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Der folgende Beitrag stammt von einem aus Polen stammenden Mitglied von Attac
Schweiz und zeigt, wie die Europäische Union Polen zu einem Musterland des Neoliberalismus macht.
Ich habe 35 Jahre in Polen gelebt (19471982) und dort fünf Jahre im Gefängnis
gesessen, weil ich Diskussionzirkel zu den Römischen Verträgen organisiert hatte. 1980/81
gehörte ich zur Regionalleitung der Gewerkschaft Solidarnosc. Seit 1990 besuche ich Polen fast jedes
Jahr für einige Monate. Ich bin also sehr gut informiert über die dort herrschende Lage. Diese
könnte ich in einem einzigen Ausdruck zusammenfassen: Es ist die absolute Herrschaft des
Ultraliberalismus, eines ungezügelten Kapitalismus.
Seit 1956 habe ich an allen Revolten in Polen
teilgenommen. Ich weiß also, wofür das polnische Volk gekämpft hat. Wir wollten alle
entweder einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz oder einen sozialen, demokratischen und rationalen
Kapitalismus. Was aber haben wir jetzt? Einen zügellosen, irrationalen Kapitalismus, den das Volk
niemals gefordert hat. Wer also hat diesen hemmungslosen Ultraliberalismus eingeführt? Die Antwort ist
einfach: der IWF, die Europäische Kommission und die frühere stalinistische Nomenklatura.
1989 beendete das alte totalitäre Regime seine Herrschaft im völligen finanziellen Ruin. Es
hinterließ eine Auslandsverschuldung von 40 Milliarden Dollar, eine gewaltige Schuld für ein Land
wie Polen. Kurz vor seinem Sturz hatte das Regime mit dem IWF und der Weltbank die Bedingungen für die
Rückzahlung ausgehandelt. Die Nomenklatura akzeptierte die aufgezwungenen Bedingungen im Wissen, dass
es das Volk sein würde, das wie gewöhnlich zu zahlen hatte.
Am 1.Januar 1990 traten die ultraliberalen und
inhumanen Bedingungen des IWF unter der Bezeichnung »Plan Balcerowicz« in Kraft. Balcerowicz war
der Finanzminister der neuen »demokratischen« Regierung von T.Mazowiecki unter der
Präsidentschaft von Lech Walesa. Unterstützt wurde Balcerowicz von dem amerikanischen
Ökonomen Jeffrey Sachs, einem Harvard-Professor und glühenden Verfechter des Ultraliberalismus.
Worin bestand der Plan Balcerowicz?
♦ Die Grenzen sollten
vollständig für westliche Produkte geöffnet werden.
♦ Den staatlichen Betrieben,
die auf diese plötzliche neue Konkurrenz keinesfalls eingestellt waren, wurden obendrein noch
drakonische Restriktionen auferlegt: eine hohe Besteuerung, Zahlung erhöhter Dividenden an den Staat,
wucherische Bankkredite, Verbot von Einstellungen bei Strafe der Zahlung einer Strafsteuer, die popiwek
genannt wurde.
♦ Die Privatisierung der
staatlichen Betriebe und des öffentlichen Dienstes wurde obligatorisch.
Dies war die berühmte, im Westen von den
Medien hochgelobte »Schocktherapie«. Von diesen Medien wurde Balcerowicz als Genie der
ultraliberalen Ökonomie glorifiziert und westliche Universitäten verliehen ihm den Doktortitel
ehrenhalber. Man überging mit Schweigen die Tatsache, dass er unter dem alten Regime Sekretär der
»Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei« (PZPR) und Professor für »Marxismus-
Leninismus« war.
Das Resultat war ein soziales Desaster. Die Kaufkraft der Polen sank in zwei Jahren, 1990 und 1991, um
30%, während sie bereits unter dem alten Regime sehr niedrig war. Die Erwerbslosigkeit erreichte 2
Millionen. Mittlerweile gibt es 3 Millionen Erwerbslose. Ein wahrhaftes Elend hat Hunderttausende Menschen
erreicht.
Laut den letzten Angaben von OECD und UNICEF
für 2004 stillen 2 Millionen polnische Kinder ihren Hunger nicht mehr: Sie kommen mit leerem Magen in
die Schule und können sich mittags kein Essen in der Schulkantine leisten. Nach den Angaben des
Polnischen Amts für Statistik (GUS) vom Februar 2005 leben 8 Millionen Polen unter der Armutsgrenze
(bei einer Bevölkerung von insgesamt 38,5 Millionen). Die Armutsschwelle liegt bei 1226 Zloty für
eine vierköpfige Familie (1 Euro = 4 Zloty). Fünf Millionen Menschen leben im Elend, denn sie
verfügen über nicht einmal 8 Zloty am Tag.
Seit 1995, als das Land Kandidat für
einen Beitritt zur EU wurde, befindet sich Polen unter der Vormundschaft der Europäischen Kommission.
Die Privatisierungen wurden in allen Bereichen beschleunigt. Sie wurden unter unredlichen und mafiösen
Bedingungen abgewickelt. Die frühere Nomenklatura, die alle Betriebe leitete, führte sie bewusst
in den Bankrott, um sie dann zu lächerlichen Preisen wieder aufzukaufen. Tatsächlich wurden die
Privatisierungen als eine wahrhafte Plünderung nationaler Güter vollzogen eine Teilung
Polens zwischen skrupellosen Couponschneidern unter dem wohlwollenden und nachsichtigen Auge der
Europäischen Kommission.
Die ausländischen Multis waren bei diesem
Ausverkauf weitgehend beteiligt. Sie zahlten nur 10% des Betriebswerts. Im Austausch für diesen
lächerlichen Verkaufspreis strichen die Vertreter der Nomenklatura Provisionen in Höhe von
Millionen Dollar ein.
Entsprechend den Direktiven aus Brüssel
werden die Betriebe ständig »entschlackt«: Auf diese Weise kann man unbequeme Gewerkschafter
leicht loswerden. Das Arbeitsrecht wird praktisch nicht mehr angewandt, der Unternehmer bestimmt die
Bedingungen. Die Beschäftigten werden oft nur mit befristeten Verträgen eingestellt. Von den 3
Millionen Erwerbslosen erhalten nur 15% Arbeitslosengeld, auf sechs Monate befristet. Deshalb herrscht die
nackte Angst. In dieser Atmosphäre des Terrors der Ökonomie wagen die Beschäftigten nicht,
zu einer Gewerkschaft zu gehören. Die bestehenden Gewerkschaften werden gezähmt. Die einst
heroische Gewerkschaft Solidarnosc ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Die während der Arbeiterrevolte von 1956
entstandenen Betriebsräte (KSR) sind im Zuge der Privatisierungen liquidiert worden. Die sexuelle
Nötigung von Frauen in den Betrieben ist zu einem alltäglichen Phänomen geworden
entweder sexuelle Unterwerfung oder Arbeitslosigkeit und Elend… Das Renteneintrittsalter für
Frauen wurde von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt. Das Verbot der Nachtarbeit von Frauen wurde aufgehoben.
Die westlichen Unternehmen, die sich in Polen
niederlassen, diktieren ihre Bedingungen, indem sie betonen, dass sie auch woanders hingehen können,
wenn die Beschäftigten und die Gewerkschaften nicht folgsam sind. Der monatliche Mindestlohn
beträgt 849 Zloty. Aber seit sechs Jahren verlagern polnische Kapitalisten ihre Betriebe in die
Ukraine, wo die Löhne noch niedriger sind. Die ukrainischen Kapitalisten fangen an, nach Kasachstan
oder in den Kaukasus zu gehen…
Heute wird in Polen der ultraliberale
Kapitalismus in seiner brutalsten Form errichtet. Niemand hat das polnische Volk um seine Meinung gefragt.
Dasselbe gilt für die anderen Länder Ostmitteleuropas. Es ist klar, dass die Europäische
Kommission einzig darauf aus ist, den ultraliberalen Kapitalismus zu propagieren und durchzusetzen. Die
geplante Europäische Verfassung ist Ausdruck und Bekräftigung dieser Tendenz.
In Polen wurde der Ultraliberalismus vom IWF
und von der Europäischen Kommission durchgesetzt, in enger Zusammenarbeit mit der alten Nomenklatura,
die immer noch an der Macht ist. Die Verhandlungen über den EU-Beitritt wurden mit früheren
Spitzenfunktionären der totalitären PZPR geführt: Leszek Miller, Aleksander Kwasniewski,
Jozef Oleksy, W.Cimoszewicz, Danuta Huebner. Letztere wurde mit 22 Jahren Mitglied der PZPR. Sie hat nie
gegen das totalitäre Regime protestiert und stets General Jaruzelski unterstützt. Heute ist sie
Mitglied der Europäischen Kommission!
Die Europäische Kommission ist frei von
jeglicher Ethik: wesentlich ist nur die Einhaltung der Regeln der ultraliberalen Ökonomie. Die
geplante Europäische Verfassung schützt uns nicht vor den Verheerungen des Ultraliberalismus,
denen Polen und die Länder Ostmitteleuropas ausgesetzt sind. Im Gegenteil: sie würde sie
verschärfen und auf den ganzen europäischen Kontinent ausdehnen.
Richard Danilowicz
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