SoZSozialistische Zeitung |
Die Geschichte und Gegenwart der deutschen Linken kennt viele
Zeitungen/Zeitschriften. Mehr noch als bei bürgerlichen Zeitungen/Zeitschriften ist allerdings die
Zeitungs- und Zeitschriftenvielfalt auf der politischen Linken nicht nur dem journalistischen Charakter
geschuldet Tages-, Wochen- oder Monatszeitung, Massen- oder Minderheitenorgan, mehr theoretisch oder
praktisch, informierend oder agitatorisch etc. , sondern ein politisch-theoretisches Muss, da es ihr
bekanntlich weniger um die Bestätigung des Status quo, sondern um dessen emanzipative Überwindung
geht. So spiegelt sich in der linken Strömungs- und Zeitschriftenvielfalt gerade die Problemvielfalt
politischer Strategien des Übergangs: Übergang wohin und mit welchen Mitteln und Methoden? Eine
Zeitung für die Linke zu fordern, ist deshalb ebenso blauäugig wie die Forderung nach einer
politischen Organisation für alle Linken.
Trotzdem: Gerade diese unentbehrliche Vielfalt
linker Publizistik lässt die gleichfalls politisch-strategische Frage aufkommen, auf welchen Wegen und
mit welchen Mitteln diese Vielfalt zu einer mehr oder weniger übergreifenden Diskussion zu gelangen
denkt.
Es zeichnet die Situation der deutschen Linken
in Geschichte und Gegenwart aus, dass von einer solchen strömungsübergreifenden Diskussion nur in
den seltensten Fällen die Rede sein kann. Hier stehen sich sozialdemokratische und
parteikommunistische Linke, linksbürgerliche und linkssozialistische Linke, Radikaldemokraten und
Nonkonformisten, politische und kulturelle Linke weitgehend getrennt und gettoisiert gegenüber. Und in
den seltenen historischen Fällen, wo sie gemeinsam diskutiert haben, schlug sich dies kaum auf deren
Publizistik nieder. Umso eher sind gerade solche Versuche erinnernswert, denn auch, wenn sie im
»kollektiven Gedächtnis« der Linken bemerkenswert verdrängt sind, es hat sie in
unterschiedlicher Form immer wieder gegeben. Der wohl interessanteste und umfangreichste Versuch
einer strömungsübergreifenden Zeitung war dabei Die Andere Zeitung, die fast 14 Jahre, vom Mai
1955 bis zum Februar 1969 als Wochenzeitung in Hamburg erschien, ihren strömungsübergreifenden
Charakter jedoch nur in den ersten ca. drei bis vier Jahren ihrer Existenz zu bewahren vermochte.
Dass die AZ in ihren ersten Jahren das
wirkliche Zentrum eines nonkonformistischen (west-)deutschen Sozialismus wurde, das hatte vor allem mit der
politischen Konjunktur zu tun. Zwar waren die tief greifenden Niederlagen der ebenso ökonomischen wie
politischen Klassenkämpfe des ersten Nachkriegsjahrzehnts in einem nachhaltigen Anpassungsprozess der
großen Arbeiterorganisationen SPD und DGB geendet, doch gerade diese Anpassungsprozesse führten
auch zu einer massiven Dissidenzbewegung aus deren Reihen, die zudem von einem Aufschwung auch der
internationalen Klassenkämpfe begleitet wurde. Der Prozess der antikolonialen Revolutionen bekam durch
die Konferenz von Bandung im April 1955 Auftrieb, als der dissidente Kommunist Tito (Jugoslawien) mit den
antikolonialen Befreiungsnationalisten Nasser (Ägypten) und Nehru (Indien) die Organisation der
blockfreien Staaten jenseits der beiden Machtblöcke in Ost und West begründeten. Und in der so
genannten zweiten Welt, den »kommunistischen« Ostblockstaaten, setzte sich nach Stalins Tod 1953
langsam aber sicher eine Periode des »Tauwetters« durch, eine Ära der Entstalinisierung, die
alte linke Hoffnungen auf eine Selbstreformation des bürokratischen Herrschaftssystems nicht nur im
Osten, sondern ebenso im Westen Europas weckte.
Der ganze aufgestaute Unmut westdeutscher
Radikal- und Sozialdemokraten sowie der heimatlos gewordenen Linkssozialisten innerhalb der und um die SPD
und Gewerkschaften herum, fand nun neue institutionelle Kanäle nicht in Form neuer
Organisationen, sondern in Form neuer Zeitschriftenprojekte. Ende 1954 wurde die Monatszeitung SOPO, die
Sozialistische Politik gegründet, in der Trotzkisten und Linkssozialisten (u.a. Wolfgang Abendroth,
Erich Gerlach und Peter von Oertzen) am linken Rand der SPD zusammenarbeiteten. Im März 1956 erschien
die erste Ausgabe der von Viktor Agartz geleiteten, ebenfalls monatlichen WISO, der Korrespondenz für
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Und im Mai 1955 erschien erstmals die 16-seitige Wochenzeitung Die
Andere Zeitung.
Es gelang den beiden Herausgebern und
Chefredakteuren Gerhard Gleissberg und Rudolf Gottschalk beide bis dahin langjährig leitende
Redakteure des sozialdemokratischen Zentralorgans Vorwärts, die wegen der zunehmenden
Anpassungspolitik der SPD zurücktraten nicht nur, mit Wolfgang Abendroth, Viktor Agartz, Theo
Pirker, Fritz Baade, Kurt Hiller, Fritz Kief, Leo Kofler, Rudolf Küstermeier, Walter Möller u.a.
die damals namhaftesten Linksintellektuellen Stück für Stück um das Blatt zu sammeln. Sie
schafften es auch, diese bunte Mischung zu einem exponierten Blatt der politischen Opposition zu machen,
das in hoher Auflage zu einem wirklichen Massenblatt wurde. Startete die erste Ausgabe der neuen Zeitung
mit einer Auflage von 18000 Stück, wurde die Auflage bereits bei der zweiten Ausgabe auf 21000 herauf
gesetzt. Tendenz steigend. Es gibt durchaus glaubwürdige Hinweise wenn auch keinerlei
gesicherte Zahlen , dass die Auflage zeitweise bei 5000080000 Stück gelegen hat.
Der publizistische Erfolg der AZ war gerade
auch innerhalb der sozialdemokratischen Parteimitgliedschaft so beträchtlich, dass die SPD-
Parteiführung über ihre Publizistik und andere Kanäle von Beginn an eine umfassende Kampagne
startete, in der sie der AZ der Finanzierung durch Ostberlin bezichtigte und dieselbe als kommunistische
Tarnorganisation denunzierte.
Über die wirklichen politisch-
journalistischen Ziele schrieb Gleissberg kurz vor Erscheinen der ersten Ausgabe in einem Brief an Fritz
Lamm, sie solle, »kurz gesagt, ein Blatt der deutschen Linken werden. Die Redaktion besteht aus
Sozialdemokraten. Auch der Verleger ist Sozialdemokrat. Aber es soll kein Parteiblatt werden, sondern ein
Sammelpunkt der Opposition von links (gegen Renazifizierung, Remilitarisierung, Spaltung Deutschlands,
Antimarxismus, Kultur-›Mystik‹ und Anti-Aufklärung) ohne Rücksicht auf
Parteizugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit.« Und in einem »Gespräch« mit den
beiden Chefredakteuren eine redaktionelle Selbstverständniserklärung existiert nicht
in der ersten Ausgabe vom 12.Mai 1955 ist zu lesen, dass man »eine nach Gehalt und Form
neuartige große Wochenzeitung« beabsichtige, der es explizit um die Wiedervereinigung der beiden
deutschen Staaten und implizit um eine Erneuerung der sozialistischen Linken gehe. Dass eine
Wiedervereinigung unter neutralistischen Vorzeichen möglich sei, zeige die Bewegung der Blockfreien.
Und dass es noch eine Linke gebe, die dies und weiteres durchzusetzen habe, zeige die
Paulskirchenbewegung. Das bundesdeutsche Leserpublikum lebe »in einer Welt des Als-ob, die ihm den
Schein an die Stelle der Wirklichkeit setzt«. Ein großer Teil sehe darüber hinweg,
»dass nicht nur nicht alles in Ordnung, sondern im Grunde geradezu nichts wirklich in Ordnung ist.
Denn auch dort, wo gute Ansätze waren und Neues begonnen wurde, wurde es fast nie zu Ende
geführt. Bruchstück blieb die Mitbestimmung, Bruchstücke blieben Wiedergutmachung und
Sozialreform, Bruchstück blieb auch die Schulreform … Es gibt eine Gruppe in der deutschen
Bundesrepublik, die sich anschickt, die alleinige Herrschaft, das alleinige Recht der Entscheidung zu
erobern. Hier wird in aller Schärfe sichtbar, dass mit unserem viel gepriesenen demokratischen
Aufbruch nicht alles in Ordnung ist.«
Die AZ sah sich als »dritte Kraft«,
um die im Kalten Krieg erstarrten Fronten aufzulösen, sprach sogar explizit von einer »Neuen
Linken«. Sie betonte die eigene Verwurzelung in der Sozialdemokratie, sah aber auch die Notwendigkeit,
mit der kommunistischen Bewegung in eine mindestens partielle Aktionseinheit zu kommen. Hatten die
Kommunisten nicht schon immer gesagt, dass die SPD nur eine die wahren sozialistischen Interessen
verratende Agentur innerhalb des herrschenden Kapitalismus sei? Vertraten sie nicht, wenn schon nicht den
gleichen politischen Weg, so doch zumindest dieselben sozialen Ideale? Und wurde nicht gerade deutlich,
dass sich die Kommunisten ernsthaft um eine Entstalinisierung bemühten?
War die Nachkriegs-SPD durch die
programmatischen Adjektive antifaschistisch, antimilitaristisch, antikapitalistisch und antikommunistisch
gekennzeichnet, so blieb die AZ nach dem programmatischen Rollback der SPD den ersten dreien konsequent
treu, während sie sich von jenem Antikommunismus deutlich zu distanzieren begann, der immer
offensichtlicher nicht nur zur Abwehr einer deutschen Wiedervereinigung, sondern mehr noch zur Abwehr
jedweder sozialistischer Bestrebungen instrumentalisiert wurde. Dass mangelnder Antikommunismus ein Indiz
für mangelnden Antistalinismus sein kann, aber nicht sein muss, zeigten in der AZ der ersten Jahre vor
allem die vielen namhaften Autoren, in erster Linie Kurt Hiller, Fritz Kief und Leo Kofler, die mit ihren
regelmäßigen Artikeln teilweise heftige und umfangreiche Debatten auslösten.
Aus dieser historischen und politisch-
theoretischen Konstellation ergab sich eine gleichsam natürliche Drift der AZ zu einer Art der
Volksfront- und Einheitsfrontpolitik, wie wir sie auch aus den 30er Jahren und den unmittelbaren
Nachkriegsjahren kennen. So wie die internationale Linke damals, im Angesicht des sozialistischen und
kommunistischen Versagens vor dem aufkommenden Faschismus, über Strategie und Taktik möglicher
dritter Wege diskutierte und polemisierte, so diskutierte und polemisierte sie nun, im Angesicht des
sozialdemokratischen und kommunistischen Versagens vor der Restauration, erneut die Fragen von Sozialismus
und Demokratie, von Volksfront und Einheitsfront.
Und so lassen sich in der AZ ebenso flammende
(auch aus anderen Ländern stammende) Plädoyers für eine solche neue Aktionseinheit lesen wie
solche dagegen. Überhaupt ist es eine der bemerkenswerten Charakteristika dieser Zeitung, in welchem
für heutige Gewohnheiten umfangreichen Maße nicht nur Leser zu Wort kamen, sondern teilweise
gegensätzliche Diskussionsbeiträge veröffentlicht wurden nicht nur auf der
Leserbriefseite, sondern gerade auch im redaktionellen Teil. Entsprechend euphorisch feierte bspw. der
jedes Stalinismus unverdächtige Fritz Lamm in der linkssozialistischen Monatszeitschrift Funken die
Gründung der AZ: Es sei »Wirklichkeit geworden, was uns seit Jahren ein Wunschtraum war. Noch vor
wenigen Wochen hatten wir eine so lebendige, wirklichkeitsnahe, sachlich pointierte, spritzig glossierte
Wochenzeitung nicht für möglich gehalten. Endlich gibt es eine Zeitung für die
Opposition.«
Die zentrale Stärke der AZ, die Tatsache,
dass sie in einer Zeit der Neuorientierung oppositioneller Kräfte ein plurales Organ strategischer und
taktischer Diskussion war, welches die Brücke zwischen den verschiedenen Strömungen offen zu
halten versuchte, wurde zu ihrer Schwäche in dem Moment, als diese Neuformierung scheiterte. Die
militärische Niederschlagung der sich aus der Entstalinisierung entwickelnden polnischen und
ungarischen Aufstände machte ein halbes Jahr nach Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalinismus
auf dem 20.Parteitag der KPdSU im Februar 1956 einer weitreichenden Redogmatisierung der
kommunistischen Weltbewegung Platz. Auf der anderen Seite wurde der v.a. gegen die sozialistische Linke
repressiv sich vollziehende sozialdemokratische Integrations- und Anpassungskurs Richtung Bad Godesberg
durch den seit Mitte der 50er Jahre massiv durchstartenden weltökonomischen Boom und seine
sozialstaatlichen Abfallprodukte versüßt.
Mit Zuckerbrot und Peitsche wurde die linke
Neuformierung durch Bürgertum, Sozialdemokratie und Parteikommunismus halb gestoppt und halb
kriminalisiert. Das KPD-Verbot vom August 1956 und der das Jahr 1957 prägende Landesverratsprozess
gegen Viktor Agartz auf der westdeutschen, die Ideologie- und Prozesskampagnen gegen Georg Lukács und
den Petöfikreis in Ungarn sowie gegen Ernst Bloch und Wolfgang Harich in der DDR auf der anderen
Seite, kriminalisierten gerade jenes politische Milieu, dessen Ausdruck u.a. die AZ war. Erwuchs in anderen
Ländern aus diesem Milieu die so genannte erste Generation der »Neuen Linken«, so brachen
dieselben Prozesse in Westdeutschland wegen der innenpolitischen Spezifika in sich zusammen.
Der politisch-organisatorische Zyklus eines um
die SPD zentrierten und sich aus den Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegstraditionen der radikalen
Arbeiterbewegung speisende Linkssozialismus der 50er Jahre war dabei, einen vorläufigen Abschluss zu
finden. Und in derAZ schlugen sich diese Zerfallsprozesse in den Jahren 1957/58 unmittelbar nieder.
Nonkonformisten und Linkssozialisten wie Hiller, Kief und Kofler wurden in einer regelrechten
Leserbriefkampagne als »Schein-Sozialisten«, »Bourgeoissozialisten«, Idealisten und
bürgerliche Humanisten, als »Schnulzensänger im Marxismus« angegriffen, Stalin und sein
realsozialistischer Weg immer hemmungsloser gerechtfertigt. Ein Großteil der namhaften Mitarbeiter zog
sich zunehmend aus der Mitarbeit an der Zeitung zurück, das Meinungsspektrum wurde enger, und immer
spürbarer geriet die AZ ins Fahrwasser Ostberlins. Zur weitgehenden politischen Nähe kam nun auch
immer mehr die finanzielle Abhängigkeit.
Die AZ setzte ab 1960/61 auf die Deutsche
Friedens-Union, eine wesentlich von der illegalen KPD gestützte »bürgerlich«-
pazifistische Wahlorganisation, und überlebte auch die 60er Jahre mehr schlecht als recht ohne
dass ihre Macher die alten Hoffnungen ganz aufgaben. Das letzte Aufbäumen ereignete sich im Herbst
1968, als die AZ breit und kritisch über die Niederschlagung des Prager Frühlings berichtete. Die
1967/68 wieder intensiver geknüpften Bande von Linkssozialismus und Parteikommunismus zerbrachen
endgültig, die gesamte politische Szene organisierte sich neu. Die politische Ausrichtung der AZ hatte
sich überlebt, die letzte Ausgabe erschien am 27.Februar 1969.
Christoph Jünke
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04