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Dass die Gewerkschaften seit fast 20 Jahren in der Defensive sind besonders folgenreich in Sachen
Arbeitszeit und Arbeitsumverteilung ist nicht in erster Linie Folge mangelnden Willens oder
programmatischer Defizite. Die Gewerkschaften haben keine Antwort gefunden (nicht einmal ernsthaft gesucht)
auf die strukturellen Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung, die eine neue Übermacht
des Kapitals begründet und die Gewerkschaften strukturell ins Hintertreffen gebracht hat.
…ist die Herstellung eines Angebotsmonopols von Arbeitskraft auf Branchenarbeitsmärkten. Die
damit möglich werdende Drohung des kollektiven Vorenthaltens von Arbeitskraft (Streik) versetzt sie in
die Lage, dem strukturell überlegenen Kapital (Privateigentum an Produktionsmitteln) Paroli zu bieten
und ermöglicht den Lohnabhängigen das materiell angemessene (Über-)Leben im Kapitalismus und
zweite Seite der tarifpolitischen Medaille oder »tarifpolitische Königsdisziplin«
die Verkürzungen der Arbeitszeit und damit die Kompensation und Vergesellschaftung von
Produktivitätsfortschritten durch Arbeitsumverteilung (Vermeidung/Begrenzung/Abbau von
Arbeitslosigkeit).
Die Revolutionierung der Produktivkräfte infolge von Digitalisierung und Internet hat die
ökonomischen Prozesse beschleunigt und entgrenzt. Durch neue Formen von Migration wurden die
nationalstaatlichen Grenzen des Arbeitsmarkt aufgeweicht. Die operative Fähigkeit des Kapitals, mit
immer geringerem Risiko und Aufwand die Produktionen oder Dienstleistungen überall dorthin auf der
Welt zu verlagern, wo Arbeitskraft billiger ist, macht den Preis der Arbeitskraft weltweit viel direkter
vergleichbar und stellt damit zunehmend einen nach Branchen segmentierten globalen Arbeitsmarkt her, der
zunächst völlig dereguliert und angesichts von weltweit etwa 1 Milliarde Erwerbsloser einseitig
zu den Nachfragebedingungen des Kapitals funktioniert.
Auf die ökonomische Globalisierung und
die Herausbildung globaler Arbeitsmärkte reagieren die Gewerkschaften mit zwei gleichermaßen
hilflosen Argumentationen: von den einen werden die neuen Optionen des Kapitals als üblicher
Arbeitgeberbluff abgetan und damit ignoriert, von den anderen als Naturgesetz verstanden, dem man sich
letztlich unterwerfen müsse, dies allerdings geschickt, d.h. mit einer sozial verträglichen
Standortsicherungspolitik (z.B. durch mehr Innovation und Qualifikation).
Die alltägliche praktische Erfahrung der Beschäftigten, durch die Anpassung an die
Marktüberlegenheit des Kapitals (d.h. durch Lohnverzicht oder unentgeltliche
Arbeitszeitverlängerung) betrieblich ihre Arbeitsplätze retten zu können, ist die materielle
Wurzel der neoliberalen Ideologie. Die Gewerkschaften dagegen erscheinen widersprüchlich und
unglaubwürdig, weil sie am Ende gezwungen sind, das zu praktizieren, was in flagrantem Widerspruch zu
ihrer an sich makroökonomisch richtigen Auffassung steht, dass Lohnverzicht keine Arbeitsplätze
sichert, sondern insgesamt und am Ende die Arbeitslosigkeit erhöht. Neoliberalismus kann also nicht im
Kampf der Ideologien in die Knie gezwungen werden, sondern nur, indem der Widerspruch, aus dem er sich
speist und ständig reproduziert, aufgelöst wird.
Auf tendenziell globalisierten Arbeitsmärkten werden Gewerkschaften erst wieder funktionieren
können, wenn sie sich durch Weiterentwicklung zu oder Restrukturierung als global unions in die Lage
versetzen, in der neuen Ausdehnung des Arbeitsmarkts das Monopol über das Arbeitskräfteangebot
wieder herzustellen.
Dass diese Anforderung sich heute als erstes
dem Utopievorwurf ausgesetzt sieht, ist vor allem die Folge jahrelanger gewerkschaftlicher Ignoranz. Statt
sich dem Kapital an die Fersen zu heften und sich transnational auszurichten, haben die Gewerkschaften ein
Jahrzehnt damit verbracht, unpolitisch, nämlich fast ausschließlich betriebswirtschaftlich auf
die strukturellen Probleme zu reagieren, namentlich durch Zusammenschlüsse zu nationalen
Multibranchengewerkschaften.
Global Unions heißt natürlich nicht (jedenfalls nicht in den ersten Schritten) gleiche Lohn-
und Sozialbedingungen weltweit, sondern Neutralisierung der Lohnkostenkonkurrenz, sodass sie für
Arbeitgeber keinen Ausschlag mehr bei Investitions- oder Verlagerungsentscheidungen gibt. Andere
Wettbewerbskriterien wie Marktnähe, Produktivität, Währungsverhältnisse, politische
Stabilität, Infrastruktur usw. bleiben konkurrenzentscheidend. In diesem Sinne heißt Beendigung
der Lohnkostenkonkurrenz Stopp des Dumpingwettbewerbs nach unten (bei dem alle abhängig
Beschäftigten verlieren), wobei einstweilig das Gefälle zwischen den Lohn- und Sozialniveaus mehr
oder weniger konstant bleiben wird. Auch bei einer Trendumkehr, d.h. wenn Verbesserungen durchsetzbar
werden, würde dies zunächst alle Niveaus betreffen, bevor deren Abstand abgebaut werden kann.
Es gab schon immer internationale gewerkschaftliche Dachverbände, es gibt
Gewerkschaftskooperationen in Grenzregionen, es gibt europäische Betriebsräte und Bemühungen
der Koordination von Tarifpolitik auf europäischer Ebene. Auch wenn jeder Weg spezifische Grenzen und
Widersprüche aufweist, sind dies Schritte aus der nationalen Befangenheit heraus, mit denen sich die
Gewerkschaften und die Arbeitenden selbst auf das internationale Parkett begeben, auf dem sich das Kapital
schon lange sehr routiniert bewegt. Mit der ITF/Section Maritim gibt es eine erste, als solche aber gar
nicht wahrgenommene Global Union für Seeleute mit tarifpolitischen Erfolgen und
Mitgliederzuwächsen. (Vgl. SoZ 3/05.)
In dem Europa, wie es sich derzeit mit der Lissabon-Strategie und einem sich neoliberal festlegenden
Verfassungsentwurf konstituiert, werden die Gewerkschaften von vornherein in der gleichen Defensive sein:
statt des deutschen Standorts, wird es gelten, den europäischen Standort mit Verlängerung von
Arbeitszeit, Absenkung von Löhnen, Steuern, Sozialsystemen gegen den südostasiatischen oder
nordamerikanischen Wettbewerbsraum zu behaupten. Die Gewerkschaften müssen ihre Defensivrolle in
Europa illusionslos angehen, konfliktbereit gegen Absenkung kämpfen und von vornherein die globale
Ebene in den Blick nehmen, von der aus die Machtfrage in Europa entschieden wird.
Der Altermondialismus stößt mit seinen Mobilisierungsformen zunehmend an Grenzen. Um sich mit
seinen Anliegen durchsetzen zu können, bräuchte er ein Erzwingungsmittel im Zentrum der
Ökonomie, über das die Gewerkschaften theoretisch, aber nicht praktisch verfügen. Ein
Bündnis, bei dem die Gewerkschaften nur die vorherrschenden Mobilisierungsformen des Altermondialismus
quantitativ stärken und nicht ihr eigentliches Erzwingungspotenzial einbringen, ist platonisch und
nutzt wenig. Attac und andere haben ein eigenes vitales Interesse an der Neuformierung der Gewerkschaften
im globalen Kontext und hätten in ihren Netzwerken viele Möglichkeiten, diesen Prozess zu
unterstützen aber auch einzufordern.
Die Perspektive von Global Unions bedeutet nicht die Verabschiedung von den nationalen
Verteilungskämpfen oder von der alltäglichen Gewerkschaftsarbeit unter Defensivbedingungen
im Gegenteil! Nur eine konfliktbereite Tarif- und Gewerkschaftspolitik ist in der Lage, die bestehenden
Verteilungsspielräume auszuschöpfen und Lernprozesse im Sinne einer Globalisierung von
Gewerkschaften in Gang zu setzen. Gewerkschaften, die sich klar auf ein solches Leitbild festlegen, werden
zwar noch lange Niederlagen und Kompromisse verkraften müssen, aber sie würden sie verstehen,
wüßten einen Ausweg und hätten damit eine überzeugende und solidaritätsstiftende
Perspektive, die ihnen schon in kürzerer Frist den bisher nur erträumten »Turnaround«
ermöglichen würde.
Werner Sauerborn
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