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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2005, Seite 22

Nachruf

André Gunder Frank (1929—2005)

Ich traf André Gunder Frank und seine Frau Marta Fuentes 1967. Unser langes Gespräch überzeugte uns, dass wir intellektuell auf derselben Wellenlänge lagen. Die damals vorherrschende »Modernisierungstheorie« schrieb die »Unterentwicklung« der Dritten Welt der verspäteten und unvollständigen Herausbildung kapitalistischer Institutionen zu. Die marxistische Orthodoxie, vertreten von den Kommunistischen Parteien, präsentierte ihre eigene Version dieser Sichtweise und kennzeichnete Lateinamerika als »halbfeudal«.
Frank stellte eine neue und völlig andere These auf: dass Lateinamerika von seinen Ursprüngen an im Rahmen kapitalistischer Entwicklung als Peripherie der neu aufsteigenden Zentren an Europas Atlantikküste aufgebaut wurde. Ich meinerseits hatte die Integration Asiens und Afrikas in das kapitalistische System im Lichte der Erfordernisse der »Akkumulation in globalem Maßstab« zu analysieren unternommen, ein Prozess, der durch seine innere Logik eine Polarisierung von Wohlstand und Macht hervorbringen musste.
Einige Jahre später, 1972 in Mexiko, trafen wir auf dem Kongress des Lateinamerikanischen Rats der Sozialwissenschaften (CLASCO) wieder zusammen, wo Frank — zusammen mit F.H.Cardoso, Aníbal Quijano, Rui Mário Marini u.a. — die erste Formulierung der »Dependenztheorie« vortrug. Mich hatten sie eingeladen, um parallele Schlussfolgerungen darzulegen, zu denen ich auf der Basis sehr unterschiedlicher historischer Prozesse gelangt war, durch die Asien und Afrika in das globale System integriert worden waren.
In ähnlicher Übereinstimmung fanden wir uns mit der »Weltsystem«-Schule, die in den 70er Jahren durch Immanuel Wallerstein eingeführt wurde. So entstand unsere »Viererbande« (Giovanni Arrighi, Frank, Wallerstein und ich). Entsprechend wurden wir vier gemeinsam Autoren zweier Bücher: La crise, quelle crise? (1982) und Le grand tumulte (1991), die beide bei Maspéro-La Découverte erschienen. Wenngleich die Etablierung der neuen neoliberalen globalisierten Wirtschaftsstruktur gerade erst angefangen hatte und die neue globale Strategie des Kapitalismus erst wahrnehmbar wurde, wiesen wir bereits den »neuen sozialen Bewegungen« strategische Bedeutung zu, die zehn Jahre später, 2001 in Porto Alegre, auf dem Weltsozialforum zusammenkommen sollten.
Die Nähe unserer Grundanschauung führte, trotz deutlicher Differenzen (die für uns alle stimulierend waren), zu einer engen Freundschaft. Meine Frau Isabelle und ich liebten Frank wie einen Bruder und litten am Verfall seiner Gesundheit während der letzten zwölf Jahre seines Lebens, Jahre eines dauernden und mutigen Kampfes gegen den Krebs. Was ich an Frank am meisten liebte war seine schrankenlose Aufrichtigkeit und Hingabe. Frank war nur von einem einzigen Wunsch beseelt: im Dienst der arbeitenden Klassen und der subalternen Völker zu stehen, der Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung. Spontan und bedingungslos stand er stets auf ihrer Seite. Eine Eigenschaft, die man selbst bei den besten Intellektuellen nicht zwangsläufig findet.

Samir Amin

Aus: Monthly Review (New York), Juni 2005 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).



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