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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 4

Beerdigen wir die Vereinten Nationen

von Tariq Ali

Die Tagesordnung des Supergipfels der Führer der Welt in New York ließ einen Tagesordnungspunkt vermissen: die Beerdigungsriten für die Vereinten Nationen. Das ganze Reformgerede sollte man fallen lassen, denn die reale Entscheidung, die heute ansteht, ist nicht die zwischen dem derzeitigen Debakel und einer wirklich demokratischen Institution, sondern zwischen diesem Debakel und einem Interventionsinstrument, das der militärischen Absicherung der neuen Weltordnung ebenso dient wie IWF und WTO an der ökonomischen Front. Das ist es, was die USA und Großbritannien wollen. Unter solchen Umständen wäre es besser, die UNO dezent zu beerdigen und es den »humanitären Interventionisten« zu überlassen, dass sie sich eine andere Struktur suchen, um ihre Kriege zu führen.
Die UNO ist vom Kopf her verfault. Ihr Generalsekretär Kofi Annan ist in einen Korruptionsskandal verwickelt. Doch was für einer Organisation steht er vor? Alle stimmen zu, dass Reformen notwendig sind. Keine Einigkeit herrscht darüber, welche das sein sollen. Die Führungsgruppe des Sicherheitsrats steht zur Diskussion. Soll er erweitert werden oder abgeschafft? Die Aussicht auf eine Erweiterung hat zu einer ungeahnten Konkurrenz geführt.
Deutschland möchte permanentes Mitglied sein, doch Italien (unterstützt von den USA) sagt Nein und hat sogar enthüllt, Deutschland habe versucht, einige afrikanische Staaten deswegen zu bestechen. Andere ziehen eine gemeinsame, unter den Mitgliedstaaten rotierende Vertretung der EU im Sicherheitsrat vor. Frankreich und Großbritannien sagen Nein. Die USA wollen Japan als permanentes Mitglied, aber China sagt Nein. Indien will einen ständigen Sitz, aber Pakistan sagt: »Wir sind auch eine Nuklearmacht.« Brasilien und Südafrika wollen ebenfalls in den Sicherheitsrat. Was alles das noch jämmerlicher macht, ist die Servilität der Deutschen, Brasilianer, Japaner und Inder. Sie sind so verzweifelt, dass sie sogar einen subalternen Status ohne Vetorecht akzeptieren würden. So gehen die Machtkämpfe weiter und verschleiern einige der wirklich anstehenden Probleme.
Es ist unmöglich, den heutigen Reformprozess zu verstehen, ohne auf die Ursprünge der Organisation zurückzublicken. Charta und Struktur der UNO wurden akzeptiert, als der Zweite Weltkrieg endete. Eine hervorragende Darstellung dessen, was damals passierte, findet sich in Stephen Schlesingers spritziger Geschichte Act of Creation: the founding of the United Nations, das ich dringend jenen als Gegengift empfehle, die noch immer glauben, die UN-Gründung sei ein Akt des Idealismus gewesen. Schlesinger, ein Professor an der New School University in New York, macht deutlich, dass die UNO eine amerikanische Schöpfung war, dass Roosevelt und Truman in nahezu allen Fragen ihren eigenen Weg gegangen sind. Churchill brummelte, Stalin schacherte, aber Truman gewann.
Während des Kalten Krieges hat die UNO zugeschaut, wie die USA Vietnam überfielen und die Sowjetunion die Aufstände in Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) niederschlugen. Sie konnten auch nicht die Menschenrechte in Chile, Brasilien, Argentinien, Indonesien, Pakistan oder der Türkei verteidigen. Wenn Mitglieder des Sicherheitsrats Kriege vom Zaun brachen, war die UNO machtlos.
USA und Großbritannien haben sich nicht auf ihr Recht auf Selbstverteidigung berufen, als sie 2003 den Krieg gegen den Irak begannen, aber die gefälschten Dossiers, Lügen und ihre Rachsucht gegenüber Journalisten, die sie bloßstellten, waren alle darauf angelegt, Angst vor Saddam Husseins Regime zu schüren. Als die Kämpfe begannen, tat die UNO abermals nichts. Und als Bagdad besetzt wurde, akzeptierte der Sicherheitsrat die Situation und erkannte das Marionettenregime an. Als Pol Pot vom Nachbarstaat Vietnam gestürzt wurde, brauchte die UNO noch 12 Jahre, um seinen Vertreter dort abzulösen. Der tonangebende Staat in der UNO waren damals wie heute die USA. Was die wollen, wird normalerweise gemacht.
Die einzige UN-Reform von Bedeutung wäre die Abschaffung des Sicherheitsrats und die Übergabe der ganzen Macht (speziell bei Fragen, wo es um Krieg geht) an die Generalversammlung, sowie die Verlegung ihres Hauptquartiers nach Caracas oder Kuala Lumpur oder Kapstadt, wo die Mehrheit derjenigen lebt, die die Vereinten Nationen repräsentieren. Dies wird nicht passieren. Oder wir könnten eine alte Idee neu aufleben lassen und regionale Strukturen mit Räten in Amerika, Europa, Ostasien usw. schaffen. Das würde die Macht der USA nicht sofort schmälern, aber immerhin starke regionale, in den Bevölkerungen verankerte Strukturen schaffen.
Doch keine wirkliche Reform dieser Art ist denkbar, wenn sie nicht durch eine ernsthafte Krise ausgelöst wird — bspw. dadurch, dass mehrere wichtige Staaten des Südens ihren Austritt aus der UNO ankündigen, wenn nicht grundlegende Veränderungen durchgeführt werden. Könnte dies passieren?
Vergessen wir nicht, dass viele Staatschefs der UN-Konferenz nicht als Gleiche unter Gleichen, sondern als Bittsteller oder Kunden beiwohnen. Es gibt 191 Mitgliedstaaten, und in 121 von ihnen gibt es eine Militärpräsenz der USA. Wollen wir wirklich die Vereinten Nationen von Amerika? Nein. Besser für alle wäre, wenn wir das ganze Ding beerdigen würden.

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