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Die Metapher ist recht treffend: Eine Gesellschaft von einer dicken Hülle Eis überzogen und bis ins Mark vereist. Die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Menschen erscheinen wie festgefroren, doch das Eis ist klar und durchsichtig. Alles sieht schön aus und doch ist es ein Bild des Fröstelns. Auf den zweiten und dritten Blick beginnt man eine eigenartig zaghafte, aber kraftvolle Bewegung wahrzunehmen und ahnt, dass es sich im Innern des Eisblocks um tektonische Bewegungen handeln muss, um antagonistische Kräfte, die zerren und rütteln, aber noch nicht richtig in Bewegung geraten sind, weil das Eis sie noch fest umschlingt. Die vermeintlich Außenstehenden sind hin und her gerissen zwischen Pessimismus und Optimismus: die einen zum Teil jahrzehntelang erprobte Opfer eines Vereisungsprozesses, den sie nie in den Griff bekommen haben und dessen elementare Kräfte sie sogar zu fürchten gelernt haben glauben nicht an ein Auftauen des gesellschaftlichen Eisblocks; die anderen nicht weniger von dieser Geschichte gezeichnet vertrauen auf jene Bewegungskräfte, die schon öfter den Raum der Geschichte in unerwarteter Weise geöffnet und einen Windhauch der Emanzipation generiert haben. Doch noch ist die Oberfläche des Eises glitschig. Wer Halt sucht und Zeichen setzen möchte, rutscht schnell aus und holt sich Beulen.
»In sozialen Eiszeiten«, so Jürgen Meier, »wo jeder
Mensch auf sich allein gestellt zu sein scheint, um überleben zu können, suchen die Menschen nach
Wärme. Als gesellschaftliche Wesen suchen sie spontan nach Gemeinsamkeit mit anderen Menschen, die
ihnen Wärme, Werte und Lebenssinn zu schenken versprechen. So fallen sie auf alle möglichen
Formen des objektiven Idealismus herein.« Meiers bemerkenswerter Essay spürt diesen
idealistischen Verirrungen in Alltag und Politik nach und entlarvt sie als halbe, und das heißt bei
ihm immer: gescheiterte Versuche der Befreiung vom herrschenden Packeis.
Steht derzeit nicht überall der Kampf gegen die das Eis vermeintlich verkörpernde
Bürokratie auf der Tagesordnung? Doch Meier hält dagegen und erinnert daran, dass die
Bürokratie, in gewissem, nicht zu vergessenden Sinne, eine bürgerliche Errungenschaft war und
ist, da sie das bürgerlich-formale Recht verkörpert, das zwar dem konkreten Menschen und seinen
konkreten Bedürfnissen nicht gerecht zu werden vermag, das jedoch als Recht auf formale Gleichheit den
Schwachen und Benachteiligten zumindest einen gewissen Schutz bietet. Gegen den mit der Agenda 2010 zur
Regierungspolitik erklärten neoliberalen Antibürokratismus wendet er ein:
»Auch wenn der Bürokrat vorgibt, im
Interesse des Allgemeinwohls zu handeln und darunter versteht, das ideelle Gesamtinteresse der
bürgerlichen Produktionsweise verteidigen zu müssen, so sind die Angriffe der meisten
Antibürokraten ein gesellschaftlicher Schritt zurück zur Ständegesellschaft. Nicht mehr der
Bürokrat, also der abstrakte Mensch, sondern der Markt, also die Interessen einzelner, der
stärkste und größteBourgeois soll die Rechtsverhältnisse allgemein bestimmen …
Der ›sture‹ Beamte soll dynamisiert werden, seine Moral soll den internationalen
Kapitalbedingungen angepasst werden. Für diese soll er seine ›Dienstleistung‹ erbringen.
Es soll so verhindert werden, dass ein sturer Beamter an dem Umweltschutzgesetz festhält, statt zu
erkennen, dass es zur Sicherung des Wir-Gefühls in erster Linie um die Schaffung neuer
Arbeitsplätze in Deutschland gehen muss.«
Mit viel Gefühl und dem wohl
schlechtesten Verlagslektorat, das ich in den letzten Jahren erlebt habe entlarvt Meier die heute
allzu eingängigen Formen gerade jener indirekten Apologie neoliberaler Vereisung und ihres
Götzenkults, die so erfolgreich selbst die Köpfe von deren Opfern verstopft. In seinem Buch geht
es um die Fallstricke und Verbrechen der Privatisierung bspw. der Krankenhäuser und den
vermeintlichen Fortschritt in Wissenschaft und Kunst, es geht um bürgerliche Halb- und Doppelmoral, um
sozialdemokratischen »Sozialismus« und neoliberale Hab-, Herrsch- und Geltungssucht. Es geht aber
auch um Fortschritt und Humanismus, um Religion und Ethik.
»Ethische Weltbetrachtung und Lebensorientierung blickt immer auf das Ganze, auf das Allgemeine,
die Totalität der menschlichen Entwicklung.« Und »ohne die Orientierung auf das
Gattungsmäßige versinken die Menschen in Brutalität, Depressionen, Dummheit und
Lieblosigkeit«. Meier erweist sich hier als versierter Kenner und Liebhaber des ungarischen Marxisten
Georg Lukács. Doch gelegentlich entkommt auch er nicht dessen Aporien. Die entlarvende Kritik des
nonkonformistischen Konformismus (der indirekten Apologie) ist so treffend wie dringlich, gelegentlich
lässt sie jedoch einen Schuss Dialektik vermissen. Und auch Meier meint, man könne mit Kunst
»die ›Eisschmelze‹ forcieren«. Hier sind methodische Zweifel angebracht, denn die
normative Ästhetik ist traditionell kaum mehr als ein revolutionsstrategisches Ausweichen auf latent
erziehungsdiktatorische Nebengleise.
Auch Meier ist vor solchen Versuchungen
offenbar nicht gefeit, wohl aber gewappnet, denn mit Verve betont er, dass einzig die radikale Demokratie
der selbsttätigen Bevölkerungsmehrheit den Ausweg zur Eisschmelze weist. Die Menschen müssen
»unmittelbar direkt und in allen gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensbereichen darüber
bestimmen, was sie tun wollen, wie sie es tun wollen, womit sie es tun wollen, wann sie es tun wollen,
warum sie es so und nicht anders tun wollen«. Das ist direkte Demokratie, das ist Sozialismus
und er beginnt nicht erst in einer postneoliberalen, nachkapitalistischen Zukunft, er beginnt bereits
heute: im »Wagnis, neue Lebensformen einzugehen, in denen jeder Mensch respektvoll im
alltäglichen Leben behandelt wird«.
Christoph Jünke
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