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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 11

Kurdistan

Die neue Ostgrenze der EU?

Der Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, begrüßte den EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei dessen Besuch im September 2004 in Kurdistan mit den Worten: »Lieber Herr Verheugen, willkommen im größeren Europa.« Der Bürgermeister der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt brachte deutlich zum Ausdruck, dass er sich eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wünscht und damit »eine bessere Zukunft« verbindet. Eine Hoffnung, die viele Menschen in Kurdistan teilen.

Viele glauben an eine Verbesserung der Menschenrechtslage und erwarten einen wirtschaftlichen Aufschwung, der auch Kurdistan erfasst und zu einer generellen Verbesserung der Lebensumstände der kurdischen Bevölkerung führen wird. Auch Leyla Zana machte bei ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament im Oktober 2004 deutlich, dass sie die Lösung der kurdischen Frage mit einer europäischen Perspektive für die Türkei verbindet. Die Kritik am langsamen und noch ungenügenden »Reformprozess« in der Türkei und ihre Forderung an die EU, der kurdischen Frage mehr Aufmerksamkeit im Rahmen des Beitrittsprozesses zu widmen, änderten nichts an ihrer grundsätzlich positiven Bezugnahme auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei.
Als Voraussetzungen für einen Beitritt hatte die EU 1993 auf dem Europäischen Rat die sog. Kopenhagener Kriterien formuliert. Diese legen vor allem die wirtschaftlichen Voraussetzungen eines Türkei-Beitritts fest, verpflichten die Türkei zur Umsetzung neoliberaler Vorstellungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. In der Praxis bedeutet dies Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und sozialer Dienstleistungen, Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten.
Wie man sich zum kapitalistischen EU-Projekt verhält, ist bei den türkischen und türkisch-kurdischen Linken umstritten. Die kommunistischen Parteien treten dem Türkei-Beitritt entgegen und fordern zum Widerstand auf. Abdullah Öcalan vertritt die Auffassung, dass sich die Kurden nicht auf die EU verlassen und ihre Forderungen quasi delegieren dürfen. Es sei vielmehr notwendig, weiterhin eine eigenständige Politik zu verfolgen, die eine demokratische und fortschrittliche Alternative für die Kurden und die gesamte Türkei eröffnet. Andere linke Organisationen wie z.B. die ÖDP oder die kurdische DEHAP stehen dem Beitritt der Türkei in die EU zwar kritisch gegenüber, stellen sich aber nicht grundsätzlich gegen den Beitrittsprozess. Sie sehen darin vor allem eine Chance für einen demokratischen Wandel.
Ausgeblendet wird dabei die Tatsache, dass gerade die EU-Kernstaaten, allen voran die BRD, in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen haben, die Verhältnisse in der Türkei zu festigen und durch finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung hinsichtlich Intensität und Dauer überhaupt führbar gemacht haben. Die Tatsache, dass in den bisherigen Mitgliedsländern der EU mit der inhaltlichen und organisatorischen Erweiterung der EU ein massiver Abbau demokratischer Rechte einher geht, wird praktisch nicht thematisiert. Zurückgestellt wird auch die Frage, wer letztlich vom EU-Beitritt der Türkei in der Türkei und der EU profitiert und welche sozialen Auswirkungen dies auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hat.

Die kurdische Frage als Instrument

Die Menschen in Kurdistan wollen endlich in Frieden und Sicherheit leben. Alle Bemühungen von kurdischer Seite, zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage zu kommen, haben bisher nicht zum Erfolg geführt. Auf diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass die Beitrittsverhandlungen für eine EU-Aufnahme der Türkei von kurdischer Seite als Strohhalm aufgegriffen werden, um die kurdische Frage wieder in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit zu rücken.
Die EU hat beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Die Gespräche sollen nun am 3.Oktober 2005 beginnen. Innerhalb der EU stehen sich zwei Fraktionen bezüglich der weiteren Haltung zum Türkei-Beitritt gegenüber, die man an der BRD-Situation gut aufzeigen kann. Die CDU tritt weiterhin für eine »privilegierte Partnerschaft« mit der Türkei ein. Der Hinweis auf »europäischen Werte« und die »europäische christliche Kulturgemeinschaft« werden ins Feld geführt, um die EU- Erweiterung Richtung Türkei abzulehnen.
Auch auf die ungelöste kurdische Frage und die Minderheitenpolitik der Türkei wird von konservativer Seite plötzlich hingewiesen. SPD und Grüne verweisen auf die guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei, loben die Türkei als verlässlichen Bündnispartner. Der Türkei wird in diesem Zusammenhang bestätigt, sie habe in den letzten Jahren große Fortschritte in der Menschenrechtsfrage gemacht und sei mit dem eingeleiteten Reformprozess auf dem richtigen Weg. Druck gemacht wird gegenüber der Türkei vor allem dahingehend, den neoliberalen Anpassungsprozess an die EU-Vorgaben zu beschleunigen.
Die kurdische Frage dient in diesem Zusammenhang als zusätzliches Druckmittel. In Übereinstimmung mit dem Unternehmerlager hofft man auf einen baldigen Beitritt der Türkei. Die kurdische Frage wird von allen Fraktionen letztlich nur für die eigenen Interessen instrumentalisiert. Zu glauben, die EU sei ernsthaft an einer Lösung der kurdischen Frage im Interesse der kurdischen Bevölkerung interessiert und dies sei eine Voraussetzung für den EU-Beitritt, gehört in den Bereich der Illusion. Gleichwohl ist es richtig, den Beitrittsprozess von kurdischer Seite aus taktisch auszunutzen und die eigenen Forderungen in die Verhandlungen einzubringen.

Folgen eines Beitritts

Voraussetzung dafür, sich nicht selbst zur Verhandlungsmasse degradieren zu lassen und/oder im kapitalistischen Europa politisch zu kapitulieren, ist jedoch eine umfassende Einschätzung der Auswirkungen eines Türkei-Beitritts auf die Möglichkeiten eines zukünftigen Gestaltungsspielraums für linke und basisdemokratische Politik. Folgende Gesichtspunkte sind dabei zu berücksichtigen:
Mit einem Türkei-Beitritt zur EU wird die Grenze im Osten der Türkei zur Grenze der Festung Europa. Die Flüchtlingsabwehr wird somit weit nach Kleinasien verschoben. Unter zahlenmäßigen Aspekten richtet sich die Flüchtlingsabwehr unmittelbar gegen die kurdischen Flüchtlinge der Anrainerstaaten. Das militärische Grenzsystem zur Verhinderung der Zuwanderung von Flüchtlingen nach Europa wird mit massiver Grenzüberwachung bis weit in das türkisch-kurdische Hinterland hinein verbunden sein. Dies bedeutet eine weitere Zunahme der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung in der Grenzregion.
Unabhängig davon bedeutet ein EU-Beitritt der Türkei die Einordnung der Türkei als sicheres Hinterland für Kerneuropa. Flüchtlinge aus der Türkei bzw. Türkei-Kurdistan wird es somit per Definition nicht mehr geben.
Die Befürworter einer Türkei- Mitgliedschaft in der EU heben besonders die strategische Bedeutung der Türkei hervor. Der Türkei als Nachbarland der »energiereichsten Regionen der Erde« komme eine »zentrale Rolle bei der Sicherung der Energieversorgung« zu. Die Türkei habe außerdem die Fähigkeit, »einen signifikanten Beitrag zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu leisten«, so die Ausführungen in einem gesonderten EU-Kommissionsbericht zu den Auswirkungen einer Türkei-Mitgliedschaft für die EU.
Auch auf die Fähigkeiten und die Erfahrungen des türkischen Militärs bei der Aufstandsbekämpfung greifen die EU-Militärs zukünftig sicher gerne zurück. Bereits jetzt ist der türkische Teil Kurdistans militärisches Aufmarschgebiet der NATO. Der Aufbau eigener EU-Streitkräfte, die weltweit einsetzbar sind, um die ökonomischen und strategischen Interessen der EU zu »verteidigen«, ist eines der wesentlichen Ziele des weiteren Auf- und Ausbauprozesses der EU. Da der Nahe Osten zur unmittelbaren Interessenregion der EU gehört, wird der türkische Teil Kurdistans zum militärischen Vorposten der EU-Streitmacht ausgebaut werden. Von der, gerade von kurdischer Seite immer wieder geforderten, Entmilitarisierung der kurdischen Gebiete wird nicht die Rede sein.
Die Spaltung Kurdistans, wie sie durch die imperialistische Gebietsaufteilung und Grenzziehung am Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte, wird außerdem durch einen EU-Beitritt der Türkei weiter verfestigt. Die geopolitische wie ökonomische Dimension einer EU-Mitgliedschaft der Türkei führt zu einer weiteren tiefen Trennung von den anderen Teilen Kurdistans in Syrien, dem Irak und dem Iran. Lösungsansätze der kurdischen Frage, die alle Teile Kurdistans einbeziehen, werden zukünftig noch schwerer umsetzbar sein bzw. praktisch verunmöglicht. Fortschrittliche Ansätze wie die Diskussion um eine »sozialistische Föderation im Nahen Osten« oder eine grenzüberschreitende »Konföderation«, wie sie Abdullah Öcalan als Lösungsalternative vorgeschlagen hat, werden vor neuen Hürden stehen, da die EU einen festen ökonomischen und militärischen Bündnisblock bildet.
Hauptanliegen der EU-Erweiterung ist die Öffnung neuer Märkte für das westeuropäische Kapital. Wirtschaftliche Vorteile hätten vor allem die bisherigen EU-Staaten von einem Beitritt der Türkei. Es wird insbesondere erwartet, dass sich die Rahmenbedingungen für die Investitionen europäischer Firmen in der Türkei noch weiter verbessern würden. Bereits jetzt sind deutsche Investoren in der Türkei vor allem an den niedrigen Lohnkosten interessiert. So werden in der Autoindustrie z.B. ein Drittel niedrigere Löhne als in der BRD bezahlt.
Profitieren will man selbstverständlich auch vom zusätzlichen innertürkischen Lohngefälle von West nach Ost und den billigen Binnenflüchtlingen aus Kurdistan, die z.B. in der Baubranche und im Tourismussektor die untersten Einkommensschichten bilden. Eine dauerhafte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der kurdischen Bevölkerung würde dagegen eine Einschränkung der Ausbeutungsmöglichkeiten bedeuten und steht deshalb auch nicht ernsthaft auf dem Türkei-Beitrittsplan. Im Gegenteil, gerade auch in der Türkei würden sich die regionalen Einkommensunterschiede weiter vergrößern. Das untere Ende des Armutsgefälles würden weiterhin die kurdischen Gebiete bilden.
Auch für die kurdische Landwirtschaft ist ein Vorteil durch die EU-Mitgliedschaft nicht zu erkennen. Die Agrar- und Strukturpolitik der EU kommt den multinationalen Konzernen zugute und nicht den arbeitenden Menschen in der Türkei. Kleine Landwirtschaftsbetriebe, wie sie vor allem in den Dörfern Kurdistans zu finden sind, werden an die Wand gedrückt werden, wie dies auch in Polen im Zusammenhang des EU-Beitritts geschehen ist. Schon heute spricht man EU-intern von »Schockeffekten« für die Landwirtschaft in der Türkei, wenn es tatsächlich zum Beitritt kommt.
Fraglich ist, wie unter solchen Bedingungen für die geforderte Rückkehr in die vom Militär zerstörten oder geräumten Dörfer für die Rückkehrer eine neue Existenzsicherung in der Landwirtschaft aufgebaut werden kann. Die bäuerlichen Produktionsbedingungen in den Dörfern Kurdistans widersprechen diametral den EU-Agrarmarktanforderungen. Es ist deshalb eher mit einer zusätzlichen neuen Landflucht zu rechnen.

Solidarische Alternativen

Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklungen wird deutlich, dass ein EU-Beitritt der Türkei aus kurdischer Sicht keinen Anlass zu Optimismus bietet. Es wird vielmehr darauf ankommen, eine enge Verbindung zu den EU- und globalisierungskritischen sozialen Basisbewegungen in Europa herzustellen, um gemeinsam gegen die neoliberale Ausrichtung und Kriegs- und Expansionspolitik der EU Widerstand zu leisten. In diesem Sinne war die Teilnahme kurdischer Organisationen am Europäischen Sozialforum in London ein Schritt in die richtige Richtung. Die Forderung nach entsprechender Zusammenarbeit kann jedoch nicht einseitig bleiben.
Auch die europäische und insbesondere die deutsche Linke hat die kurdische Frage anlässlich des EU-Erweiterungsprozesses in einer umfassenderen Form aufzugreifen. Es geht längst nicht nur um »Solidarität mit den kurdischen Genossinnen und Genossen«, sondern die kurdische Frage wird mit dem EU-Beitritt der Türkei auch eine eigene Sache der europäischen Linken, der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Der Kampf um umfassende gleiche demokratische und soziale Rechte auf antifaschistischer und antirassistischer Basis in allen Teilen der EU muss die Grundlage der zukünftigen Zusammenarbeit sein. In diesem Zusammenhang müssen dann auch neue praktische Projekte zur Unterstützung der Menschen in Kurdistan entwickelt werden, damit die Alternative zum kapitalistischen Projekt Europa für die Menschen in Kurdistan auch konkret erfahrbar wird.

Brigitte Kiechle/Abdullah Polat

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