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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2005, Seite 21

CD-Tipp: Virtuelle Bukowina

Shantel: Bucovina Club Vol.2, Essay recordings

»Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg gelegen zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiaker über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträußen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte.«
Mit diesem Zitat von Georg Heinzen eröffnet Stefan Hantel alias Shantel das Booklet seiner neuen Produktion Bucovina Club Vol. 2. Hantel, der Frankfurter DJ, der vor Jahren mit seinen Auftritten der alten Oper in Frankfurt für Furore sorgte, legt mit dieser Sammlung einmal mehr den Beweis vor, dass Musik dann besonders erfrischend, spannend und sehr wohl tanzbar daherkommt, wenn sie Grenzen hinter sich lässt.
Die Bukowina, heute zwischen der Ukraine und Rumänien aufgeteilt, ist die Heimat der Großeltern von Stefan Hantel. Musikalisch hat er diese entdeckt, als ihm in der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Clubherrschaft des Elektronic Trip Hop zu eng wurde.
Nach DJ-Gigs in den russischen Metropolen nahm Hantel damals einen Umweg über die Heimat seiner Großeltern. Auf Wochenmärkten, Taufen und Hochzeiten begegnete er dem Sound des Balkans, die für ihn einen Ausweg aus dem Korsett der angesagten Frankfurter Clubmusik eröffneten.
Das Ergebnis der Suche nach neuen alten Klängen nicht nur in der Bukowina führte vor zwei Jahren zur Produktion des ersten Bucovina Club- Sampler. Damals mit dabei Boban Markovic und Fanfare Ciorcarlia aus Rumänien. Die Mischung aus Eigenkompositionen und Remixen versprühte eine Freude nicht zuletzt aufgrund der eigenwilligen Mischung aus Clubbeats und Balkanmelodien.
Auf der zweiten Bucovina-Club-Produktion tummeln sich einige der bekanntesten Musiker flotter Musik aus Südosteuropa: Das Boban Markovic Orkestar, die Taraf de Haidouks, die Fanfare Ciocarlia, Goran Bregovic und das Kocani Orkestar. Mit dabei ist auch Dr.Nelle Karajic, bekannt aus Emir Kusturicas Film Schwarze Katze, weißer Kater, und Slonovsk Bal aus Frankreich.
Letztere steuern ein herrlich durchgedrehtes Trinklied bei, das nicht am Ende in Marschtönen heimischer Schützenfestsaufereien endet, sondern gerade zum Ende hin durch seine Leichtigkeit besticht.
Den Bucovina Club bezeichnet Stefan Hantel auch als virtuelle Bukowina. Die Mischung der verschiedenen kulturellen Hintergründe, die das Leben in der Bukowina am Anfang des 20.Jahrhunderts geprägt hat, möchte er in seinen Produktionen zu Gehör bringen.
Es wundert keineswegs, dass diese Musik lebendiger, einfallsreicher und klüger daherkommt als der deutschtümelnde Pop mancher gehipten Nachwuchsband. War die Bukowina doch immerhin die Heimat von Paul Celan, Rose Ausländer und auch des deutsch-jüdischen Tenors Josef Schmidt, der mit »Ein Freund, ein guter Freund« eine Stimmung wiedergibt, die neben dem Melancholischen und der Kirmesatmosphäre, die diese Produktion durchziehen, ebenfalls immer wieder auftaucht.
Am 10.9. und 22.10. ist Shantel mit dem Bucovina Club in Nürnberg im K4 zu sehen und hören.

Thomas Schroedter

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