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Der Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, begrüßte den
EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei dessen Besuch im September 2004 in Kurdistan mit den
Worten: »Lieber Herr Verheugen, willkommen im größeren Europa.« Der Bürgermeister
der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt brachte deutlich zum Ausdruck, dass er sich eine EU-Mitgliedschaft
der Türkei wünscht und damit »eine bessere Zukunft« verbindet. Eine Hoffnung, die viele
Menschen in Kurdistan teilen.
Viele glauben an eine Verbesserung der Menschenrechtslage und erwarten einen wirtschaftlichen
Aufschwung, der auch Kurdistan erfasst und zu einer generellen Verbesserung der Lebensumstände der
kurdischen Bevölkerung führen wird. Auch Leyla Zana machte bei ihrer Rede vor dem
Europäischen Parlament im Oktober 2004 deutlich, dass sie die Lösung der kurdischen Frage mit
einer europäischen Perspektive für die Türkei verbindet. Die Kritik am langsamen und noch
ungenügenden »Reformprozess« in der Türkei und ihre Forderung an die EU, der kurdischen
Frage mehr Aufmerksamkeit im Rahmen des Beitrittsprozesses zu widmen, änderten nichts an ihrer
grundsätzlich positiven Bezugnahme auf den EU-Beitrittsprozess der Türkei.
Als Voraussetzungen für einen Beitritt
hatte die EU 1993 auf dem Europäischen Rat die sog. Kopenhagener Kriterien formuliert. Diese legen vor
allem die wirtschaftlichen Voraussetzungen eines Türkei-Beitritts fest, verpflichten die Türkei
zur Umsetzung neoliberaler Vorstellungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. In der Praxis bedeutet
dies Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und sozialer Dienstleistungen, Abbau von
Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten.
Wie man sich zum kapitalistischen EU-Projekt
verhält, ist bei den türkischen und türkisch-kurdischen Linken umstritten. Die
kommunistischen Parteien treten dem Türkei-Beitritt entgegen und fordern zum Widerstand auf. Abdullah
Öcalan vertritt die Auffassung, dass sich die Kurden nicht auf die EU verlassen und ihre Forderungen
quasi delegieren dürfen. Es sei vielmehr notwendig, weiterhin eine eigenständige Politik zu
verfolgen, die eine demokratische und fortschrittliche Alternative für die Kurden und die gesamte
Türkei eröffnet. Andere linke Organisationen wie z.B. die ÖDP oder die kurdische DEHAP
stehen dem Beitritt der Türkei in die EU zwar kritisch gegenüber, stellen sich aber nicht
grundsätzlich gegen den Beitrittsprozess. Sie sehen darin vor allem eine Chance für einen
demokratischen Wandel.
Ausgeblendet wird dabei die Tatsache, dass
gerade die EU-Kernstaaten, allen voran die BRD, in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen haben, die
Verhältnisse in der Türkei zu festigen und durch finanzielle Unterstützung und
Waffenlieferungen den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung hinsichtlich Intensität und Dauer
überhaupt führbar gemacht haben. Die Tatsache, dass in den bisherigen Mitgliedsländern der
EU mit der inhaltlichen und organisatorischen Erweiterung der EU ein massiver Abbau demokratischer Rechte
einher geht, wird praktisch nicht thematisiert. Zurückgestellt wird auch die Frage, wer letztlich vom
EU-Beitritt der Türkei in der Türkei und der EU profitiert und welche sozialen Auswirkungen dies
auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hat.
Die Menschen in Kurdistan wollen endlich in Frieden und Sicherheit leben. Alle Bemühungen von
kurdischer Seite, zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage zu kommen, haben bisher nicht zum
Erfolg geführt. Auf diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass die Beitrittsverhandlungen für
eine EU-Aufnahme der Türkei von kurdischer Seite als Strohhalm aufgegriffen werden, um die kurdische
Frage wieder in das Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit zu rücken.
Die EU hat beschlossen, Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei aufzunehmen. Die Gespräche sollen nun am 3.Oktober 2005 beginnen. Innerhalb der EU
stehen sich zwei Fraktionen bezüglich der weiteren Haltung zum Türkei-Beitritt gegenüber,
die man an der BRD-Situation gut aufzeigen kann. Die CDU tritt weiterhin für eine »privilegierte
Partnerschaft« mit der Türkei ein. Der Hinweis auf »europäischen Werte« und die
»europäische christliche Kulturgemeinschaft« werden ins Feld geführt, um die EU-
Erweiterung Richtung Türkei abzulehnen.
Auch auf die ungelöste kurdische Frage
und die Minderheitenpolitik der Türkei wird von konservativer Seite plötzlich hingewiesen. SPD
und Grüne verweisen auf die guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei, loben
die Türkei als verlässlichen Bündnispartner. Der Türkei wird in diesem Zusammenhang
bestätigt, sie habe in den letzten Jahren große Fortschritte in der Menschenrechtsfrage gemacht
und sei mit dem eingeleiteten Reformprozess auf dem richtigen Weg. Druck gemacht wird gegenüber der
Türkei vor allem dahingehend, den neoliberalen Anpassungsprozess an die EU-Vorgaben zu beschleunigen.
Die kurdische Frage dient in diesem
Zusammenhang als zusätzliches Druckmittel. In Übereinstimmung mit dem Unternehmerlager hofft man
auf einen baldigen Beitritt der Türkei. Die kurdische Frage wird von allen Fraktionen letztlich nur
für die eigenen Interessen instrumentalisiert. Zu glauben, die EU sei ernsthaft an einer Lösung
der kurdischen Frage im Interesse der kurdischen Bevölkerung interessiert und dies sei eine
Voraussetzung für den EU-Beitritt, gehört in den Bereich der Illusion. Gleichwohl ist es richtig,
den Beitrittsprozess von kurdischer Seite aus taktisch auszunutzen und die eigenen Forderungen in die
Verhandlungen einzubringen.
Voraussetzung dafür, sich nicht selbst zur Verhandlungsmasse degradieren zu lassen und/oder im
kapitalistischen Europa politisch zu kapitulieren, ist jedoch eine umfassende Einschätzung der
Auswirkungen eines Türkei-Beitritts auf die Möglichkeiten eines zukünftigen
Gestaltungsspielraums für linke und basisdemokratische Politik. Folgende Gesichtspunkte sind dabei zu
berücksichtigen:
Mit einem Türkei-Beitritt zur EU wird die
Grenze im Osten der Türkei zur Grenze der Festung Europa. Die Flüchtlingsabwehr wird somit weit
nach Kleinasien verschoben. Unter zahlenmäßigen Aspekten richtet sich die Flüchtlingsabwehr
unmittelbar gegen die kurdischen Flüchtlinge der Anrainerstaaten. Das militärische Grenzsystem
zur Verhinderung der Zuwanderung von Flüchtlingen nach Europa wird mit massiver Grenzüberwachung
bis weit in das türkisch-kurdische Hinterland hinein verbunden sein. Dies bedeutet eine weitere
Zunahme der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung in der Grenzregion.
Unabhängig davon bedeutet ein EU-Beitritt
der Türkei die Einordnung der Türkei als sicheres Hinterland für Kerneuropa.
Flüchtlinge aus der Türkei bzw. Türkei-Kurdistan wird es somit per Definition nicht mehr
geben.
Die Befürworter einer Türkei-
Mitgliedschaft in der EU heben besonders die strategische Bedeutung der Türkei hervor. Der Türkei
als Nachbarland der »energiereichsten Regionen der Erde« komme eine »zentrale Rolle bei der
Sicherung der Energieversorgung« zu. Die Türkei habe außerdem die Fähigkeit,
»einen signifikanten Beitrag zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu
leisten«, so die Ausführungen in einem gesonderten EU-Kommissionsbericht zu den Auswirkungen
einer Türkei-Mitgliedschaft für die EU.
Auch auf die Fähigkeiten und die
Erfahrungen des türkischen Militärs bei der Aufstandsbekämpfung greifen die EU-Militärs
zukünftig sicher gerne zurück. Bereits jetzt ist der türkische Teil Kurdistans
militärisches Aufmarschgebiet der NATO. Der Aufbau eigener EU-Streitkräfte, die weltweit
einsetzbar sind, um die ökonomischen und strategischen Interessen der EU zu »verteidigen«,
ist eines der wesentlichen Ziele des weiteren Auf- und Ausbauprozesses der EU. Da der Nahe Osten zur
unmittelbaren Interessenregion der EU gehört, wird der türkische Teil Kurdistans zum
militärischen Vorposten der EU-Streitmacht ausgebaut werden. Von der, gerade von kurdischer Seite
immer wieder geforderten, Entmilitarisierung der kurdischen Gebiete wird nicht die Rede sein.
Die Spaltung Kurdistans, wie sie durch die
imperialistische Gebietsaufteilung und Grenzziehung am Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte, wird
außerdem durch einen EU-Beitritt der Türkei weiter verfestigt. Die geopolitische wie
ökonomische Dimension einer EU-Mitgliedschaft der Türkei führt zu einer weiteren tiefen
Trennung von den anderen Teilen Kurdistans in Syrien, dem Irak und dem Iran. Lösungsansätze der
kurdischen Frage, die alle Teile Kurdistans einbeziehen, werden zukünftig noch schwerer umsetzbar sein
bzw. praktisch verunmöglicht. Fortschrittliche Ansätze wie die Diskussion um eine
»sozialistische Föderation im Nahen Osten« oder eine grenzüberschreitende
»Konföderation«, wie sie Abdullah Öcalan als Lösungsalternative vorgeschlagen hat,
werden vor neuen Hürden stehen, da die EU einen festen ökonomischen und militärischen
Bündnisblock bildet.
Hauptanliegen der EU-Erweiterung ist die
Öffnung neuer Märkte für das westeuropäische Kapital. Wirtschaftliche Vorteile
hätten vor allem die bisherigen EU-Staaten von einem Beitritt der Türkei. Es wird insbesondere
erwartet, dass sich die Rahmenbedingungen für die Investitionen europäischer Firmen in der
Türkei noch weiter verbessern würden. Bereits jetzt sind deutsche Investoren in der Türkei
vor allem an den niedrigen Lohnkosten interessiert. So werden in der Autoindustrie z.B. ein Drittel
niedrigere Löhne als in der BRD bezahlt.
Profitieren will man selbstverständlich
auch vom zusätzlichen innertürkischen Lohngefälle von West nach Ost und den billigen
Binnenflüchtlingen aus Kurdistan, die z.B. in der Baubranche und im Tourismussektor die untersten
Einkommensschichten bilden. Eine dauerhafte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der kurdischen
Bevölkerung würde dagegen eine Einschränkung der Ausbeutungsmöglichkeiten bedeuten und
steht deshalb auch nicht ernsthaft auf dem Türkei-Beitrittsplan. Im Gegenteil, gerade auch in der
Türkei würden sich die regionalen Einkommensunterschiede weiter vergrößern. Das untere
Ende des Armutsgefälles würden weiterhin die kurdischen Gebiete bilden.
Auch für die kurdische Landwirtschaft ist
ein Vorteil durch die EU-Mitgliedschaft nicht zu erkennen. Die Agrar- und Strukturpolitik der EU kommt den
multinationalen Konzernen zugute und nicht den arbeitenden Menschen in der Türkei. Kleine
Landwirtschaftsbetriebe, wie sie vor allem in den Dörfern Kurdistans zu finden sind, werden an die
Wand gedrückt werden, wie dies auch in Polen im Zusammenhang des EU-Beitritts geschehen ist. Schon
heute spricht man EU-intern von »Schockeffekten« für die Landwirtschaft in der Türkei,
wenn es tatsächlich zum Beitritt kommt.
Fraglich ist, wie unter solchen Bedingungen
für die geforderte Rückkehr in die vom Militär zerstörten oder geräumten
Dörfer für die Rückkehrer eine neue Existenzsicherung in der Landwirtschaft aufgebaut werden
kann. Die bäuerlichen Produktionsbedingungen in den Dörfern Kurdistans widersprechen diametral
den EU-Agrarmarktanforderungen. Es ist deshalb eher mit einer zusätzlichen neuen Landflucht zu
rechnen.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Entwicklungen wird deutlich, dass ein EU-Beitritt der Türkei
aus kurdischer Sicht keinen Anlass zu Optimismus bietet. Es wird vielmehr darauf ankommen, eine enge
Verbindung zu den EU- und globalisierungskritischen sozialen Basisbewegungen in Europa herzustellen, um
gemeinsam gegen die neoliberale Ausrichtung und Kriegs- und Expansionspolitik der EU Widerstand zu leisten.
In diesem Sinne war die Teilnahme kurdischer Organisationen am Europäischen Sozialforum in London ein
Schritt in die richtige Richtung. Die Forderung nach entsprechender Zusammenarbeit kann jedoch nicht
einseitig bleiben.
Auch die europäische und insbesondere die
deutsche Linke hat die kurdische Frage anlässlich des EU-Erweiterungsprozesses in einer umfassenderen
Form aufzugreifen. Es geht längst nicht nur um »Solidarität mit den kurdischen Genossinnen
und Genossen«, sondern die kurdische Frage wird mit dem EU-Beitritt der Türkei auch eine eigene
Sache der europäischen Linken, der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Der Kampf um
umfassende gleiche demokratische und soziale Rechte auf antifaschistischer und antirassistischer Basis in
allen Teilen der EU muss die Grundlage der zukünftigen Zusammenarbeit sein. In diesem Zusammenhang
müssen dann auch neue praktische Projekte zur Unterstützung der Menschen in Kurdistan entwickelt
werden, damit die Alternative zum kapitalistischen Projekt Europa für die Menschen in Kurdistan auch
konkret erfahrbar wird.
Brigitte Kiechle/Abdullah Polat
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