SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 24

AZ 1955—1969

Die etwas andere Zeitung

Die Geschichte und Gegenwart der deutschen Linken kennt viele Zeitungen/Zeitschriften. Mehr noch als bei bürgerlichen Zeitungen/Zeitschriften ist allerdings die Zeitungs- und Zeitschriftenvielfalt auf der politischen Linken nicht nur dem journalistischen Charakter geschuldet — Tages-, Wochen- oder Monatszeitung, Massen- oder Minderheitenorgan, mehr theoretisch oder praktisch, informierend oder agitatorisch etc. —, sondern ein politisch-theoretisches Muss, da es ihr bekanntlich weniger um die Bestätigung des Status quo, sondern um dessen emanzipative Überwindung geht. So spiegelt sich in der linken Strömungs- und Zeitschriftenvielfalt gerade die Problemvielfalt politischer Strategien des Übergangs: Übergang wohin und mit welchen Mitteln und Methoden? Eine Zeitung für die Linke zu fordern, ist deshalb ebenso blauäugig wie die Forderung nach einer politischen Organisation für alle Linken.
Trotzdem: Gerade diese unentbehrliche Vielfalt linker Publizistik lässt die gleichfalls politisch-strategische Frage aufkommen, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln diese Vielfalt zu einer mehr oder weniger übergreifenden Diskussion zu gelangen denkt.
Es zeichnet die Situation der deutschen Linken in Geschichte und Gegenwart aus, dass von einer solchen strömungsübergreifenden Diskussion nur in den seltensten Fällen die Rede sein kann. Hier stehen sich sozialdemokratische und parteikommunistische Linke, linksbürgerliche und linkssozialistische Linke, Radikaldemokraten und Nonkonformisten, politische und kulturelle Linke weitgehend getrennt und gettoisiert gegenüber. Und in den seltenen historischen Fällen, wo sie gemeinsam diskutiert haben, schlug sich dies kaum auf deren Publizistik nieder. Umso eher sind gerade solche Versuche erinnernswert, denn auch, wenn sie im »kollektiven Gedächtnis« der Linken bemerkenswert verdrängt sind, es hat sie — in unterschiedlicher Form — immer wieder gegeben. Der wohl interessanteste und umfangreichste Versuch einer strömungsübergreifenden Zeitung war dabei Die Andere Zeitung, die fast 14 Jahre, vom Mai 1955 bis zum Februar 1969 als Wochenzeitung in Hamburg erschien, ihren strömungsübergreifenden Charakter jedoch nur in den ersten ca. drei bis vier Jahren ihrer Existenz zu bewahren vermochte.
Dass die AZ in ihren ersten Jahren das wirkliche Zentrum eines nonkonformistischen (west-)deutschen Sozialismus wurde, das hatte vor allem mit der politischen Konjunktur zu tun. Zwar waren die tief greifenden Niederlagen der ebenso ökonomischen wie politischen Klassenkämpfe des ersten Nachkriegsjahrzehnts in einem nachhaltigen Anpassungsprozess der großen Arbeiterorganisationen SPD und DGB geendet, doch gerade diese Anpassungsprozesse führten auch zu einer massiven Dissidenzbewegung aus deren Reihen, die zudem von einem Aufschwung auch der internationalen Klassenkämpfe begleitet wurde. Der Prozess der antikolonialen Revolutionen bekam durch die Konferenz von Bandung im April 1955 Auftrieb, als der dissidente Kommunist Tito (Jugoslawien) mit den antikolonialen Befreiungsnationalisten Nasser (Ägypten) und Nehru (Indien) die Organisation der blockfreien Staaten jenseits der beiden Machtblöcke in Ost und West begründeten. Und in der so genannten zweiten Welt, den »kommunistischen« Ostblockstaaten, setzte sich nach Stalins Tod 1953 langsam aber sicher eine Periode des »Tauwetters« durch, eine Ära der Entstalinisierung, die alte linke Hoffnungen auf eine Selbstreformation des bürokratischen Herrschaftssystems nicht nur im Osten, sondern ebenso im Westen Europas weckte.
Der ganze aufgestaute Unmut westdeutscher Radikal- und Sozialdemokraten sowie der heimatlos gewordenen Linkssozialisten innerhalb der und um die SPD und Gewerkschaften herum, fand nun neue institutionelle Kanäle — nicht in Form neuer Organisationen, sondern in Form neuer Zeitschriftenprojekte. Ende 1954 wurde die Monatszeitung SOPO, die Sozialistische Politik gegründet, in der Trotzkisten und Linkssozialisten (u.a. Wolfgang Abendroth, Erich Gerlach und Peter von Oertzen) am linken Rand der SPD zusammenarbeiteten. Im März 1956 erschien die erste Ausgabe der von Viktor Agartz geleiteten, ebenfalls monatlichen WISO, der Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Und im Mai 1955 erschien erstmals die 16-seitige Wochenzeitung Die Andere Zeitung.
Es gelang den beiden Herausgebern und Chefredakteuren Gerhard Gleissberg und Rudolf Gottschalk — beide bis dahin langjährig leitende Redakteure des sozialdemokratischen Zentralorgans Vorwärts, die wegen der zunehmenden Anpassungspolitik der SPD zurücktraten — nicht nur, mit Wolfgang Abendroth, Viktor Agartz, Theo Pirker, Fritz Baade, Kurt Hiller, Fritz Kief, Leo Kofler, Rudolf Küstermeier, Walter Möller u.a. die damals namhaftesten Linksintellektuellen Stück für Stück um das Blatt zu sammeln. Sie schafften es auch, diese bunte Mischung zu einem exponierten Blatt der politischen Opposition zu machen, das in hoher Auflage zu einem wirklichen Massenblatt wurde. Startete die erste Ausgabe der neuen Zeitung mit einer Auflage von 18000 Stück, wurde die Auflage bereits bei der zweiten Ausgabe auf 21000 herauf gesetzt. Tendenz steigend. Es gibt durchaus glaubwürdige Hinweise — wenn auch keinerlei gesicherte Zahlen —, dass die Auflage zeitweise bei 50000—80000 Stück gelegen hat.
Der publizistische Erfolg der AZ war gerade auch innerhalb der sozialdemokratischen Parteimitgliedschaft so beträchtlich, dass die SPD- Parteiführung über ihre Publizistik und andere Kanäle von Beginn an eine umfassende Kampagne startete, in der sie der AZ der Finanzierung durch Ostberlin bezichtigte und dieselbe als kommunistische Tarnorganisation denunzierte.
Über die wirklichen politisch- journalistischen Ziele schrieb Gleissberg kurz vor Erscheinen der ersten Ausgabe in einem Brief an Fritz Lamm, sie solle, »kurz gesagt, ein Blatt der deutschen Linken werden. Die Redaktion besteht aus Sozialdemokraten. Auch der Verleger ist Sozialdemokrat. Aber es soll kein Parteiblatt werden, sondern ein Sammelpunkt der Opposition von links (gegen Renazifizierung, Remilitarisierung, Spaltung Deutschlands, Antimarxismus, Kultur-›Mystik‹ und Anti-Aufklärung) ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit.« Und in einem »Gespräch« mit den beiden Chefredakteuren — eine redaktionelle Selbstverständniserklärung existiert nicht — in der ersten Ausgabe vom 12.Mai 1955 ist zu lesen, dass man »eine nach Gehalt und Form neuartige große Wochenzeitung« beabsichtige, der es explizit um die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und implizit um eine Erneuerung der sozialistischen Linken gehe. Dass eine Wiedervereinigung unter neutralistischen Vorzeichen möglich sei, zeige die Bewegung der Blockfreien. Und dass es noch eine Linke gebe, die dies — und weiteres — durchzusetzen habe, zeige die Paulskirchenbewegung. Das bundesdeutsche Leserpublikum lebe »in einer Welt des Als-ob, die ihm den Schein an die Stelle der Wirklichkeit setzt«. Ein großer Teil sehe darüber hinweg, »dass nicht nur nicht alles in Ordnung, sondern im Grunde geradezu nichts wirklich in Ordnung ist. Denn auch dort, wo gute Ansätze waren und Neues begonnen wurde, wurde es fast nie zu Ende geführt. Bruchstück blieb die Mitbestimmung, Bruchstücke blieben Wiedergutmachung und Sozialreform, Bruchstück blieb auch die Schulreform … Es gibt eine Gruppe in der deutschen Bundesrepublik, die sich anschickt, die alleinige Herrschaft, das alleinige Recht der Entscheidung zu erobern. Hier wird in aller Schärfe sichtbar, dass mit unserem viel gepriesenen demokratischen Aufbruch nicht alles in Ordnung ist.«
Die AZ sah sich als »dritte Kraft«, um die im Kalten Krieg erstarrten Fronten aufzulösen, sprach sogar explizit von einer »Neuen Linken«. Sie betonte die eigene Verwurzelung in der Sozialdemokratie, sah aber auch die Notwendigkeit, mit der kommunistischen Bewegung in eine mindestens partielle Aktionseinheit zu kommen. Hatten die Kommunisten nicht schon immer gesagt, dass die SPD nur eine die wahren sozialistischen Interessen verratende Agentur innerhalb des herrschenden Kapitalismus sei? Vertraten sie nicht, wenn schon nicht den gleichen politischen Weg, so doch zumindest dieselben sozialen Ideale? Und wurde nicht gerade deutlich, dass sich die Kommunisten ernsthaft um eine Entstalinisierung bemühten?
War die Nachkriegs-SPD durch die programmatischen Adjektive antifaschistisch, antimilitaristisch, antikapitalistisch und antikommunistisch gekennzeichnet, so blieb die AZ nach dem programmatischen Rollback der SPD den ersten dreien konsequent treu, während sie sich von jenem Antikommunismus deutlich zu distanzieren begann, der immer offensichtlicher nicht nur zur Abwehr einer deutschen Wiedervereinigung, sondern mehr noch zur Abwehr jedweder sozialistischer Bestrebungen instrumentalisiert wurde. Dass mangelnder Antikommunismus ein Indiz für mangelnden Antistalinismus sein kann, aber nicht sein muss, zeigten in der AZ der ersten Jahre vor allem die vielen namhaften Autoren, in erster Linie Kurt Hiller, Fritz Kief und Leo Kofler, die mit ihren regelmäßigen Artikeln teilweise heftige und umfangreiche Debatten auslösten.
Aus dieser historischen und politisch- theoretischen Konstellation ergab sich eine gleichsam natürliche Drift der AZ zu einer Art der Volksfront- und Einheitsfrontpolitik, wie wir sie auch aus den 30er Jahren und den unmittelbaren Nachkriegsjahren kennen. So wie die internationale Linke damals, im Angesicht des sozialistischen und kommunistischen Versagens vor dem aufkommenden Faschismus, über Strategie und Taktik möglicher dritter Wege diskutierte und polemisierte, so diskutierte und polemisierte sie nun, im Angesicht des sozialdemokratischen und kommunistischen Versagens vor der Restauration, erneut die Fragen von Sozialismus und Demokratie, von Volksfront und Einheitsfront.
Und so lassen sich in der AZ ebenso flammende (auch aus anderen Ländern stammende) Plädoyers für eine solche neue Aktionseinheit lesen wie solche dagegen. Überhaupt ist es eine der bemerkenswerten Charakteristika dieser Zeitung, in welchem für heutige Gewohnheiten umfangreichen Maße nicht nur Leser zu Wort kamen, sondern teilweise gegensätzliche Diskussionsbeiträge veröffentlicht wurden — nicht nur auf der Leserbriefseite, sondern gerade auch im redaktionellen Teil. Entsprechend euphorisch feierte bspw. der jedes Stalinismus unverdächtige Fritz Lamm in der linkssozialistischen Monatszeitschrift Funken die Gründung der AZ: Es sei »Wirklichkeit geworden, was uns seit Jahren ein Wunschtraum war. Noch vor wenigen Wochen hatten wir eine so lebendige, wirklichkeitsnahe, sachlich pointierte, spritzig glossierte Wochenzeitung nicht für möglich gehalten. Endlich gibt es eine Zeitung für die Opposition.«
Die zentrale Stärke der AZ, die Tatsache, dass sie in einer Zeit der Neuorientierung oppositioneller Kräfte ein plurales Organ strategischer und taktischer Diskussion war, welches die Brücke zwischen den verschiedenen Strömungen offen zu halten versuchte, wurde zu ihrer Schwäche in dem Moment, als diese Neuformierung scheiterte. Die militärische Niederschlagung der sich aus der Entstalinisierung entwickelnden polnischen und ungarischen Aufstände machte — ein halbes Jahr nach Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalinismus auf dem 20.Parteitag der KPdSU im Februar 1956 — einer weitreichenden Redogmatisierung der kommunistischen Weltbewegung Platz. Auf der anderen Seite wurde der v.a. gegen die sozialistische Linke repressiv sich vollziehende sozialdemokratische Integrations- und Anpassungskurs Richtung Bad Godesberg durch den seit Mitte der 50er Jahre massiv durchstartenden weltökonomischen Boom und seine sozialstaatlichen Abfallprodukte versüßt.
Mit Zuckerbrot und Peitsche wurde die linke Neuformierung durch Bürgertum, Sozialdemokratie und Parteikommunismus halb gestoppt und halb kriminalisiert. Das KPD-Verbot vom August 1956 und der das Jahr 1957 prägende Landesverratsprozess gegen Viktor Agartz auf der westdeutschen, die Ideologie- und Prozesskampagnen gegen Georg Lukács und den Petöfikreis in Ungarn sowie gegen Ernst Bloch und Wolfgang Harich in der DDR auf der anderen Seite, kriminalisierten gerade jenes politische Milieu, dessen Ausdruck u.a. die AZ war. Erwuchs in anderen Ländern aus diesem Milieu die so genannte erste Generation der »Neuen Linken«, so brachen dieselben Prozesse in Westdeutschland wegen der innenpolitischen Spezifika in sich zusammen.
Der politisch-organisatorische Zyklus eines um die SPD zentrierten und sich aus den Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegstraditionen der radikalen Arbeiterbewegung speisende Linkssozialismus der 50er Jahre war dabei, einen vorläufigen Abschluss zu finden. Und in derAZ schlugen sich diese Zerfallsprozesse in den Jahren 1957/58 unmittelbar nieder. Nonkonformisten und Linkssozialisten wie Hiller, Kief und Kofler wurden in einer regelrechten Leserbriefkampagne als »Schein-Sozialisten«, »Bourgeoissozialisten«, Idealisten und bürgerliche Humanisten, als »Schnulzensänger im Marxismus« angegriffen, Stalin und sein realsozialistischer Weg immer hemmungsloser gerechtfertigt. Ein Großteil der namhaften Mitarbeiter zog sich zunehmend aus der Mitarbeit an der Zeitung zurück, das Meinungsspektrum wurde enger, und immer spürbarer geriet die AZ ins Fahrwasser Ostberlins. Zur weitgehenden politischen Nähe kam nun auch immer mehr die finanzielle Abhängigkeit.
Die AZ setzte ab 1960/61 auf die Deutsche Friedens-Union, eine wesentlich von der illegalen KPD gestützte »bürgerlich«- pazifistische Wahlorganisation, und überlebte auch die 60er Jahre mehr schlecht als recht — ohne dass ihre Macher die alten Hoffnungen ganz aufgaben. Das letzte Aufbäumen ereignete sich im Herbst 1968, als die AZ breit und kritisch über die Niederschlagung des Prager Frühlings berichtete. Die 1967/68 wieder intensiver geknüpften Bande von Linkssozialismus und Parteikommunismus zerbrachen endgültig, die gesamte politische Szene organisierte sich neu. Die politische Ausrichtung der AZ hatte sich überlebt, die letzte Ausgabe erschien am 27.Februar 1969.

Christoph Jünke

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