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Der 8.Mai erfährt nach wie vor eine sehr unterschiedliche Bewertung. Zu
Recht, denn wenn es zu kaum einem Aspekt historischer Entwicklung so etwas wie »allgemein-
menschliche« Urteile gibt, warum sollte das ausgerechnet bei einem so einschneidenden Ereignis anders
sein?
Für viele Deutsche war der 8.Mai der Tag
der Niederlage und der Kapitulation, nicht der Tag der Befreiung. Da die meisten von ihnen dem deutschen
Faschismus über viele Jahre und bis in die letzten Tage seiner Herrschaft willig gedient hatten, sahen
sie den Tag selbstverständlich als Tag der Niederlage an, als Tag ihrer Niederlage. Nur wenige
Deutsche konnten den 8.Mai als Tag der Befreiung ansehen: Erstens jene, die im ursprünglichen Sinn des
Wortes befreit wurden, aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern, Arbeitslagern usw.; zweitens jene, die
mehr oder minder im Untergrund gelebt und über Jahre unentdeckt Widerstand gegen das System geleistet
hatten: im unmittelbar politischen Sinne und als Deserteure, als rassistisch Verfolgte und durch ihre Hilfe
für Verfolgte; drittens jene, die sich zwar nicht zum Widerstand entschließen konnten, aber dem
System ablehnend gegenüber standen und zugleich in dem Sinne resigniert hatten, dass sie in die
»innere Emigration« gegangen waren. Sie alle hatten den Tag der Niederlage des verhassten Systems
herbeigesehnt und sahen ihn mit vollem Recht als Tag der Befreiung. Aber das waren nicht so viele im
Deutschland des Frühjahrs 1945. Die meisten sahen ihn als Tag der Niederlage und als Katastrophe.
In den von den Nazis überfallenen und
okkupierten Ländern war die Lage damals genau umgekehrt. Die große Masse der Bevölkerung
feierte den Tag des Sieges über den Faschismus. Jene dagegen, die bereitwillig mit den Nazis
kollaboriert hatten, sahen keinen Anlass zur Freude, flüchteten häufig genug gemeinsam mit den
Okkupanten aus den schon befreiten Gebieten und sahen mit Angst und Schrecken dem Tag der deutschen
Niederlage entgegen.
Meinungsumfragen in Deutschland besagen, dass
heute, anders als vor fünfzig oder vierzig Jahren, über 70% der Deutschen (und über 80% der
Ostdeutschen) den 8.Mai als Tag der Befreiung ansehen. Die erste Ursache hierfür ist sicherlich, dass
jene, die damals tatsächlich eine Niederlage erlitten hatten, die alten Nazis und ihre Anhänger,
inzwischen gestorben sind. Heute meinen viele: »Opa war kein Nazi« eine Behauptung, die
zwar in den meisten Fällen falsch ist und nicht gerade von ernsthafter Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte zeugt, aber doch beinhaltet, dass die so Urteilenden mit dem System, dem ihre
Großeltern über lange Jahre »treu gedient« hatten, nichts zu tun haben wollen.
Andere in den nachwachsenden Generationen
dagegen, immer noch zu viele, bedauern die Niederlage ihrer Eltern und Großeltern, trauern den
»verlorenen Ostgebieten« nach und verlangen »Wiedergutmachung für das erlittene
Unrecht«, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, dass das »Unrecht« das
Resultat eines Krieges war, der von Deutschland seinen Ausgang nahm. Einige, immer noch zu wenige, sehen
die Taten ihrer Eltern sehr viel kritischer, weil sie gar nicht selten entgegen ihrer
ursprünglichen Absicht erkannt haben, was in »meines Vaters Land« wirklich vor sich
gegangen war, wie das tatsächliche Verhalten ihrer Väter und auch Mütter zumeist ausgesehen
hat. Wer einen solchen schmerzhaften Erkenntnisprozess durchgestanden hat, sieht den 8.Mai als den Tag an,
an dem Deutschland befreit worden ist.
Die veröffentlichte Meinung in diesem
Lande zieht es vor, nicht mehr vom Tag der Kapitulation zu sprechen, sondern »wertfrei« vom Tag
des Kriegsendes. Zwar ging der Zweite Weltkrieg erst mit der Kapitulation Japans im August 1945 zu Ende,
aber das ficht die Vertreter der political correctness in Deutschland nicht an. Überdies versetzt sie
diese Sicht in die Lage, »ausgewogene« Darstellungen zu liefern, in denen »endlich«
auch wieder der Deutschen als »Opfer von Krieg und Vertreibung« gedacht werden kann.
Melodramatisch wird der »Untergang« des »Reichs« im Jahre 1945 gezeigt, als ob der
Untergang von Menschlichkeit und Kultur in Deutschland nicht mit der Errichtung des »Dritten
Reichs« im Jahre 1933 begonnen hatte.
Eine ökonomisch-historische Einordnung
dieses tatsächlichen Untergangs, und sei es wenigstens auf dem Niveau von Max Horkheimers Diktum
»Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen«, findet heute sogar
weniger statt als noch vor zwanzig Jahren. Mit Götz Alys Denunziation des Sozialstaats als Produkt des
»nationalen Sozialismus« hat diese Degeneration ökonomisch-historischer Forschung ihren
vorläufigen Tiefpunkt erreicht.
Allerdings sind solche »Wandlungen«
kein rein deutsches Phänomen. Außerhalb Deutschlands, insbesondere bei den vier Alliierten, wird
zwar nach wie vor vom Tag des Sieges gesprochen, aber von einem Tag der Befreiung ist weniger und weniger
die Rede. Im Gegenteil. Mit dem Blick auf den Zusammenbruch des Realsozialismus wird behauptet, dass die
Befreiung der osteuropäischen Länder erst stattgefunden habe, als sie sich von der
sowjetkommunistischen Herrschaft befreit hätten, also in den Jahren 1989/91.
Man muss kein Freund der dahingegangenen
Sowjetunion sein, um demgegenüber als historische Tatsache festzuhalten: Wenn die Sowjetarmee nach der
Befreiung ihres Landes haltgemacht und die übrigen Länder Europas ihrem Schicksal überlassen
hätte, dann würden wahrscheinlich die Krematorien in Auschwitz und Majdanek immer noch arbeiten,
und halb Europa würde noch immer unter deutsch-faschistischer Herrschaft stehen.
Auch darf nicht vergessen werden, dass der
britische Premier Winston Churchill nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion lange Zeit der
Devise folgte: Lasst die Nazis und die »Bolschis« (für Bolschewisten) sich erst einmal
gegenseitig abschlachten, und wenn sie sich genügend geschwächt haben, dann kommen wir und
beenden den Krieg mit unserem Sieg.
Aber die Sowjetunion wurde trotz schwerster
Verluste nicht schwach, im Gegenteil, sie wurde im Verlaufe des Krieges immer stärker. Die zweite
Front wurde daher vor allem eröffnet, um den nach der Befreiung nichtsowjetischer Teile Osteuropas zu
erwartenden Vormarsch der Sowjetarmee auf Westeuropa zu verhindern. (Wer sich ein sowjetisch besetztes
Paris nicht vorstellen kann, sei daran erinnert, dass die kaiserlich-russische Armee Napoleon bis nach
Paris verfolgt hatte; dem dawai im Berlin von 1945 war das bistro im Paris von 1812 vorausgegangen.)
Diese einfachen Wahrheiten werden heute gern
verdrängt. Statt sich ihrer zu erinnern, wird der Folgen der sowjetischen Besetzung Osteuropas
gedacht. Aber als der Präsident der USA, George W. Bush, am 8.Mai dieses Jahres den Letten zu ihrer
Befreiung nicht etwa von der deutschen, sondern von der russischen Okkupation gratulierte,
hatte er wohl »vergessen«, dass sein Amtsvorgänger Roosevelt gemeinsam mit Churchill und
Stalin in Teheran und Jalta die Aufteilung Europas in ihre jeweiligen Einflusssphären beschlossen
hatte. Gewiss ist die Frage erlaubt, ob ein in Einflusssphären der Großmächte aufgeteiltes
Europa ein befreites Europa gewesen ist. Allerdings nur, wenn die Fragestellung nicht auf Osteuropa
beschränkt bleibt und sehr konkret gesagt wird, was unter Befreiung verstanden wird und was nicht.
Ohne die Aufteilung in Einflusssphären
wären die Länder Osteuropas so wenig »sowjetisiert« worden wie die Länder
Westeuropas »amerikanisiert«. Ohne diese Aufteilung wären die Kommunisten in Polen und der
Tschechoslowakei so wenig zur Alleinherrschaft gelangt wie sie in Frankreich und Italien aus den
Regierungen verdrängt worden wären; ebenso standen sich das SPD-Verbot in der DDR und das KPD-
Verbot in der alten BRD gegenüber (letzteres gilt übrigens nach wie vor im nunmehr vereinten
Deutschland).
Befreiung bezeichnet also tatsächlich
Befreiung vom deutschen Faschismus; die faschistischen Regime in Westeuropa, in Spanien und Portugal,
blieben nach Kriegsende unangetastet, die faschistischen und halbfaschistischen Regime in den
osteuropäischen »Satellitenstaaten« dagegen, in Ungarn, Rumänien, Kroatien und
Bulgarien, wurden beseitigt. Insofern konnte in Osteuropa die Befreiung vom Faschismus allgemeiner gefasst
werden als in Westeuropa eine Tatsache, die ebenfalls gern »vergessen« wird. Aber im
Vordergrund der Erinnerung stand auch in Osteuropa bis 1989 stets die Befreiung vom deutschen Faschismus.
Am 8.Mai 1945 wurden nicht alle
Verhältnisse umgeworfen, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx). Aber es wurde ein Verhältnis beseitigt, in
dem Menschen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß erniedrigt, geknechtet, verachtet und
schließlich ermordet worden sind. Die Befreiung Europas aus diesem barbarischen Verhältnis wurde
mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die am 8.Mai um 23 Uhr in Kraft trat, besiegelt. Und deshalb
ist und bleibt der 8.Mai der Tag der Befreiung der Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus.
Thomas Kuczynski
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