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Auf der politischen Linken waren auf Münteferings Aussagen hin wesentlich zwei Reaktionsformen
zu beobachten. Zum einen die, die forderten, dass nun Taten den Worten zu folgen hätten. Zum anderen
die, die in dem Ganzen nur eine große reaktionäre Lüge erkennen können. Wo steht ein so
versierter Politik- und Kapitalismuskritiker wie du in dieser Diskussion?
Beide haben wohl Recht. Dass das Ganze ein Wahlkampfmanöver ist, ist offensichtlich.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei sogar um ein Nachwahlkampfmanöver, denn die SPD geht wohl davon
aus, dass sie die Wahl in Nordrhein-Westfalen verlieren wird, und sie meint, dann auch den
Bundestagswahlkampf 2006 mit dieser Kampagne bestreiten zu können. Sie kann dabei ja nur gewinnen.
Wenn sie die Wahl gewinnt, stellt sie erneut den Kanzler, wenn sie verliert, kann sie sich neu
positionieren für die Zeit nach der Wahl. Es ist also ein rein wahltaktisches Manöver.
Was Müntefering nun beklagt, hat ja seine
eigene Partei angerichtet. Sie haben kräftig die Steuern gesenkt, haben damit Mittel freigesetzt, von
denen sie annahmen, dass sie für Investitionen verwandt würden. Ein großer Teil dieser
Mittel ist aber offensichtlich in sog. Hedgefonds gelandet. Finanzminister Eichel hat kaum, dass Lafontaine
weg war, die Veräußerungsgewinne steuerfrei gemacht, hat also gerade das Phänomen
gefördert, das nun beklagt wird. Das ist die normale Arbeitsteilung zwischen Regierung und Partei, wie
wir sie von der SPD kennen. Früher war es der Brandt, heute ist es der Müntefering. Das ist ganz
normale Public-Relations-Arbeit. Von reaktionär würde ich deswegen gar nicht reden.
Müntefering macht seinen Job, die übliche Demagogie, die er sich leisten kann, weil
außerhalb der SPD im Grunde niemand da ist, der diese Kritik wirklich mit Einfluss gegen die SPD
selbst wenden könnte.
Als es noch eine sozialistische Alternative
gab, sei es der »real existierende Sozialismus« oder zumindest eine potenzielle kommunistische
Massenpartei, hätte die SPD wahrscheinlich nicht so argumentieren können, da sie dann hätte
befürchten müssen, dass dies von dieser dann alternativ hätte aufgegriffen werden
können. Die ganze Debatte ist deshalb also folgenlos, weil niemand außerhalb der SPD imstande
ist, die Konsequenzen solcher Kritik zu ziehen. Von der SPD zu verlangen, dass sie solcherart
Kapitalismuskritik Taten folgen lässt, wäre nun wirklich ziemlich blauäugig.
Aber warum können weder die Gewerkschaften noch Attac, weder die PDS noch die neue WASG von
dieser Diskussion in dem Sinne profitieren, dass ihre eigenen Anliegen breiter diskutiert werden?
Das hängt wohl damit zusammen, dass diese Organisationen ihrerseits diskreditiert sind. Die
Gewerkschaften haben sich in der Vergangenheit so sehr als Steigbügelhalter der SPD betätigt,
dass ein Umschwenken auf eine grundsätzliche Kapitalismuskritik von Seiten der Gewerkschaften ebenso
unglaubwürdig wäre, wie es nun bei Müntefering der Fall ist. Die PDS hat sich seit 1989/90
mittlerweile so in die Zivilgesellschaft verstrickt, dass eine konsequente Kapitalismuskritik auch für
sie eine Kehrtwendung bedeuten würde. Und die WASG hat ja unter ihrem glorreichen
Spitzenfunktionär Klaus Ernst von vornherein erklärt, dass sie von einer grundsätzlichen
Kapitalismuskritik nichts hält. Insofern sind diese drei Organisationen keine Kandidaten für eine
entsprechend glaubwürdige Kapitalismuskritik.
Und was ist mit einer Bewegung wie attac, die doch genau das spezifisch thematisiert hat, wovon
auch Müntefering sprach: die neoliberale Überhitzung des Kapitalismus?
Attac ist wahrscheinlich wirklich eine ziemlich aussichtsreiche Organisation, nur sind sie noch
sehr am Anfang. Sie haben das große Plus gegenüber PDS, WASG und Gewerkschaften, dass sie im
Grunde nicht links gestartet und rechts gelandet sind. Sie sind ja von Anfang an eher eine bürgerliche
Bewegung gewesen, die sich allmählich nach links bewegt. Das braucht allerdings noch einige Zeit,
weswegen man sie nicht überfordern sollte.
Dass Münteferings Worte solche Wellen geschlagen haben, zeigt einmal, wie du sagst, die
Unfähigkeit, das Thema von links zu besetzen. Es zeigt aber andererseits doch auch den tief sitzenden
Groll und Unmut in großen Teilen der Bevölkerung.
Der Herr fischt natürlich auch im Trüben. Kapitalismuskritik als Spekulantenkritik ist
zunächst einmal ja gar keine Kapitalismuskritik. Die kommt in Deutschland eigentlich immer von rechts.
Ich werde jetzt nicht sagen, dass das antisemitisch ist. Aber was sich da angesprochen fühlt durch
Müntefering, ist jenes Ressentiment, das das schaffende dem raffenden Kapital vorzieht. Insofern wird
er wahrscheinlich rechts viel besser verstanden als links. Was hat er denn anderes gemacht, als ein Jahr
lang aufmerksam die Bild-Zeitung zu lesen. Und dort haben wir ja schon den doppelten Zorn gegen
»Florida-Rolf« da unten und die Spekulanten da oben. So gesehen ist es also nicht sehr kreativ,
was der Herr dort gemacht hat. Wer weiß, woher er das hat: auch der Regierungssprecher Anda kommt ja
von Bild.
Aber ist es nicht so, dass viele zwar die Kritik Münteferings teilen, ihm aber nicht
glauben oder wahlpolitisch folgen? Und ist dies kein Zeichen für eine weit verbreitete
»linke« Haltung?
Die Kapitalismuskritik von Müntefering findet offensichtlich Anklang, eher rechts und in der
Mitte als links, denn dort hat man erkannt, dass er ein Demagoge ist. Gerecht ist daran, dass die SPD nicht
davon profitiert. Das ist schon gut und zeigt, dass das Volk gar nicht so blöd ist. Die eigentliche
Kapitalismuskritik ist aber von Müntefering und von jenen, die ihm applaudiert haben, nur als Hohlform
akzeptiert worden.
Kapitalismuskritik ist überhaupt eine
ziemlich unsinnige Angelegenheit, wenn wir davon ausgehen müssen, dass es diese glorreiche
Gesellschaftsformation noch 500 Jahre geben wird. Sollen wir uns jetzt 500 Jahre hinstellen und den
Kapitalismus kritisieren? Das fände ich ziemlich langweilig. Viel interessanter wäre, wenn man
weniger den Kapitalismus oder irgendeine Tierart lauthals anklagt, sondern danach fragt, wie innerhalb des
Kapitalismus andere Varianten desselben gefunden werden, um eine Besserung zu erreichen.
Kapitalverkehrskontrollen wären ja bspw. eine sinnvolle Angelegenheit, dann die Besteuerung von
Veräußerungsgewinnen. Das könnte man ja machen, das hatten wir ja früher schon gehabt
das hat die SPD ja abgeschafft. Es sind also viele Einzelmaßnahmen möglich, um den
Kapitalfluss zu verlangsamen.
Aber damit sind wir doch wieder bei dem von Müntefering thematisierten Problem, bei der
Reregulierung.
Aber er hat ja nicht gefordert, die Steuererleichterungen, die die SPD seit 1998 eingeführt
hat, wieder zurückzunehmen. Davon ist mir nichts bekannt. Er tritt auch nicht für eine
Erhöhung des Spitzensteuersatzes ein. Im Gegenteil: Der Steuersatz wird gerade jetzt, im selben Moment
seiner Reden und Interviews, wieder gesenkt, Stichwort: Senkung der Erbschaftsteuer und weitgehende
Steuerfreiheit bei der Vererbung von Betrieben. Ich sehe keinen einzigen konkreten Punkt bei ihm, es ist
reine Public Relations, sonst nichts.
Was würdest du denn verstehen unter einer Linken, die ein solches Thema emanzipativ
aufgreift?
Seit Jahren mache ich Reklame für ein einziges Buch. Und zwar für das Buch von Jörg
Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, der die Entwicklung seit 1973 sehr exakt
beschreibt und tatsächlich eine sehr schöne Agenda hat für eine neue europäische
Finanzarchitektur mit sehr viel Einzelmaßnahmen. Wenn man sich ernsthaft daran machen würde
er ist ja Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac , das abzuarbeiten und bis auf die
kommunale Ebene herunter zu brechen da hätte die Linke alle Hände voll zu tun. Ich sitze
ja im Kreistag Marburg-Biedenkopf und wir sind von morgens bis abends bspw. mit der sog. Bolkestein-
Richtlinie beschäftigt, mit der Privatisierung unserer Kliniken, mit dem Verkauf der hiesigen
Immobilien an internationale Immobilienfonds. Das ist unser Alltag und wenn es eine Linke gäbe
ich weiß nicht, ob ich es wünschen soll , hätte sie sehr viel zu tun, sich bodennah
mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
Dort siehst du den Angelpunkt, von dem man zu einer antikapitalistischen Offensive
käme?
»Angelpunkt« ist natürlich altes Denken. »Antikapitalistische Offensive«
klingt mir viel zu militärisch. Man wird Abwehrkämpfe führen müssen und dafür gibt
es viele Gelegenheiten. Die Kapitalismuskritik sollten wir dagegen den Theoretikern überlassen
und da hat ja der alte Marx schon das wesentlichste gesagt und den Demagogen.
Der Kapitalismuskritiker Fülberth, der eigentlich gar kein Kapitalismuskritiker sein will,
ist auch ein Kapitalismusanalytiker. Du hast soeben ein Buch veröffentlicht zur Theorie und Geschichte
des Kapitalismus. Welches war dabei dein Erkenntnisinteresse und was ist dabei herausgekommen?
Ich hatte zunächst meine Aufgabe als hessischer Beamter wahrgenommen und über mehrere
Semester eine Vorlesung zur Geschichte des Kapitalismus gehalten. Die Ergebnisse habe ich nun
zusammengefasst und viel dabei gelernt vor allem von Historikern, weniger von Soziologen und
Politologen. Ich hab viel gelernt z.B. von dem Historiker Fernand Braudel, der mir der wichtigste zu sein
scheint, der einen sehr frühen Kapitalismus beschrieben hat, den Kapitalismus des 15. bis
18.Jahrhunderts. Der sehr interessante Gedanke bei Braudel ist, dass wir unterscheiden müssen zwischen
dem Kapitalismus als Betriebsweise und als Gesellschaftsordnung. Kapitalismus als Betriebsweise haben wir
nicht nur in Europa, sondern bereits in China oder Japan gehabt. Auch das war nicht idyllisch, aber
immerhin noch bremsbar. Seit der industriellen Revolution haben wir einen Kapitalismus als
Gesellschaftssystem. Das unterscheidet Braudel und hält dies offensichtlich für sehr
verhängnisvoll. Und hier würde ich ihm zustimmen.
Und hier siehst du auch einen aktuellen Bezug?
Braudel selbst ist ja schon zwanzig Jahre tot. Aber man kann ja mal Ansichten überprüfen,
wie sie Elmar Altvater vertritt, ob es nicht sinnvoll und denkbar wäre, diesen Kapitalismus ein
bisschen mehr wieder einzubetten in nichtkapitalistische Strukturen. Das ist zutiefst reformistisch und hat
mit antikapitalistischer Offensive nichts zu tun, ist aber vielleicht das einzige, was gerade noch
möglich ist.
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Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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