. Weitere Truppenverschiebungen und Waffenlieferungen in den Süd-Osten der Türkei lassen eine Ausweitung der Kampfhandlungen befürchten.
Die Entwicklung in Kurdistan/Türkei ist in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blickfeld der Antikriegs- und Internationalismusbewegung geraten. Der Krieg gegen den Irak hat in den letzten zwei Jahren alle anderen internationalen Themen überlagert. Darüber hinaus gestaltete sich auch die Zusammenarbeit mit linken türkischen und kurdischen Organisationen nicht immer einfach. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei machen die Defizite einer notwendigen Solidaritätsarbeit besonders deutlich.
Bei der EU-Diskussion wie auch bei der Perspektivenentwicklung für den Nahen und Mittleren Osten darf die Lösung der kurdischen Frage nicht übergangen werden. In guter Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung sind auch in der BRD kurdische Organisationen wie die PKK nach wie vor verboten, werden türkische und kurdische Oppositionelle kriminalisiert und befinden sich in Haft.
Dies kann und darf von uns nicht länger hingenommen werden. Die Forderungen nach Abzug der türkischen Truppen aus Kurdistan und Einstellung aller Kampfhandlungen der türkischen Armee müssen außerdem neu ins öffentliche Bewusstsein getragen werden.

Brigitte Kiechle

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