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Wer in den letzten 25 Jahren die politische Lage in Deutschland beobachtet
hat, reibt sich verwundert die Augen. Die deutsche Arbeiterbewegung, die viele als hoffnungslos
verbürgerlicht und unlösbar fest in den Klauen der Sozialpartnerschaft und sozialdemokratischer
Vormundschaft abgeschrieben hatten, beginnt zaghaft, die politische Bühne zurück zu erobern.
Auch wenn sie damit anderen europäischen
Ländern mit viel mehr betrieblichem und gewerkschaftlichem Kampfgeist und neuen politischen
Linksparteien immer noch hinterher trabt, so sind diese Vorgänge im wichtigsten imperialistischen
Einzelland des EU-Blocks, mit einer immer noch mächtigen, 7 Millionen Mitglieder starken
Gewerkschaftsbewegung, einer 600000 Mitglieder starken SPD und einem poststalinistischen Unikum in Form der
65000 Mitglieder starken PDS historisch betrachtet geradezu sensationell.
»Endlich tut sich was in diesem
Land«, lautete eine Artikelüberschrift in der Süddeutschen Zeitung nach den Anfängen
der WASG-PDS-Gespräche und dem Debakel der SPD. Wie wahr! Man kann nur allen »Altlinken«,
die sich in allen Wassern gewaschen fühlen, und allen jungen Rebellen und »Neulinken«, denen
es vielleicht nicht weit, nicht schnell und nicht programmatisch perfekt genug geht, zurufen: An diesen
Vorgängen aktiv und an vorderster Linie beteiligt zu sein, darf und sollte nicht nur eine
nebensächliche Pflichtübung, sondern muss zum großen Vergnügen werden. Eine
vergleichbare Chance wird so schnell nicht wiederkommen. Die deutsche Arbeiterbewegung beginnt sich zu
rühren, und nur wer sich rührt, spürt seine Fesseln.
Wir gehören nicht zu den gläubigen Anhängern der Pseudowissenschaft Wahldemoskopie.
Dennoch sind die Umfrageergebnisse für das Projekt »Die Linkspartei« mittlerweile ein
politischer Wert an sich. 11% Wählerzuspruch, 31% gar in Ostdeutschland, belegen, dass sich hier ein
bedeutender Wechsel im politischen Koordinatensystem abzeichnet, hinter dem ein fast ebenso wichtiger
Veränderungsprozess im Kräfteverhältnis der Klassen steht.
Das bürgerliche Lager gerät
sichtlich in Panik. Die »Linkspartei« ist noch nicht formal gegründet, und schon
fürchtet die deutsche Bourgeoisie mal wieder ein Gespenst. Groteskerweise startet sie als erste
Abwehrmaßnahme eine Schlammschlacht gegen Oskar Lafontaine, dem sie allen Ernstes vorwirft, gar nicht
richtig links, sondern rechts und fremdenfeindlich zu sein.
Die Damen und Herren, die ansonsten gegen die
»Durchrassung« der Gesellschaft wettern, die bisher in jedem Wahlkampf
Ausländerfeindlichkeit zum widerwärtigen Stimmenfang benutzt haben, die böse Juden für
ihre Parteispendenaffären verantwortlich erklären, die Migranten nach ihrer ökonomischen
Verwertbarkeit in erwünscht oder unerwünscht selektieren, die Abschiebegefängnisse und
Sammellager für Flüchtlinge errichten, die die deutsche Freiheit am Hindukusch verteidigen wollen
sie ballern mit der alten Kanone »Rot gleich Braun« um sich. Selten so Angst gehabt.
Als vor gut einem Jahr eher zufällig in
seriösen Zeitungen publik wurde, in Berliner und bayrischen Hinterzimmern werde nach den beachtlichen
Widerstandsaktionen gegen die Agenda 2010 an der Bildung einer neuen Linkspartei gearbeitet, war schon
heftiges Flackern zu erleben. In kurzer Zeit rollte eine spontane Begeisterungswelle durch die Republik,
der Verein, später die Partei WASG, wurde Tagesgespräch.
Den wenigen Herren und noch weniger Damen, die
in besagten Hinterzimmern zusammen saßen, darf ohne Wenn und Aber gratuliert werden: Sie hatten in der
richtigen Minute die richtige Idee. Der alte Avantgardist Lenin hätte sich gefreut, waren sie doch,
auch wenn sie es vielleicht nicht ahnten, genau den Schritt vorausgegangen, auf den es ankam.
Heute kann man getrost sagen, dass einige
Personen aus Führung und Mitgliedschaft schon nach dieser ersten Welle Angst vor der eigenen Courage
bekamen und sich redlich mühten, die Aufbruchstimmung wieder weg zu organisieren. Ihr Versuch, die
neue Partei wie einen Gewerkschaftstag des bürokratisierten DGB aufzubauen, hatte jedoch nur eine
kleine Delle in der Aufbruchstimmung zur Folge. Spätestens nach dem respektablen Wahlergebnis der WASG
in Nordrhein-Westfalen von 2,2% und den Vorgängen in der »großen Politik« danach, ist
klar: Die neue Linkspartei wird gewollt und ist für dieses Land bitter nötig.
Täglich über hundert Neueintritte,
Tausende von auffordernden Mails und Telefonaten, Aufrufe aus allen Bereichen der Gesellschaft und eine
breite mediale und öffentliche Resonanz sind Beleg dafür und gleichzeitig Anzeichen, dass es noch
viel mächtiger werden könnte, wenn sich die Beteiligten tatsächlich der historischen Chance
bewusst werden. Jetzt zeichnet sich als nächster Schritt der gemeinsame Wahlantritt von PDS und WASG
unter dem Namen »Die Linkspartei« ab. Ihr wird eine 50- bis 60-köpfige Parlamentsfraktion
vorhergesagt, von der ein knappes Drittel aus den Reihen der WASG kommen wird.
Wer glaubt, aus dem Prozess eines solchen Linksbündnisses würden die Beteiligten so
herauskommen wie sie hineingegangen sind, wird sich wundern. Für die PDS wird es eine zweite Geburt
werden. Die PDS ist natürlich längst nicht mehr die alte SED. Ihre Mitglieder sind alt, aber
nicht SED. Der kleine Unterschied ist, dass die SED eine Staatspartei war, der PDS ist dieser Staat jedoch
abhanden gekommen.
Doch die PDS hat in den letzten 15 Jahren
ihren wichtigsten Wesenszug nicht überwinden können: sie ist die Erbwalterin des
fürchterlich in die Hose gegangenen Versuchs, in Deutschland ein nichtkapitalistisches
Gesellschaftssystem aufzubauen. Sie ist eine Partei der historischen Niederlage, da kann sie sich noch so
schön schminken und opportunistisch anpassen oder gar den Juniorpartner einer neoliberalen Regierung
spielen.
Diese Erbverwaltung war und ist sehr
nötig und für viele Menschen aus der ehemaligen DDR lebenswichtig, aber sie reicht hinten und
vorn nicht aus, um im übrig gebliebenen kapitalistischen Gesamtdeutschland eine zukunftsträchtige
linke Perspektive zu bieten. Genau das könnte den 65000 PDS-Genossinnen und -Genossinnen aber mit dem
neuen Linksbündnis gelingen.
Niemand außerhalb der PDS braucht heute
Angst haben, in einem Bündnis mit der PDS gäbe es ein rückwärtiges Gerangel. Es wird
Streit geben, völlig klar, aber er wird um die gleichen Fragen gehen und der Streit wird ebenso heftig
sein wie in der WASG auch, wenn diese unter sich bliebe.
Die WASG versammelt heute ein
merkwürdiges Völkchen. Wenn man die potenziell mächtige Arbeiterbewegung in Deutschland mit
dem Bild des schlafenden Riesen vergleicht, dann sind die WASG-Mitglieder die um ihn herum tanzenden
Zwerge, die mal da, mal dort pieksen, einerseits das große Aufwachen wünschen, andererseits
gerade davor mächtig Angst haben.
Die Zwerge auf der einen Seite sehen und
kennen die auf der anderen Seite nicht, wissen aber, dass es sie gibt. Das gibt viel Stoff für
Spekulation und Gerüchte. Aber es gibt zum Aufwecken und Aufwachen keine Alternative. Die WASG kann
sich deshalb nur nach links entwickeln. Die andere Möglichkeit hieße schlicht: abtreten von der
Bühne und einer in der Opposition mäßig vitalisierten SPD das Feld wieder überlassen.
Dabei ist völlig klar: Die Menschen, die
heute mit wachsender Begeisterung auf die WASG und das neue Linksbündnis schauen, meinen nicht die
Zwerge. Sie meinen den Riesen. Sie wünschen einen Verteidiger ihrer alltäglichen Interessen, der
es besser macht als die SPD. Auch die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen waren
überwiegend keine Protestwähler, sondern haben sich bewusst für die linke Alternative WASG
entschieden.
Sich heute gegen ein Bündnis mit der PDS
zu stellen, würde bedeuten, sich vor dem mehr und größer Werden zu drücken, würde
die Zwerge, nicht das Aufwecken des Riesen, in den Mittelpunkt stellen, wäre ein schlichter Betrug am
Willen der NRW-Wähler. Es wäre das klassische Drama dessen, der aus Angst vor dem Tod Selbstmord
begeht.
Das Zusammengehen mit der PDS bedeutet
für die WASG eine wichtige Bewegung nach links, unabhängig vom Zustand der PDS, ihrem
versöhnlerischen Programm und selbst ihrer Regierungsbeteiligung in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.
Noch vor zwei Monaten hätte
wahrscheinlich eine Mehrheit in der WASG die Selbstbezeichnung als Linkspartei und ganz sicher ein
Bündnis mit einer sich »sozialistisch« nennenden Partei abgelehnt. Heute haben mehr als zwei
Drittel aller Mitglieder dem Wahlbündnis in Form von offenen Listen der PDS/Die Linkspartei und dem
Projekt einer zukünftigen vereinigten Linkspartei bei der Urabstimmung zugestimmt. Von den
Abstimmenden waren es sogar mehr als 80%.
Zustand, Programm und Regierungsbeteiligung
der PDS werden sehr schnell zum Hemmschuh einer weiteren Entwicklung werden. Die sich abzeichnende Fraktion
im Bundestag wird ein Ensemble altbekannter PDS-Gesichter sein, die bisher entschlossen und mit aller
bürokratischen Macht, zu der die PDS fähig ist, für einen Kurs der Unterordnung unter die
kapitalistischen Spielregeln, der Verteidigung der privaten Marktwirtschaft und des unternehmerischen
Pioniergeistes standen. Sie zu ändern, wird wahrscheinlich den WASG-Abgeordneten nicht gelingen,
selbst wenn sie es entschlossen wollten.
Diese Gruppe besteht neben ein paar bekannten
Ex-Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer aus begeisterten Linkskeynesianern der
Memorandum-Gemeinschaft und mehreren toughen Gewerkschaftern.
Die Gesamtfraktion wird fast unvermeidlich in eine ebenfalls schon bekannte Bewegungsrichtung geraten.
Die wird durch parlamentarische Abgehobenheit, persönliche Fähigkeit oder Unfähigkeit,
Eitelkeit und Wichtigtuerei abzustreifen, vor allem aber durch den mächtigen Druck der Medien und der
Gegner bestimmt sein, möglichst schnell Verantwortung für zunächst natürlich
kleinere Schweinereien mit zu übernehmen. Das hieße sofort Mitverantwortung.
Daher gilt, die einzig erfolgversprechende
Entwicklungsrichtung der »Linkspartei« ist die weiter nach links. Praktisch bedeutet dies vor
allem den sofortigen und massiven Aufbau von Parteistrukturen, um den spektakulären Wahlerfolg von
vielleicht 510 Millionen Stimmen in wirkungsvollere Kräfte umzuwandeln.
Es muss an dem gearbeitet werden, dessen
Fehlen zum verheerenden schnellen Rechtsabsturz der letzten linken Parteigründung in Deutschland, der
Grünen, geführt hat: dem Aufbau von Ortsgruppen, Betriebsgruppen, Gewerkschaftskollektiven,
Arbeitsgemeinschaften zu bestimmten Themen und einem Netz von lokalen, regionalen und bundesweiten
»Führungen«, im besten und demokratischen Sinne dieses Wortes.
Der Weg muss von einer Wahlpartei, die von
Stimmungen abhängt, zu einer echten Betroffenenpartei wer es altmodisch will: zu einer
Arbeiterpartei gehen. Dann wird als erstes sichtbares Resultat die Beendigung der
Regierungsbeteiligung der Linkspartei in den Landesregierungen auf der Tagesordnung stehen und später
eine wirkliche bleibende Verschiebung im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis. Darauf kommt es im
Interesse der Menschen an.
Thies Gleiss
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