SoZSozialistische Zeitung |
Seit Voltaire kürt die intellektuelle Welt in Frankreich
»große Schriftsteller« wahlweise als Vertreter des nationalen Gewissens, Verteidiger
einer großen Sache, Freiheitskämpfer, Widerstandskämpfer gegen Unterdrückung und
Tyrannei.
Victor Hugo symbolisierte die Opposition gegen das Zweite Kaiserreich, er kämpfte gegen die
Todesstrafe, setzte sich für die Sache Garibaldis ein, verteidigte John Brown, träumte von einem
Europa der Genies und der Freiheit und rief Paris zur Hauptstadt der Völker aus. Auf ihn folgte Emile
Zola, Kopf der Kampagne für Dreyfus, auf ihn Anatole France, der Sozialist geworden war und trotz
Nobelpreis die russische Revolution begrüßte. André Gide nach ihnen hatte schon nicht mehr
dieselbe Statur. Der Rückgang der Revolution in der UdSSR löschte diese Tradition. Nach dem
Zweiten Weltkrieg schied die Zweiteilung der Welt die Intelligenz in zwei Lager, das eine so kompromittiert
wie das andere. Jede ehrenwerte Sache, die gegen das eine verteidigt wurde, wurde in den Schmutz gezogen
durch die Mängel desjenigen, auf das man sich stützte. Keine Rede mehr vom Bewusstsein, das sich
über die Lage der Klasse erhob. Konnte Sartre die Rolle ausfüllen, zu einer Zeit, wo Louis Aragon
und André Malraux zu stark gezeichnet waren, der eine von seiner Mitgliedschaft in der KP, der andere
vom aufsteigenden Gaullismus?
Für eine ganze Schicht jugendlicher
Intellektueller, die sich von der Résistance angezogen fühlte, konnte Sartre als jemand
erscheinen, der über dem Streit stand. Er umgab sich mit der unentbehrlichen Aura der Résistance,
obgleich bei näherem Hinsehen oberflächlich und obwohl seine Anprangerung der Tyrannei in den
Fliegen der Zweideutigkeiten nicht entbehrte. Plötzlich fand er sich von beiden Seiten angegriffen,
fand gleichlautende Bezichtigungen der Unmoral gegen ihn gerichtet, die ihm nützten, als es galt, die
moralische Ordnung des Vichy-Regimes hinter sich zu lassen.
Sein literarisches Vorkriegswerk war
unbeachtet geblieben. Es wurde erst später gelesen. Das Sein und das Nichts hatte wenige Leser, und
nur Berufsphilosophen kannten dessen Wurzeln bei Husserl und Heidegger. Niemandem schien der Widerspruch
aufzufallen zwischen der Behauptung, der »Existenzialismus [sei] ein Humanismus« und dem
»Ekel«, der sein Werk durchtränkt. Sein Denken bewegte sich in einem labilen Gleichgewicht
zwischen schwarzem Menschenhass und der übersteigerten Spannung existenzieller Freiheit; es stand
damit in perfekter Übereinstimmung mit dem Pessismus einer Generation, die die Besetzung, nach den
raschen Desillusionierungen der Libération, angeekelt hinter sich gelassen hatte. Sartre bot die
Utopie eines rein persönlichen »Engagements« ohne eine andere Verantwortung als die gegen
sich selbst. »Wir mussten der Nachkriegszeit eine Ideologie geben«, schreibt Simone de Beauvoir
in In den besten Jahren. Das konnte Sartre liefern… weniger als zehn Jahre hindurch.
Dem sartreschen Gleichgewicht, am Rande der sozialen und politischen Bipolarität, fehlten nicht die
Stolpersteine. Hatte er nicht Anfang 1945 eine offizielle Einladung des US-Außenministeriums zu einer
zweimonatigen Reise in die USA angenommen, um wenig später in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift
Les Temps Modernes Balzac, Flaubert und Proust wegen »Nicht-Engagements« zu geißeln
eine literarische Ästhetik, die ihn in arge Nähe zum »sozialistischen Realismus«
brachte?
Es war Michel Leiris, damals ein enger Freund
von Sartre und einer der ersten Redakteure von Les Temps Modernes, der im Dezember 1947 in seinem Journal
gut die Situation umschrieb, in der sie damals lebten: »Widerspruch, in dem ich mich befinde. In der
Innenpolitik, kann ich sagen, bin ich im Großen und Ganzen mit der Arbeiterklasse solidarisch. In der
Außenpolitik fühle ich mich den Angelsachsen (mindestens den Engländern) weit mehr verbunden
als den Russen. Das wäre noch gar nichts, auch wenn diese doppelte Sympathie in einer Welt, die als in
zwei Blöcke gespalten beschrieben wird, etwas Unbequemes haben kann: auf der einen Seite der
amerikanische (oder kapitalistische) Block, auf der anderen Seite der russische (oder proletarische) Block.
Bei näherem Hinsehen wird der Widerspruch noch auf die Spitze getrieben: Wenn ich mich von England
angezogen fühle, dann weil dieses Land für mich Symbol für eine gewisse Lebensart ist,
untrennbar verbunden mit einem gewissen Lebensstandard … Ein Lebensstandard der, wie man es auch
dreht und wendet, die Zustimmung zu bestimmten, strikt bürgerlichen Werten impliziert: und sei es nur
jener Begriff der Ehre, den man zum Beispiel in den Romanen von Joseph Conrad findet. Der Teufelskreis wird
perfekt, wenn ich zum Abschluss hinzufüge, dass es eben jener ›Ehrenkodex‹ ist, der
bewirkt, dass ich meine, mich von der Arbeiterklasse nicht entsolidarisieren zu können, selbst wenn
die Kommunisten sie in Fehler führen.«
Sartre gibt es nicht zu, aber es ist eben
jenes Unverständnis der politischen und sozialen Realitäten, verbrämt von zwei
dominierenden, einander entgegengesetzten Ideologien, welche die Schwankungen seiner eigenen kleinen
Ideologie als idealistischer Philosoph erklärt.
Horkheimer in New York hatte es abgelehnt, ihn
zu treffen; er sagte zu Norbert Guterman, das sei »ein Ganove« und »ein Erpresser in der
Welt der Philosophie«. In Paris denunzierten die Intellektuellen der KP seine »metaphysische
Pathologie«. Jean Kanapa, der sein Schüler gewesen war, enthüllte dass dieser
Schriftsteller, »der alles gelesen hat«, Marx nicht gelesen hat. Umso weniger hatte er Trotzki
gelesen. Diese Ignoranz erklärt seine beständige Gleichsetzung von Marxismus und Kommunismus mit
dem Stalinismus. Auch seine verachtende Zurückweisung des Trotzkismus, den er in altem Hass, sichtbar
seit Die Mauer, mit dem Surrealismus verband.
Mit dem Ende der in Jalta und Potsdam
geschmiedeten Heiligen Allianz trieb ihn sein Wunsch, »an der Seite der Arbeiterklasse zu
stehen«, zu einer ersten »realpolitischen« Rechtfertigung des Stalinismus. 1948 ist in Die
schmutzigen Hände der Stalinist Hoederer der wahre Revolutionär, der als Realist akzeptiert, sich
die Hände schmutzig zu machen, während Hugo als unverbesserlicher Idealist dargestellt wird, ein
»Romantiker«. Im selben Sinne ist La Mort dans lAme geschrieben: der Stalinist Brunet ist
die wirklich »positive Person« im Roman, während der Existenzialist Mathieu (ein Double von
Sartre) sinnlos für eine Sache stirbt, an die er nicht glaubt. Übrigens lässt sich an diesem
Schluss des 3.Bands von Die Wege der Freiheit die Ursache selbst erkennen, weshalb das Werk unvollendet
blieb: Unbewusst mündet es in die existenzielle Sackgasse des sartreschen Existenzialismus.
Sartre sucht nach einem dritten Weg zwischen
den Supermächten. Er wird meinen, den Generalstab dafür unter den Intellektuellen, den verlorenen
Soldaten der Résistance, des Trotzkismus, der sozialistischen Linken gefunden zu haben: Claude
Bourdet, David Rousset, Gilles Martinet. Die Gruppe nennt sich Rassemblement démocratique
révolutionnaire (RDR). Doch unter dem Eindruck des Kalten Kriegs schwenkte das RDR, das zahlreiche
ehemalige Halbstalinisten zählt, plötzlich zu einem radikalen Antistalinismus und suchte
Unterstützung, auch finanzielle, bei den US-amerikanischen Gewerkschaften. Sartre wandte sich von der
Gruppe ab, sie löste sich auf. Sie hatte keine zwei Jahre überdauert.
Nach seinem Rückzug auf das Feld der Literatur wird Sartre von der KP umworben. Für eine neue
Phase von über zehn Jahren ist er jetzt »der Weggefährte« Nr.1. Die großen
antititoistischen Schauprozesse in den osteuropäischen Ländern lassen ihn stumm. Der Tod Stalins
beseitigt bei ihm letzte Zweifel, sofern er noch welche hatte. 1954 unternimmt er die obligate Reise in die
Sowjetunion, staunt, wie es üblich ist, und geht selbst soweit, die alsbaldige Überholung des
französischen Lebensstandards vorauszusagen.
Wird ihm die ungarische Revolution 1956 die
Augen öffnen? Er hat die erste sowjetische Intervention verurteilt, darüber vergessen seine
Schmeichler heute, dass er die zweite begrüßte. Er rechtfertigte das im Artikel »Stalins
Phantom« in der Dezember-Januar-Ausgabe 1956/57 von Les Temps Modernes. Darin lieferte er eine
theoretische Begründung für seine Unterstützung des Stalinismus: »Es gab keinen anderen
Sozialismus, außer im platonischen Himmel.« Damals schreibt er Nekrassow, ein offen
stalinistisches Werk.
Auf diesem Weg verliert er fast alle seine
Freunde aus den ersten Jahren von Les Temps Modernes. Doch die radikale politische Opposition, die er
einnahm, und die Beziehungen, die er über die Literatur mit führenden Persönlichkeiten der
Dritten Welt knüpfte, ermöglichen schließlich, dass er wieder Fuß fasst, als der
Algerienkrieg ausbricht. Paradoxerweise sind es die Surrealisten, die er stets nur geschmäht hat, im
Bund mit jugendlichen Oppositionellen in der KP, die ihm die Plattform liefern, von der aus er in die
Höhen des »großen französischen Bewusstseins« gehoben werden wird. Jean Schuster,
politischer Sprecher der Surrealistengruppe, und Dionys Mascolo, im Begriff mit dem Stalinismus zu brechen,
sind die beiden Autoren vom ersten Entwurf des »Manifests der 121« für das Recht auf
Kriegsdienstverweigerung im Algerienkrieg. Die Unterschrift Sartres, der mittlerweile internationales
Renommé erlangt hat, mehr durch seine Reisen und Begegnungen u.a. mit Castro, Tito, Mao und
Chruschtschow als durch seine Werke, macht das Manifest zu einer Kriegsmaschine, gegen die die
Repression nicht ankommt; nur Beamte kann sie drangsalieren. Die gesamte Crème der französischen
Intelligenz unterzeichnete damals: André Breton, Nathalie Sarraute, Alain Resnais, Simone Signoret,
Edouard Glissant, Pierre Boulez… Sich hinwegsetzend über das Gekeifere der Presse und aller
Kräfte der Reaktion fand De Gaulle das Wort: »Man kann Voltaire nicht gefangennehmen.« Der
General und Staatspräsident hatte seine Regelung für diesen desaströsen Krieg bereits im
Kopf, bislang ist es noch sein Geheimnis. Dennoch, die Intervention des großen Mannes der Rechten hat
den großen Mann der Linken auf den Thron gehoben.
Einige Jahre lang trägt Sartre diesen
Ehrenpurpur. Das ist seine dritte Periode, die kürzeste. Er schreibt ein Vorwort zu Frantz Fanon und
zu Paul Nizan, die von François Maspéro neu aufgelegt werden. Er macht sich zum Champion der
Revolutionen in der Dritten Welt. Er schreibt Die Worte, eine Art kurzer Autobiografie seiner Entwicklung,
die seine Prägung durch die Kindheit beschreibt. Es ist ohne Zweifel sein bestes Buch.
Von seinen unlösbaren Widersprüchen erholt er sich nicht mehr. Einerseits akzeptiert er,
sowjetische Dissidenten zu unterstützen, dann wieder sorgt er unter tschechischen Studierenden
für Skandal, weil er den »sozialistischen Realismus« verteidigt. Die Studierenden hatten
nicht gemerkt, dass dies die Ästhetik aller seiner literarischen Schöpfungen nach dem Krieg war.
1968, dessen studentische Akteure Marxisten
oder Libertäre sind, beginnt sein politischer und theoretischer Niedergang, begleitet vom
körperlichen Verfall. An die Stelle seiner stalinistischen oder mit dem Stalinismus sympathisierenden
Weggefährten (mehr oder weniger Parasiten) treten einige maoistische Abenteurer, Parasiten auch sie,
die sich seiner als Schutzschild bedienen. Es lässt es mit sich machen. In diesen letzten Jahren
konzentriert er sich auf die Niederschrift von Der Idiot der Familie, ein unvollendetes Monsterwerk, das
sicher auch nicht zu vollenden ist, über seine Hassliebe zu Flaubert.
Dem Anschein zum Trotz ist Sartre am Ende,
sein Mythos schläft ein und wird erst posthum wieder erweckt, erst in unserer Zeit, die das Scheitern
der »Neuen Philosophen« und kulturelle Umbrüche bringt.
Sein letztes theoretisches Werk, die Kritik
der dialektischen Vernunft, sollte der Schlussstein seines entscheidenden Beitrags zum Denken seiner Zeit
sein es wurde ein weiteres Monster. Er hat darin die Theorie aufgestellt, es gebe in einer Epoche
lediglich eine einzige Philosophie Kant z.B. am Ende des 18.Jahrhunderts. Er wollte gern Marx als
Philosophen des 20.Jahrhunderts akzeptieren, aber korrigiert durch Sartres Existenzialismus. Er hat vom
historischen und dialektischen Materialismus nichts verstanden. Ihm dies zu beweisen, dazu reichte
Althusser im Jahr 1966, bei einer Debatte an der Ecole Normale. Der Existenzialismus ist nicht mehr
geworden als eine parasitäre Ideologie des orientierungslosen Kleinbürgertums zur Zeit der
Blockspaltung.
Bezeichnenderweise bleibt nichts von der
Literatur, die er schrieb. Von seinen Theaterstücken werden nur noch die beiden Stücke aus der
Kriegszeit aufgeführt, vor allem Geschlossene Gesellschaft. Von den Prosastücken liest man nur
noch Die Worte und Der Ekel. Die Zeit wird wieder Ordnung in die Hierarchie der französischen
Literaturwerte bringen und dem zum Recht verhelfen, dem Sartre sich widersetzt hat. So Boris Vian, der aus
der Redaktion von Les Temps Modernes vertrieben wurde; in den 70er Jahren wurde er »entdeckt« und
ist einer der beliebtesten Autoren der Jugend geworden. Jean Malaquais hat einst mit Les Javanais den Prix
Renaudot gegen Sartres Mauer gewonnen. Sein späteres Werk Planète sans visa wurde dann regelrecht
verschwiegen. Heute steht er wieder in der hohen Achtung, die er verdient. Und das sind nur Beispiele.
Michel Lequenne
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