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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 7

Gegen die Einigungseuphorie

Mitten im Bundestagswahlkampf haben an drei Charité—Krankenhausstandorten in Berlin 500 Beschäftigte gegen den Berliner Senat protestiert. Auf dem Ver.di-Flugblatt heißt es: »SPD und PDS erpressen uns«. Der Unmut der Kollegen richtet sich gegen den drohenden Abbau von 3000 Arbeitsplätzen. Zwei Tage später treffen sich die Beschäftigten der Berliner S-Bahn GmbH zur Betriebsversammlung, da 880 Stellen der 3700 Arbeitsplätze bedroht sind, denn der SPD/PDS-Senat streicht jährlich 26 Millionen Euro Zuschüsse für die nächsten Jahre.
Die großen Wohlfahrtsverbände der Stadt bereiten einen stadtweiten Aktionstag am 29.September gegen die drohenden Kürzungen in der Jugendhilfe vor. Sie protestieren dagegen, dass der rot-rote Senat die Mittel der Jugendhilfe von 2001 bis 2005 von 400 auf 230 Millionen Euro reduziert hat und weitere 33 Millionen Euro gekürzt werden sollen. Ihr Motto: »Berlin bleibt sozial!«
Drei Wochen zuvor berichten andere WASG-Aktivisten von einer Demonstration der Beschäftigten der Bau- und Grünflächenämter gegen die Zusammenlegung ihrer Dienststellen und den damit verbundenen Arbeitsplatzabbau. Es war ein hartes Stück Arbeit, den wütenden Kollegen zu erklären, dass die WASG Berlin nicht an der Senatspolitik beteiligt ist. »Muss ich jetzt den Gysi wählen, wenn ich WASG will? Der ist doch auch für Privatisierungen«, war eine Frage, die uns gestellt wurde. Der Berliner öffentliche Dienst wurde übrigens von 1991 bis heute von 203000 auf rund 130000 Stellen abgebaut.
Bundesweit macht sich die Linkspartei gegen Hartz IV und 1-Euro-Jobs stark, aber in Berlin sind jetzt schon über 24000 1-Euro-Jobber beschäftigt und häufig für Arbeiten eingesetzt, die tariflich bezahlte Arbeitsplätze in Schulen oder Grünflächenämtern ersetzen. Die Personalräte der GEW Berlin gewannen am 14.September einen Prozess gegen das Land Berlin, wo 68 1-Euro-Jobber als Hausmeister und für andere Funktionsjobs in Schulen eingesetzt werden sollten.
In der Wohnungsfrage versprach die PDS-Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner im Januar 2005: »In Berlin wird es keine Umzüge geben.« Anfang September stellte das Stadtforschungsinstitut Topos eine gesicherte Untersuchung vor, nach der rund 40000 Haushalte nach dem 1.1.2006 von Umzug bedroht sind.
Die Mehrheit der Berliner WASGler, die sich einen kritischen Geist gegenüber der Einigungseuphorie bewahrt haben, werden tagtäglich im Wahlkampf mit diesen Widersprüchen konfrontiert und jeder, der diesen Spagat durchhält, ist zu bewundern. Das Regierungshandeln der Linkspartei in der Stadt konterkariert die Bemühungen im Wahlkampf für eine glaubwürdige antineoliberale Politik auf allen Ebenen.
Im Juni 2005 beschloss der Parteitag der Berliner WASG, das bundesweite Wahlbündnis zu akzeptieren, aber gleichzeitig im Herbst 2006 eigenständig zur Berliner Abgeordnetenhauswahl zu kandidieren. Wer wirklich an Inhalten von Politik interessiert ist, wird es der Mehrheit der Berliner WASG nach der obigen Momentaufnahme nicht verdenken können.
Das knapp gescheiterte Volksbegehren Soziales Berlin, das im vergangenen Jahr 55000 Unterschriften zur Abwahl des rot-roten Senats sammelte, kennzeichnete die Senatspolitik so: »Kein anderer Senat in den vergangenen Jahrzehnten hat so ein soziales Massaker in der Stadt angerichtet.«
Wer hier noch immer mildernde Umstände für die Berliner Linkspartei einklagt und die 70 Milliarden Euro Verschuldung der Stadt anführt, irrt leider. Die Linkspartei akzeptiert, wo sie mitregiert, in der Regel die leeren Kassen der Länder und Kommunen. Sie fühlt sich besonders in Berlin der neoliberalen »Haushaltskonsolidierung« um jeden Preis verpflichtet. Dazu der Berliner SPD-Bürgermeister: »In Berlin ist das ganz anders. Hier macht die PDS eine praktische Politik. Sie arbeitet mit an der Umsetzung von Hartz IV, entgegen dem, was ihre Bundespartei fordert. Da ist die PDS durchaus schizophren.«
Und der Chefstratege der Berliner Linkspartei, Wirtschaftssenator Harald Wolf, schreibt in einem beschlossenen Fraktions-Strategiepapier von 2004, die PDS »soll nicht auf mildernde Umstände plädieren, sondern [sich] zum Vorsatz bekennen«. In der Sache habe die rot-rote Koalition »Beachtliches geleistet … Sie hat aufgeräumt, bereinigt und — nicht zuletzt — aufgebaut.«
In Berlin stehen sich stellvertretend für die kommenden Konflikte im gesamten Bundesgebiet zwei linke Konzeptionen gegenüber: Eine Regierungslinke, die unter fast allen Umständen als Mehrheitsbeschaffer der Sozialdemokratie fungieren will, oder aber ein antineoliberaler oppositioneller Block, der die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durch parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit grundlegend verändern will. Diese politische Richtungsauseinandersetzung findet in Berlin zwischen der Mehrheit der Linkspartei und der Mehrheit der Berliner WASG statt.
Es verwundert also nicht, dass namhafte Kräfte der Berliner und auch der Bundes- Linkspartei das Problem »wegfusionieren« wollen — möglichst schon im März kommenden Jahres und allein von Bundestagsfraktion und Bundesvorständen vorbereitet. Das Unverständliche dabei ist: sie finden den einen oder anderen euphorisierten Mitstreiter auch in der WASG. Das Problem bei ihren Begründungen für ihr Handeln ist in der Regel, dass politische Inhalte nicht formuliert werden, sondern diese durch emotionalisierte Appelle zur Einheit mit Worten wie »historische Stunde« ersetzt werden.
Der Grundsatz einer kritischen und rationalen Position muss sein, dass wir eine mögliche Zusammenarbeit mit allen linken Kräften an den politischen Inhalten messen, aber auch am praktischen Handeln unseres möglichen Partners.
Interessant wird die Auseinandersetzung zukünftig auch in Sachsen-Anhalt, wo Mathias Höhn, der PDS-Landesvorsitzende, Diskussionsbedarf mit der WASG sieht. Die Oppositionsrolle im Bund, so Höhn, sei allein nicht ausreichend. »Wir wollen den Regierungswechsel in Sachsen-Anhalt.« Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sind keine Unfälle, sondern politische Strategie der großen Mehrheit der Linkspartei.
Die Perspektive ist klar. Eine Fusion mit der heutigen Linkspartei ist abzulehnen. Grundlage muss die konsequente Ablehnung von Sozialabbau, Arbeitsplatzvernichtung und Privatisierung sein. Das bedeutet: keine Regierungsbeteiligung, wo eine solche Politik geplant oder durchgeführt wird. In Berlin findet, stellvertretend für den Bund eine wichtige Auseinandersetzung um zwei konkurrierende linke Parteikonzepte statt. So oder so, es wird in Berlin 2006 eine linke Kandidatur gegen den rot-roten-Senat und die Linkspartei geben.

Michael Hammerbacher

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