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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2005, Seite 3

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Geschichte wird gemacht — geht sie voran?

Auch im politischen Untergang sind Schröder und Fischer noch für eine Überraschung gut. Der Überraschungscoup vom 22.Mai 2005, die Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen bereits im Herbst diesen Jahres, verdeutlicht aber auch das ganze Lügengeflecht ihrer politischen Geschäftsgrundlagen.
Die Verhältnisse sollen geklärt werden, verkündete SPD-Chef Müntefering bei seiner denkwürdigen Rede am NRW-Wahlabend: »Wir wollen das strukturelle Patt zwischen Bundestag und Bundesrat vom Wähler entscheiden lassen.« Als ob dieses Patt nicht schon immer die Geschäftsgrundlage ihrer informellen großen Koalition des Neoliberalismus gewesen wäre. Und als ob sich im Falle eines erneuten rot- grünen Wahlerfolgs irgendetwas daran ändern würde. Acht verlorene Landtagswahlen lang hieß es: Durchhalten, bis die Strukturreformen wirken, plötzlich gilt dies nicht mehr. Was heißt dies anderes, als dass sie selbst wissen, dass ihre damit verbundenen Versprechungen unerfüllt bleiben werden?
Die »rot-grün« gestrichene neoliberale Reformagenda verrät ihr strategisches Dilemma: Auch als Politik des kleineren Übels ist sie eine Politik gegen die Mehrheit der Bevölkerung und erodiert zunehmend die eigene Klassenbasis. Schröders einzige Perspektive war und ist nun ein Lagerwahlkampf, in dem man das Schreckgespenst des schwarzen Mannes (der mindestens zur Hälfte eine Frau ist) ausnutzen und sich als soziales Gewissen ohne Alternative präsentieren möchte.
Doch die taktische Offensive, in die sich Rot- Grün nun geflüchtet hat, ist von nur begrenzter Reichweite. Die schwarz-gelben Reihen sind schnell geschlossen worden. Der Druck auf die eigenen Reihen dürfte sich dagegen als erfolgreicher erweisen. Einmal mehr hat die klägliche SPD-Rest-«Linke« ihre Nibelungentreue zur Parteiführung mehr als deutlich gemacht. Und auch bei den mittleren und oberen Gewerkschaftsapparaten scheint Ducken angesagt.
Schienen die Denker und Lenker von WASG und PDS nach dem Coup von Schröder/Müntefering vorübergehend irritiert, so muss man es Oskar Lafontaine hoch anrechnen, nicht nur die Chance, sondern auch den Zwang der Stunde erkannt zu haben. Seine Ankündigung, für ein vereintes linkes Bündnis gegen seine alte Partei zur Verfügung zu stehen, hat Bewegung in die deutsche Linke gebracht. Und die fast einhellige Reaktion der unterschiedlichsten Fraktionen, Strömungen und Personen der politischen Linken verdeutlicht, dass hier wenigstens einmal das Richtige zur richtigen Zeit gesagt wurde.

Was nun auf der politischen Tagesordnung steht, ist die Bildung einer wirklich »reformistischen« Linken. Eine solche Linke muss eine schlüssige Kritik des herrschenden Neoliberalismus formulieren und sich endlich auf politisch-programmatische Alternativen zum Neoliberalismus einigen, die gleichermaßen glaubwürdig wie mobilisierungsfähig sind.
Es mangelte bisher zwar weniger an vielfältigen linken Programmen als am Willen zum politischen und sozialen Kampf, doch auch dieser Wille zum Kampf in Form eines vielfältigen Widerstands von unten braucht eine mobilisierende Idee vom Ziel und Weg gesellschaftspolitischer Veränderungen, ein in diesem Sinne überzeugendes Aktionsprogramm und eine diesem zugrundeliegende politische Logik. Rücknahme der Hartz-Reformen; Erneuerung und Ausbau der sozialen Sicherungssysteme; Steuererhöhung für Unternehmen und Reiche; Radikale Arbeitszeitverkürzung und lohnpolitische Offensive; Entmilitarisierung & Demokratisierung — all dies liegt seit vielen Jahren auf der Hand, ist aber noch immer reichlich abstrakt gefasst.
All dies speist sich aus einem alternativen Bezugsrahmen politischer und sozialer Werte, der mit Solidarität zwar treffend, aber noch recht vage benannt wird. Will man also lediglich die schlimmsten Auswüchse der neoliberalen Deformagenda (Hartz IV bspw.) rückgängig machen oder will man jene politischen und gesellschaftlichen Grundlagen verändern, die den Wurzelgrund bilden, aus dem sich der Neoliberalismus immer wieder neu speist? Und will man einen solchen Politikwechsel auf rein parlamentarischem Wege erreichen und schließt dazu auch ein Regierungsbündnis mit Teilen des »rot-grünen« politischen Establishments nicht aus?
Wenn ein antineoliberaler Weg möglich und notwendig ist, dann muss sich dies sicher auch wahlpolitisch niederschlagen, findet dort aber nicht seinen Grund und auch nicht sein Ziel. Weniger die Frage des Ob als die des Wozu ins Parlament sollte deswegen zur Diskussion stehen. Glaubt man wirklich, die neoliberale Hegemonie in den Köpfen und die Macht der neoliberalen Apparate mit Parlamentsarbeit brechen zu können? Die Erfahrungen sprechen eindeutig dagegen. Wann waren die Regierenden und ihr Einheitsprogramm jemals dermaßen in der Defensive? Linke, die ihre Hoffnungen und ihren politischen Kopf noch nicht an der Garderobe des zynischen Feuilletons abgegeben haben, sind nun gefordert. Die Situation ist in der Tat eine »historische«: Geschichte wird gemacht — aber geht sie auch voran?

Die (bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht abgeschlossenen) Verhandlungen zwischen PDS und WASG verdeutlichen eher die Blockierungen. Die PDS steht für einen linken Reformismus, der sich gern die sozialistische Idee in der Tradition der DDR als ethische Phrase anhängt, aber in der praktischen Politik, in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern, die Kahlschlagpolitik des herrschenden Neoliberalismus mitträgt. Die PDS ist immerhin — das scheinen sich nur sehr wenige wirklich klar zu machen — die einzige Partei auf Länderebene, die sich noch als Steigbügelhalter der neoliberalen Sozialdemokratie betätigt. Die WASG ist dagegen eine Protestpartei ehemaliger Sozialdemokraten, einiger alter Linkssozialisten und einer kleinen Schar linker Radikaler. Politisch um einiges heterogener als die PDS, gibt sie sich auch politisch defensiver, ist aber deutlich radikaler in ihrem Hass auf den herrschenden Neoliberalismus und dessen linke Steigbügelhalter (auch und gerade in der PDS).
Große Teile beider Parteien scheinen noch nicht begriffen zu haben, dass auch sie selbst und trotz all ihrer organisatorischen oder politischen Stärke Produkte einer historischen Übergangssituation sind. Postkommunisten die einen, Postsozialdemokraten die anderen, Ostdeutsche die einen, Westdeutsche die anderen, etabliert die einen, aufstrebend die anderen. So unterschiedlich sie beide sind, sie sind nur Platzhalter einer wirklich »reformistischen« Linken, deren Abwesenheit den Mythos der Alternativlosigkeit immer wieder erfolgreich genährt hat.
Die nun dank Lafontaines Druck und dank des Drucks der objektiven Notwendigkeiten erfolgten ersten Schritte sind ohne Zweifel richtig und wichtig, aber mit Vorsicht zu genießen. Scheint in der großen Mehrheit der PDS-Parteimitgliedschaft die Hoffnung auf eine Ost-West-vereinigte Linke breiten Rückhalt zu finden, gibt sich ihr Apparat arrogant und taktisch. Die eindeutig politisch motivierte Weigerung, eine gemeinsame, neue Wahlpartei zu den Bundestagswahlen zu gründen, ist nicht nur ein falsches politisches Zeichen, es nährt auch die wohlbegründeten Befürchtungen, man betrachte die neuen Westlinken als manipulativ zu vereinnahmende Objekte und klammere sich einmal mehr nicht an politische Inhalte als an politische Apparate und ihre Vergünstigungen.
Bei der WASG dagegen scheinen die Führungskader weiter als die breite Mitgliedschaft, die noch immer in den sozialdemokratisch- gewerkschaftlichen Traditionen eines teilweise rabiaten Antikommunismus und Antisozialismus verhaftet zu sein scheint. Auch die von beiden Seiten wenn überhaupt, dann allenfalls halbherzig betriebene Öffnung zu anderen gegen den Neoliberalismus streitenden sozialen Bewegungen verdeutlicht, dass noch nicht richtig verstanden ist, worum es eigentlich geht, bzw. gehen sollte. Dass hier selbst bei den sozialen Bewegungen noch einiges im Argen liegt, macht bspw. die Erklärung des Attac- Koordinierungskreises vom 31.Mai deutlich. Weil sie sich explizit nicht entscheiden können, ob Parlaments- und Parteipolitik nur manchmal oder immer von Übel ist, wollen sie »weder eine Wahlempfehlung abgeben noch die Kandidatur von Einzelpersonen unterstützen«.

Die zentrale Frage, ob es zu den Wahlen und darüber hinaus eine wählbare vereinigte »reformistische« Linke gibt, die sich den sozialen Bewegungen substanziell öffnet, hat also die zweite Frage zwingend zur Folge: Wie verhalten sich die in den sozialen Bewegungen und/oder den linken Kleingruppen organisierten radikalen Linken? Seit Beginn der 90er Jahre in diverseste Milieus zersplittert und nachhaltig dezimiert, scheinen viele nicht verstehen zu wollen, dass eine neue radikale, d.h. antagonistische Linke nur entstehen kann, wenn es auch wieder ein größeres reformistisches Milieu gibt, in dem sie sich tümmeln können. Ob sie wollen oder nicht, auch ihre nächste Zukunft hängt nicht unwesentlich von den Entwicklungen der nächsten Wochen und Monate ab.

Die neoliberale Logik muss endlich — in ihrer rot-grünen wie in ihrer schwarz-gelben Variante — ausgebremst werden. Diese Bremse kann nur ein »neuer Reformismus« (der Begriff ist sicherlich noch unscharf) sein. Eine solche neue Bewegung verdient ihren Namen nur, wenn sie die Logik der ganzen Politikrichtung in Frage stellt und mindestens in gesellschaftlichen Kernbereichen nachhaltige Veränderungen durchsetzt. Dies wird sie nur können, wenn sie sich auf ein breites Milieu autonomer und radikaler Basisbewegungen zu stützen vermag, die gleichberechtigter Teil nicht unbedingt einer gemeinsamen Organisation, wohl aber eines gemeinsamen Bewegungsnetzes sind.
Auch wer (zu Recht) nicht glaubt, dass der Kapitalismus keine strukturellen Spielräume mehr für Reformen hat, kommt nicht um die Erkenntnis herum, dass, wer von wirklichen Reformen träumt, zuallererst um ein neues gesellschaftspolitisches Kräfteverhältnis kämpfen muss, um solche Reformen denkbar und durchsetzbar zu machen. »Ohne Klassenhass«, schrieb vor wenigen Jahren Boris Kagarlitzki über diese nicht nur deutsche Aufgabe, »gäbe es weder soziale Reformen noch soziale Partnerschaft.« Und auch wenn dies keine parlamentarische Aufgabe ist, so wird sie dieses Terrain nicht umgehen können.
Ein »neuer Reformismus«, will er erfolgreich sein, ist also strukturell darauf angewiesen, ein historisch neuartiges Verhältnis von reformistischen und antikapitalistischen Linken herauszubilden, eine plurale Organisations-, Kommunikations- und Mobilisierungskultur, in der sich unterschiedlichste Strömungen und Fraktionen einer politischen Linken gleichberechtigt und solidarisch treffen, ohne sich auf gemeinsamer neuer Linie vollständig vereinheitlichen zu müssen. Das wäre ein historischer Kompromiss, für den sich zu streiten lohnte.

Christoph Jünke

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