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Die Bundestagswahl 2005 hat einen eindeutigen Verlierer die Verfechter neoliberaler Politik. In Klassenbegriffen
ausgedrückt: die Unternehmer, die den Hals nicht voll kriegen können, ihre Entourage und ihr politisches Personal. Die FAZ brachte es mal wieder
auf den Punkt: »Industrie von Wahl bitter enttäuscht.« So groß war deren Niederlage noch nie in der Bundesrepublik, nicht einmal zu
Zeiten, als sie von der Union die Losung »Freiheit statt Sozialismus« plakatieren ließen.
Wenn Gewerkschaftsführer wie Michael Sommer aber meinen, die neoliberale Politik
nur auf Seiten der Union suchen zu müssen, haben sie sich geirrt: Union und SPD haben beide aus demselben Grund verloren. »Eine klare Mehrheit
der Deutschen wünscht keine Fortsetzung der rot-grünen Regierung«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung am 20.9. »Eine
ebenso klare Mehrheit will [aber auch] nicht, dass Angela Merkel Kanzlerin wird.« Für Gegnerinnen und Gegner neoliberaler Politik wird es also
nicht nur darum gehen können, Angela Merkel als Bundeskanzlerin oder eine schwarz-gelbe Koalition zu verhindern, es muss auch darum gehen, dem
»roten« Neoliberalismus eine Abfuhr zu erteilen.
Der forcierte Kurs in den Wildwestkapitalismus ist erst einmal gestoppt: aus der Abschaffung
von Kündigungsschutz und Flächentarif, der Kopfpauschale in der Gesundheit, der Mehrwertsteuererhöhung und dem Kirchhofschen
Steuermodell wird so schnell nichts werden. Was die Unternehmer als »Reformstillstand« beklagen, ist für Gewerkschaften und soziale
Bewegungen eine notwendige Atempause, um sich neu aufzustellen und außerparlamentarisch an Kampfkraft zu gewinnen. Eine erfreuliche und gute
Nachricht.
Der SZ-Kommentar fährt fort: »Es gab eine Wechselstimmung weg von Rot-Grün, aber nicht hin zu Schwarz-Gelb.« Wo ist
sie dann hin? Nun, ein Teil davon ist zur Linkspartei, die ihre Wählerstimmen von 1,9 auf 4 Millionen mehr als verdoppelt hat. Ein anderer Teil ist zu den
Nichtwählern: die Zahl der gültigen Stimmen ist nochmals um über 800000 gesunken. Diesmal hat die Union mit 740000 mehr Stimmen an
die Nichtwähler abgegeben als die SPD (510000). Die Linkspartei hat als einzige aus diesem Reservoir Stimmen gewinnen können
insgesamt 390000. Fast eine Million Stimmen sind ihr von der SPD zugewachsen, immerhin 250000 von der Union und 220000 von den Grünen.
Neben dem Einbruch der Volksparteien hat es eine Polarisierung an den Rändern
gegeben: die erklärten Anhänger eines verschärften neoliberalen Kurses sind zur FDP, die erklärten Gegner zur Linkspartei gegangen.
Das drückt eine politische Radikalisierung aus, die dem verschärften Klassenkampf von oben der letzten Jahre inhaltlich entspricht.
Aber die Polarisierung geschieht an der Frage der neoliberalen Demontage des Sozialstaats, sie
geschieht nicht als Polarisierung zwischen Linksradikalismus und Rechtsradikalismus, wie es die offizielle Politik wider besseres Wissen immer wieder darstellt.
Rechtsradikale Gruppen hatten auch diesmal erfreulicherweise keine Chance: NPD und REPs zusammen sind auf 2,2% gekommen, gegenüber den letzten
Bundestagswahlen hat sich ihr Stimmenanteil verdoppelt.
Dass es nicht mehr geworden sind, kann sich immerhin die Linkspartei zugute halten:
»In den letzten Monaten hat die neue Linkspartei [in Ostdeutschland] der NPD einen erheblichen Teil ihres Wählerpotenzials genommen. Der
›Kampf gegen Sozialabbau‹ wurde nun mit mehr Öffentlichkeitswirksamkeit von der Linkspartei geführt. Damit konnte die NPD bei
der Landtagswahl [in Sachsen] noch viele Stimmen gewinnen.« Das schreibt die Financial Times Deutschland am 19.9.
Der Ausgrenzungskurs, der weiterhin gegenüber der Linkspartei betrieben wird, grenzt schon ans Lächerliche: Eine Partei, die im
Großen und Ganzen das vertritt, was die SPD zu Zeiten Willy Brandts auch vertreten hat, wird von allen anderen etablierten Parteien als
»außerhalb des demokratischen Spektrums stehend« diffamiert.
Tatsächlich ist damit nicht mehr passiert, als dass endlich auch in Deutschland eine
gewisse politische Normalität eingetreten ist: Eine Linkspartei, die von sozialdemokratischen bis antikapitalistischen Strömungen reicht, hat eine
komfortable und stabile Vertretung im Bundestag. Dass dies geschehen konnte, verdankt sie dem Willen zur Einheit auf beiden Seiten, vor allem auf Seiten der
WASG, die ja in Kauf genommen hat, dass sie nur auf Listen der PDS kandidieren durfte.
Damit hat sich die Linkspartei auch im Westen etabliert: nur in Schleswig-Holstein und
Niedersachsen ist sie unter 5% geblieben, in Baden-Württemberg und Bayern unter 4%. In Bremen hat sie 8,3% eingefahren, in NRW 5,2%, in Hessen
5,3% und im Saarland, dank Lafontaine, gar 18,5%. Dieses Potenzial verdankt sie nicht der PDS, sondern der Gründung der WASG, die nicht nur im
Westen die Landesverbände einer künftigen gemeinsamen Partei dominieren wird, sondern im Osten der PDS auch zu neuem Auftrieb verholfen
hat. Deren Anpassungskurs hatte bei der Wahl 2002 immerhin dazu geführt, dass die PDS damals fast 600000 Stimmen verlor.
Bei der weiteren Debatte über die Fusion von WASG und PDS und den Kurs der zu
gründenden Partei möge man das politische Ergebnis dieser Wahl deshalb genau beherzigen: Neoliberale Politik wurde abgewählt, ungeachtet
der Partei, die sie durchgeführt hat. Das ist ein starkes Argument für den Austritt aus der Regierungskoalition mindestens in Berlin und es ist ein
starkes Argument für eine eigenständige Kandidatur der WASG gegen die PDS bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl, sollte die PDS dann
immer noch Teil des Senats sein.
Im europäischen Ausland ist der Jubel auf der Linken über dieses Ergebnis
groß besteht doch zum ersten Mal eine ernsthafte Möglichkeit für eine europäische anti-neoliberale Linke, die auch
Deutschland, vor allem Westdeutschland, umfasst. Vor allem in Frankreich steht diese Linke vor der Herausforderung, das Nein zur EU-Verfassung in eine
gemeinsame politische Kraft zu den Wahlen im kommenden Jahr zu übersetzen. Wenn dies gelänge, wäre die Linke in Europa ein
großes Stück stärker und glaubwürdiger geworden.
Die politische Herrschaft des Kapitals hingegen ist geschwächt, weil das neoliberale Projekt stark an Glaubwürdigkeit
eingebüßt hat. Das Handelsblatt (20.9.) drückt das so aus: »Die von Union und SPD stets umworbene gesellschaftliche Mitte, in der
Wahlen gewonnen werden, läuft auseinander … Die Säulen unserer Konsensgesellschaft von der Tarifautonomie bis zur Solidargemeinschaft
der Sozialkassen sind ins Wanken geraten. Zukunftsängste grassieren landauf, landab und erfassen längst auch große Teile der
Mittelschicht.« Die Autorin des Kommentars appelliert: »Christ- und Sozialdemokraten haben die Pflicht, hier gegenzusteuern…«, und
vergisst, dass sie diesen Appell eigentlich an die Unternehmer richten müsste, die die materielle Grundlage für diese Drift schaffen. Der Appell wird
daher auch nicht viel fruchten.
Aber was passiert, wenn die Bindekraft der Volksparteien weiter nachlässt, sprich: der
politische Radikalisierungsprozess weitergeht? Dann müssen wir daran denken, das institutionelle Gefüge zu verändern, sagt das
Handelsblatt. Überlegungen in diese Richtung suggeriert es durch ein Interview mit dem erzreaktionären Historiker Arnulf Baring. Ein kleiner
Auszug sei daraus wiedergegeben:
Frage: »Liegt der Fehler im politischen System?«
Antwort: »Möglich. Das Grundgesetz ist ja eine Verfassung der Angst vor dem
Führerstaat. Es lebt vom Gegensatz zum Dritten Reich. Vielleicht gibt es zu viele Checks and Balances im Grundgesetz, die uns heute hindern.«
Frage: »Was tun?«
Antwort: »Vielleicht brauchen wir einen stärkeren Bundespräsidenten, der
überfällige Reformen per Notverordnung in Kraft setzen kann. Das Parlament müsste natürlich das Recht haben, sie aufzuheben. Unser
Bundestag würde das aber wahrscheinlich nicht tun, wäre vermutlich sogar erleichtert. Denn die Parteien könnten die Schuld für die
unpopulären Reformen dann dem Präsidenten zuschieben. Ich finde, wir sollten unbefangen über ein doppelköpfiges System dieser Art
diskutieren, wie es seinerzeit die Weimarer Republik kannte und jetzt Frankreich besitzt.«
Dass Baring solches denkt, ist nicht von Interesse. Von Interesse ist, dass die führende
deutsche Wirtschaftszeitung dies als einen ernsthaften Diskussionsvorschlag unterbreitet. Der Marsch in die Kanzlerdiktatur ist im Übrigen
unübersehbar. Zuwenig Aufmerksamkeit und Protest auf der Linken hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Zulässigkeit des
Schröder-Putsches erfahren. In seiner Begründung hat es dem Kanzler praktisch uneingeschränkte Vollmacht erteilt, ein Parlament
aufzulösen, wann immer er meint, nicht mehr die ausreichende Mehrheit hinter sich zu haben. Ob ein solcher Fall vorliegt oder nicht sei sein politisches
Urteil, das juristisch nicht nachprüfbar sei.
Schröders Machtstreben hat der parlamentarischen Demokratie bereits großen
Schaden zugefügt und dies mit seiner Zocker-Nummer nach der Wahl: »Weil ich der Kanzler bin…« fortgesetzt. Man muss sich nicht
einbilden, solche Manieren fänden auf konservativer Seite nicht willige Nachahmer, wenn die Situation es denn verlangt.
Angela Klein
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