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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 17

Vietnam

›Es gibt eine neue Klasse…‹

Geht Vietnam den chinesischen Weg? Die Redaktion von Inprecor sprach mit Tuan, einem Vietnamesen französischer Nationalität.

Nach einem Jahr Abwesenheit bist du nach Vietnam zurückgekehrt. Welche Veränderungen hast du vorgefunden?

Die Menschen in den großen Städten haben etwas wenig Geld, es entsteht eine »Mittelklasse«. Es gibt viele neue Unternehmen, Handels- und Industriebetriebe, deren Kapital von Leuten aus der Partei stammt. Diese benutzen Strohmänner, denn nach dem geltenden Statut haben sie nicht das Recht, Geschäfte zu machen. Es gibt viele Neubauten, Immobilien mit mehr als 20 Stockwerken, wahrhafte Wolkenkratzer.
Es sind jetzt 15 Jahre, seitdem Dôi Moi, die Erneuerung, in Gang ist. Es gibt eine neue Klasse, die ein Bedürfnis nach Konsum, Repräsentation, Autos hat: Ein Mercedes kostet in Frankreich 40000 Euro, in Vietnam fast 100000. Der Preis für eine Schale Phöl (eine traditionelle Suppe) hat sich in einem Jahr verdoppelt. Nur der Taxitarif wurde nicht erhöht, wegen der Touristen und der enormen Konkurrenz.

Kann ein Parteimitglied Eigentümer sein?

Im Prinzip nicht. Aber er kann den Namen eines Verwandten, eines Freundes angeben. Die Mehrzahl der Kader, die eine gewisse Ausbildung hatten, sind Großunternehmer geworden. Sie schicken ihre Kinder zum Studium ins Ausland, damit sie als Manager ihre Nachfolger werden. Sie folgen dem chinesischen Beispiel, aber mit vielen Jahren Verspätung. Es geht hier alles nur viel schneller. Der Anteil der Kader, die Unternehmer wurden, ist hier größer. Es gibt hier allerdings keine »Reiche« mit den Dimensionen einer großen Provinz, wie in China, die sich abspalten könnten.

Der große Unterschied zu den alten »Ländern des Ostens« ist, dass die Partei immer noch alles unter Kontrolle hat?

Absolut. Sie ist immer da, vor allem auf dem Lande und unter den ethnischen Minderheiten. Dort haben die Menschen immer noch Vertrauen in sie. Wenn du dort die Verantwortlichen der Distrikte kritisierst, wirst du schlecht angesehen. Onkel Hô ist immer noch ihr Idol.
Bei den ethnischen Minderheiten verwenden viele den Namen »Hô«, und wenn man sie fragt, warum sie ihren Kindern nicht einen Namen mit einer »lokalen Färbung« geben, antworten sie: Das ist ein Zeichen der Anerkennung gegenüber Onkel Hô, der uns befreit hat, der uns zu essen gegeben hat, der ermöglicht hat, dass wir uns entwickeln usw.
In den Städten ist es anders, dort gibt es eine wirkliche Krise der Partei, und zwar seit fünf Jahren. Die zeigt sich auf verschiedene Weise: in den Zeitungen, in den ans Politbüro gerichteten Briefen, im Internet, in dem man die Dokumente haben kann, die man will.
Auf ökonomischer Ebene gibt es einen großen Fortschritt, aber es ist immer dasselbe: Er gilt nicht für die »kleinen Leute«. Bei den Mittelklassen und der »Crème« des Proletariats gibt es einen gewaltigen Konsum im Vergleich zu dem, was ich vor einem Jahr gesehen habe.

Gibt es etwas Neues auf politischer Ebene? Man sprach von einer gewissen »Öffnung«.

Es gibt eine geringe politische Öffnung in dem Sinne, dass man seit einiger Zeit die Rolle der Intellektuellen würdigt. Zuvor mussten sie immer »auf Linie« sein, jetzt akzeptiert man Abweichungen. Das hängt mit der Integration Vietnams in die internationale Gemeinschaft zusammen. Die Vietnamesen im Ausland können Land und Häuser in Vietnam erwerben, selbst wenn sie dort nicht wohnen. Andererseits können die Vietnamesen, die nach 1975 geflüchtet sind, ihr Haus und ihr Eigentum wiedererlangen. Wenn das Haus belegt ist, sagt man dem früheren Besitzer, dass er sich mit den Mietern einigen muss, indem er sie woanders unterbringt oder ihnen eine Summe dafür zahlt, dass sie ausziehen.
Gegenwärtig grassiert das »Immobilienfieber«: Die Preise für Häuser sind sehr hoch, denn die großen Unternehmen und reiche Privatpersonen haben alles gekauft. Die Preise sind seit einem Jahr um mindestens 80% gestiegen. Alles ist teurer als in Paris oder New York.
Seit einiger Zeit gehen viele Vietnamesen ins Ausland, um dort zu studieren. Früher ging man dazu in die UdSSR, nach Osteuropa oder China. Heute geht man überall hin, nach Australien, in die USA, nach Frankreich usw. Entweder bezahlt die Familie alles oder man benötigt als Funktionär Kenntnisse der modernen Technik oder Verwaltung, dann wird man geschickt. Auf diese Weise sind viele ins Ausland gekommen und haben andere Dinge gesehen. Wenn sie wiederkommen, sagen sie: Warum macht man nicht dies oder jenes? Es gibt also jetzt zwar keine Demokratie, aber doch eine gewisse Freiheit.

Drückt sich das auch in der Presse, im Rundfunk oder im Fernsehen aus?

Gegenwärtig gibt es da noch keine gegensätzliche Meinungen. Viele träumen nur davon ins Ausland zu gehen. Vorher hat man nur Studenten ins Ausland geschickt, die direkt zur Universität gehen konnten. Jetzt kann man Kinder ab dem 6.Lebensjahr ins Ausland schicken, wenn man Geld hat. In Montpellier habe ich welche gesehen, ohne ihre Eltern, denn sie haben eine Organisation, die sie aufnimmt (wofür sie einen hohen Preis zahlen), ihnen Unterkunft besorgt usw.

Wie denken die Vietnamesen jetzt von den Amerikanern?

Sie äffen sie nach. Die jungen Leute sind an diesem Krieg, der vor 30 Jahren endete, nicht interessiert. Die den Krieg mitgemacht haben, sind entweder frustriert oder Fatalisten.
(Übersetzung: Hans-Günter Mull)

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