SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 18

Reformen in Venezuela

Auf dem kubanischem Weg?

Ist Venezuelas Präsident Hugo Chávez derselben Mitte-Links- Strömung zuzuordnen wie die Staatspräsidenten anderer lateinamerikanischen Länder? Die internationale Presse konfrontiert seinen »Populismus« gewöhnlich mit dem »Modernisierungskurs« der anderen Regierungen. Die Differenzen zu Lula und Kirchner sind bedeutend.

Chávez bewahrte nicht die institutionelle Kontinuität, wie die Regierungen in Brasilien und Uruguay, noch stellte er die traditionellen Parteien wie in Argentinien wieder her. Er ging aus einer Volkserhebung (dem caracazo von 1989) und aus einer Militärrevolte (1992) hervor, die schließlich in einen großen Wahlerfolg (1998) mündeten. Er begann soziale Zugeständnisse zu machen und verabschiedete eine sehr fortschrittliche Verfassung.
Seine Regierung radikalisierte sich im Lauf der Massenmobilisierungen gegen die Verschwörungen der Rechten. Diese Dynamik unterscheidet ihn von den Mitte-Links-Regierungen, denn er widersetzte sich den Unternehmern (Dezember 2001), den Putschisten (April 2002), dem Öl-Establishment (Dezember 2002), und er nahm im August 2004 die Herausforderung des Referendums an. Es gibt viele Unterschiede zwischen dem venezolanischen Prozess und der Entwicklung im restlichen Südamerika.
Chávez konnte die alten Parteien der herrschenden Klasse verdrängen — sie haben ihre traditionelle Kontrolle über den Staat verloren. Er stützt sich auf die unteren Schichten der Gesellschaft, und er wird nicht als Mitglied oder Verbündeter irgendeiner Kapitalfraktion betrachtet. Er beschränkt sich nicht darauf, Veränderungen zu versprechen, sondern hat mit der Verteilung von Land, der Vergabe von Krediten an Kooperativen und der Ausweitung der Bildungs- und Gesundheitsversorgung auf die gesamte Bevölkerung wirkliche Reformen begonnen.
Chávez repräsentiert die Neuauflage eines nationalistischen Prozesses in der Tradition von Cárdenas, Perón, Torrijos oder Velazco Alvarado. Dieser Kurs stellt im Rahmen der derzeitigen Anpassung von Mitte-Links an den Imperialismus eine Ausnahme dar. Wahrscheinlich erklärt sich das Wiederauftauchen des Nationalismus durch die Besonderheiten der venezolanischen Armee (spärliche Beziehungen zum Pentagon, Einfluss der linken Guerilla) und das Gewicht des staatlichen Erdöls (Festung der Bürokratie, latente Konflikte mit dem nordamerikanischen Abnehmer, geringeres Gewicht des privaten Sektors). Sein antiimperialistisches Profil macht Chávez zum Antipoden jeder lateinamerikanischer Diktatur. Er hat viel Ähnlichkeit mit Perón, aber keine mit Videla.
Die Ähnlichkeit mit dem Justitialismus der 50er Jahre zeigt sich auch in den sozialen Errungenschaften und in der Wiederkehr der Naturalrente. Chávez erhält dafür dieselbe Unterstützung aus dem Volk und Zurückweisung durch die Bourgeoisie, die es damals auch in Argentinien gab. Perón stützte sich auf eine gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse, Chávez behauptet sich in den Stadtteilorganisationen der prekär Beschäftigten.
Auch die Konfrontation mit der Rechten unterscheidet Chávez von seinen lateinamerikanischen Kollegen. Er brachte der unaufhörlich konspirierenden Opposition, die um den Verlust ihrer Privilegien fürchtet, mehrere Niederlagen bei. Die Opposition versucht Chávez zu beseitigen oder ihn zu einer konservativen Entwicklung (wie sie die mexikanische PRI durchmachte) zu zwingen, um die soziale und rassistische Spaltung der Gesellschaft wiederherzustellen.

Außenpolitik

Die USA ziehen die Fäden bei jedem Putsch und jeder terroristischen Provokation, die von Kolumbien aus vorbereitet wird. Aber dem State Department fehlt ein Pinochet und deshalb wendet es sich an die »Freunde der OAS«, um Chávez‘ Position zu unterhöhlen. Während die Tauben im Weißen Haus lavieren, bereiten die Falken einen neuen Angriff vor.
Bush kann nicht offen agieren, solange er im Nahen Osten im militärischen Sumpf steckt. Er wagt es nicht, Chávez mit Saddam zu vergleichen, aber es gelingt ihm auch nicht, ihn wie Ghaddafi zu zähmen. Die USA brauchen das venezolanische Öl und müssen sich mit der bolivarianischen Strategie der direkten Intervention in die OPEC und der Umlenkung der Ölexporte nach China und Lateinamerika herumschlagen.
Die Spannungen verschärfen sich zudem, weil Chávez enge Verbindungen zu Kuba geknüpft hat. Er stellt das Embargo gegen Kuba in Frage und hilft der Insel durch Öllieferungen und diplomatische Aktionen. Venezuela hat keine Truppen nach Haiti geschickt und sich den Handelsforderungen der USA nicht gebeugt. Darüber hinaus ist das Land aufgrund der solidarischen Präsenz zahlreicher kubanischer Ärzte und Aktivisten der Alphabetisierung stark sensibilisiert. Diese Beziehung zu Kuba unterscheidet Chávez von Perón, denn er nährt sich nicht von der reaktionären Ideologie, von der der argentinische Caudillo durchdrungen war, sondern geht von einer Interpretation des Bolivarianismus aus, die mit der Linken verwandt und für den Sozialismus offen ist.
Venezuela ist nach Einkommen, Kultur und Hautfarbe in zwei Bevölkerungen gespalten. Die Oligarchie ist bestrebt, den Aufstand der Ausgegrenzten mit Hilfe der Manipulation der Mittelschichten zu durchkreuzen. Chávez hat eine große Fähigkeit bewiesen, seine Anhänger zu sammeln und sie gegen die Manipulation der Medien durch die Rechten zu mobilisieren. Das gesellschaftliche Klima im Land weist Ähnlichkeiten mit dem von Nikaragua in den 80er Jahren oder mit der brodelnden Atmosphäre vor der Nelkenrevolution in Portugal auf.
Sicher ist, dass die staatliche Kontrolle über große Erdöleinkommen Venezuela einen Spielraum für Sozialreformen verschafft, der in anderen Ländern nicht existiert. Indem er diesen Spielraum ausnützt, agiert Chávez mit einer gewissen Zwanglosigkeit — seine Regierung hat zwischen 1999 bis 2004 den Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 24% auf 34% erhöht.

Öl für Reformen

Im Unterschied zu Brasilien oder Argentinien gibt es in Venezuela eine »umstrittene Regierung«. In allen wichtigen Konflikten, denen Chávez sich gegenüber sieht, stehen nicht bloß die Vorteile des einen oder anderen kapitalistischen Sektors auf dem Spiel, sondern auch die Interessen der Bevölkerungsmehrheit.
Die Bemühungen der verschiedenen Unternehmergruppen, die Gunst der Regierung zu erringen, äußern sich hier in einer Konfrontation der herrschenden Klasse mit dem bolivarianischen Prozess. Der Zusammenstoß hat die Entwicklung bislang radikalisiert und ihr eine antiimperialistische Dynamik gegeben, die zu einer Konfrontation zwischen Unterdrückern und Unterdrückten führte.
Strukturell unterscheidet sich Venezuela nicht vom Rest Südamerikas. Es leidet am selben Grad sozialer Ungleichheit, agrarischer Unterentwicklung und industrieller Verkümmerung. Von der Armut betroffen sind 80% der Bevölkerung, der informelle Sektor der Ökonomie umfasst drei Viertel der arbeitenden Menschen. Dieses Erbe kann nicht beseitigt werden, ohne die Hindernisse wegzuräumen, die die Entwicklung Lateinamerikas blockieren. Dafür ist es nötig, die Beschränkungen zu überwinden, die andere nationalistische Versuche vereitelt haben.
Soziale Fürsorge, die Verteilung unbebauter Ländereien und Kredite an Kooperativen ermöglichen den Beginn einer progressiven Umverteilung des Einkommens. Aber um die soziale Regression der letzten Jahre zu überwinden und die strukturelle Erwerbslosigkeit (infolge der spärlichen und deformierten Industrialisierung) zu beseitigen, sind staatliche Investitionen im großen Ausmaß erforderlich.
Man erreicht dies nicht mit einer Entwicklung der Städte aus eigener Kraft und der Beseitigung ungenutzten Bodens auf dem Lande. Dazu braucht man ein Programm industrieller Planung, das die Privilegien der großen kapitalistischen Gruppen und ihrer Verbündeten in der staatlichen Bürokratie abschafft. Wer von der Erdölrente lebt, wird niemals Urheber von Entwicklung werden.
Ein großer Schritt wurde mit dem Rausschmiss der multinationalen Geschäftsführung gemacht, die den Erdölkonzern PDVESA kontrollierte. Auch die Erhöhung der Gehälter und die Entscheidung, die Abhängigkeit von den Erdölexporten in die USA (50%) zu reduzieren, hat die Autonomie in der Energiepolitik erhöht.
Die ehrgeizigen sozialen Reformen, die Chávez verwirklichen will, erfordern eine stärkere politische Radikalisierung. Lula, Kirchner (oder Zapatero) zielen darauf ab, diesen Prozess zu neutralisieren, und deshalb raten sie, der Opposition Brücken zu bauen und das alte Regime wiederherzustellen. Dieselbe Arbeit leisten die OAS, Jimmy Carter und »Human Rights Watch«.
Der Hauptbremsklotz des bolivarianischen Prozesses aber sitzt in der chavistischen Administration selbst. Dort agiert eine ineffiziente Bürokratie von Emporkömmlingen, die der Opposition ihre Dienste anbieten wird, wenn sie merkt, dass der Wind aus einer anderen Richtung weht.

Bruch mit Kapitalismus?

Die Erfahrung zeigt, dass Errungenschaften, die einfrieren, sich auflösen. Wenn der bolivarianische Prozess gebremst wird, wird sich wiederholen, was mit der PRI oder dem Peronismus geschehen ist: einmal an der Macht, haben sie sich zu Optionen der herrschenden Klassen entwickelt. Den entgegengesetzten Weg schlug die kubanische Revolution ein. Chávez hat verschiedene Male seine Bewunderung für diesen zweiten Weg erklärt, aber die Maßnahmen zum Bruch mit dem Kapitalismus, die in Kuba in den 60er Jahren ergriffen wurden, nicht durchgesetzt.
In Venezuela vollzieht sich eine radikal- demokratische Transformation der staatlichen Institutionen. Die Struktur dieses Systems ist nicht wie in Nikaragua in den 80er Jahren zusammengebrochen, aber die Möglichkeiten einer revolutionären Wendung sind sehr groß. Jene, die meinen, dass »in Venezuela nichts passiert« oder Chávez nur das »populistische Libretto« wiederholt, täuschen sich. Im lateinamerikanischen Vulkan brodelt es und am stärksten in dem Land, das den antiimperialistischen Widerstand Kontinents am pointiertesten artikuliert. Die Bildung neuer Gewerkschaften und die Selbstorganisation der Bevölkerung in den bolivarianischen Zirkeln zeigen, dass sich die Protagonisten eines radikalen Wandels bereits auf den Weg gemacht haben.

Claudio Katz

Auszug aus einem längeren Artikel der in der April-Ausgabe von Inprecor veröffentlicht wurde (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang