SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 3

Nachbetrachtungen zum 8.Mai 2005

Der 8.Mai erfährt nach wie vor eine sehr unterschiedliche Bewertung. Zu Recht, denn wenn es zu kaum einem Aspekt historischer Entwicklung so etwas wie »allgemein- menschliche« Urteile gibt, warum sollte das ausgerechnet bei einem so einschneidenden Ereignis anders sein?
Für viele Deutsche war der 8.Mai der Tag der Niederlage und der Kapitulation, nicht der Tag der Befreiung. Da die meisten von ihnen dem deutschen Faschismus über viele Jahre und bis in die letzten Tage seiner Herrschaft willig gedient hatten, sahen sie den Tag selbstverständlich als Tag der Niederlage an, als Tag ihrer Niederlage. Nur wenige Deutsche konnten den 8.Mai als Tag der Befreiung ansehen: Erstens jene, die im ursprünglichen Sinn des Wortes befreit wurden, aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern, Arbeitslagern usw.; zweitens jene, die mehr oder minder im Untergrund gelebt und über Jahre unentdeckt Widerstand gegen das System geleistet hatten: im unmittelbar politischen Sinne und als Deserteure, als rassistisch Verfolgte und durch ihre Hilfe für Verfolgte; drittens jene, die sich zwar nicht zum Widerstand entschließen konnten, aber dem System ablehnend gegenüber standen und zugleich in dem Sinne resigniert hatten, dass sie in die »innere Emigration« gegangen waren. Sie alle hatten den Tag der Niederlage des verhassten Systems herbeigesehnt und sahen ihn mit vollem Recht als Tag der Befreiung. Aber das waren nicht so viele im Deutschland des Frühjahrs 1945. Die meisten sahen ihn als Tag der Niederlage und als Katastrophe.
In den von den Nazis überfallenen und okkupierten Ländern war die Lage damals genau umgekehrt. Die große Masse der Bevölkerung feierte den Tag des Sieges über den Faschismus. Jene dagegen, die bereitwillig mit den Nazis kollaboriert hatten, sahen keinen Anlass zur Freude, flüchteten häufig genug gemeinsam mit den Okkupanten aus den schon befreiten Gebieten und sahen mit Angst und Schrecken dem Tag der deutschen Niederlage entgegen.
Meinungsumfragen in Deutschland besagen, dass heute, anders als vor fünfzig oder vierzig Jahren, über 70% der Deutschen (und über 80% der Ostdeutschen) den 8.Mai als Tag der Befreiung ansehen. Die erste Ursache hierfür ist sicherlich, dass jene, die damals tatsächlich eine Niederlage erlitten hatten, die alten Nazis und ihre Anhänger, inzwischen gestorben sind. Heute meinen viele: »Opa war kein Nazi« — eine Behauptung, die zwar in den meisten Fällen falsch ist und nicht gerade von ernsthafter Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zeugt, aber doch beinhaltet, dass die so Urteilenden mit dem System, dem ihre Großeltern über lange Jahre »treu gedient« hatten, nichts zu tun haben wollen.
Andere in den nachwachsenden Generationen dagegen, immer noch zu viele, bedauern die Niederlage ihrer Eltern und Großeltern, trauern den »verlorenen Ostgebieten« nach und verlangen »Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht«, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, dass das »Unrecht« das Resultat eines Krieges war, der von Deutschland seinen Ausgang nahm. Einige, immer noch zu wenige, sehen die Taten ihrer Eltern sehr viel kritischer, weil sie — gar nicht selten entgegen ihrer ursprünglichen Absicht — erkannt haben, was in »meines Vaters Land« wirklich vor sich gegangen war, wie das tatsächliche Verhalten ihrer Väter und auch Mütter zumeist ausgesehen hat. Wer einen solchen schmerzhaften Erkenntnisprozess durchgestanden hat, sieht den 8.Mai als den Tag an, an dem Deutschland befreit worden ist.
Die veröffentlichte Meinung in diesem Lande zieht es vor, nicht mehr vom Tag der Kapitulation zu sprechen, sondern »wertfrei« vom Tag des Kriegsendes. Zwar ging der Zweite Weltkrieg erst mit der Kapitulation Japans im August 1945 zu Ende, aber das ficht die Vertreter der political correctness in Deutschland nicht an. Überdies versetzt sie diese Sicht in die Lage, »ausgewogene« Darstellungen zu liefern, in denen »endlich« auch wieder der Deutschen als »Opfer von Krieg und Vertreibung« gedacht werden kann. Melodramatisch wird der »Untergang« des »Reichs« im Jahre 1945 gezeigt, als ob der Untergang von Menschlichkeit und Kultur in Deutschland nicht mit der Errichtung des »Dritten Reichs« im Jahre 1933 begonnen hatte.
Eine ökonomisch-historische Einordnung dieses tatsächlichen Untergangs, und sei es wenigstens auf dem Niveau von Max Horkheimers Diktum »Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen«, findet heute sogar weniger statt als noch vor zwanzig Jahren. Mit Götz Alys Denunziation des Sozialstaats als Produkt des »nationalen Sozialismus« hat diese Degeneration ökonomisch-historischer Forschung ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht.
Allerdings sind solche »Wandlungen« kein rein deutsches Phänomen. Außerhalb Deutschlands, insbesondere bei den vier Alliierten, wird zwar nach wie vor vom Tag des Sieges gesprochen, aber von einem Tag der Befreiung ist weniger und weniger die Rede. Im Gegenteil. Mit dem Blick auf den Zusammenbruch des Realsozialismus wird behauptet, dass die Befreiung der osteuropäischen Länder erst stattgefunden habe, als sie sich von der sowjetkommunistischen Herrschaft befreit hätten, also in den Jahren 1989/91.
Man muss kein Freund der dahingegangenen Sowjetunion sein, um demgegenüber als historische Tatsache festzuhalten: Wenn die Sowjetarmee nach der Befreiung ihres Landes haltgemacht und die übrigen Länder Europas ihrem Schicksal überlassen hätte, dann würden wahrscheinlich die Krematorien in Auschwitz und Majdanek immer noch arbeiten, und halb Europa würde noch immer unter deutsch-faschistischer Herrschaft stehen.
Auch darf nicht vergessen werden, dass der britische Premier Winston Churchill nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion lange Zeit der Devise folgte: Lasst die Nazis und die »Bolschis« (für Bolschewisten) sich erst einmal gegenseitig abschlachten, und wenn sie sich genügend geschwächt haben, dann kommen wir und beenden den Krieg mit unserem Sieg.
Aber die Sowjetunion wurde trotz schwerster Verluste nicht schwach, im Gegenteil, sie wurde im Verlaufe des Krieges immer stärker. Die zweite Front wurde daher vor allem eröffnet, um den nach der Befreiung nichtsowjetischer Teile Osteuropas zu erwartenden Vormarsch der Sowjetarmee auf Westeuropa zu verhindern. (Wer sich ein sowjetisch besetztes Paris nicht vorstellen kann, sei daran erinnert, dass die kaiserlich-russische Armee Napoleon bis nach Paris verfolgt hatte; dem dawai im Berlin von 1945 war das bistro im Paris von 1812 vorausgegangen.)
Diese einfachen Wahrheiten werden heute gern verdrängt. Statt sich ihrer zu erinnern, wird der Folgen der sowjetischen Besetzung Osteuropas gedacht. Aber als der Präsident der USA, George W. Bush, am 8.Mai dieses Jahres den Letten zu ihrer Befreiung — nicht etwa von der deutschen, sondern von der russischen Okkupation — gratulierte, hatte er wohl »vergessen«, dass sein Amtsvorgänger Roosevelt gemeinsam mit Churchill und Stalin in Teheran und Jalta die Aufteilung Europas in ihre jeweiligen Einflusssphären beschlossen hatte. Gewiss ist die Frage erlaubt, ob ein in Einflusssphären der Großmächte aufgeteiltes Europa ein befreites Europa gewesen ist. Allerdings nur, wenn die Fragestellung nicht auf Osteuropa beschränkt bleibt und sehr konkret gesagt wird, was unter Befreiung verstanden wird und was nicht.
Ohne die Aufteilung in Einflusssphären wären die Länder Osteuropas so wenig »sowjetisiert« worden wie die Länder Westeuropas »amerikanisiert«. Ohne diese Aufteilung wären die Kommunisten in Polen und der Tschechoslowakei so wenig zur Alleinherrschaft gelangt wie sie in Frankreich und Italien aus den Regierungen verdrängt worden wären; ebenso standen sich das SPD-Verbot in der DDR und das KPD- Verbot in der alten BRD gegenüber (letzteres gilt übrigens nach wie vor im nunmehr vereinten Deutschland).
Befreiung bezeichnet also tatsächlich Befreiung vom deutschen Faschismus; die faschistischen Regime in Westeuropa, in Spanien und Portugal, blieben nach Kriegsende unangetastet, die faschistischen und halbfaschistischen Regime in den osteuropäischen »Satellitenstaaten« dagegen, in Ungarn, Rumänien, Kroatien und Bulgarien, wurden beseitigt. Insofern konnte in Osteuropa die Befreiung vom Faschismus allgemeiner gefasst werden als in Westeuropa — eine Tatsache, die ebenfalls gern »vergessen« wird. Aber im Vordergrund der Erinnerung stand auch in Osteuropa bis 1989 stets die Befreiung vom deutschen Faschismus.
Am 8.Mai 1945 wurden nicht alle Verhältnisse umgeworfen, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx). Aber es wurde ein Verhältnis beseitigt, in dem Menschen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß erniedrigt, geknechtet, verachtet und schließlich ermordet worden sind. Die Befreiung Europas aus diesem barbarischen Verhältnis wurde mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die am 8.Mai um 23 Uhr in Kraft trat, besiegelt. Und deshalb ist und bleibt der 8.Mai der Tag der Befreiung — der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus.

Thomas Kuczynski

Vom Autor erschien Ende 2004 das Buch Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte (Berlin: Verbrecher-Verlag).



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang