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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 9

Ein klassenkämpferisches Nein

Anders als gewisse Vexierbilder (images d‘Epinal) nahelegen, ist die schweizerische Bourgeoisie stärker als andere international orientiert, der schweizerische Kapitalismus einer der weltoffensten. Schweizerische Unternehmen beschäftigten im Inland etwa 3,5 Millionen Menschen, im Ausland aber mehr als 2 Millionen. Vom Beginn der Industrialisierung an hat es die schweizerische Bourgeoisie auch immer verstanden, eine »Fremdarbeiterpolitik« zu betreiben, welche helvetische Tugenden — also den Ausschluss aller Nicht-Eidgenossen — mit dem leichten Zugang zu billigen Arbeitskräften vereinbarte, die keinerlei Rechte haben: die Migranten.
Seit den 50er Jahren stellen Migranten im Durchschnitt 20% der 7,36 Millionen (2003) starken Bevölkerung des Landes; seit 1980 haben 2 Millionen die schweizerische Staatsangehörigkeit erlangt. Die Bevölkerung der Schweiz hat heute also, zumindest soziologisch gesehen, sehr wenig mit dem eidgenössischen Höhlenbewohner zu tun, der im Schatten seiner Kuhglocken lebt.
Zusammen mit dem Bankgeheimnis — der organisierten Hehlerei von Reichtümern, die anderen Völkern der Erde entwendet wurden — hat die »Fremdarbeiterpolitik« bis zur Schaffung der Eurozone der schweizerischen Bourgeoisie eine Sonderstellung in Europa verschafft. Mit dem Euro und der Erweiterung der EU hat sich das geändert: Jetzt ist der schweizerische Kapitalismus mit einer soliden konkurrierenden Währung und einem Markt konfrontiert, von dem er ausgeschlossen zu werden droht.
Vor diesem Hintergrund hat die Regierung einer Reihe bilateraler Verträge mit der EU ausgehandelt; die Frage des Beitritts der Schweiz zur EU wird wahrscheinlich erst an dem Tag neu auf den Tisch kommen, wenn der Euro seine Feuerprobe bestanden haben wird. Die Verträge beinhalten den Erhalt des Bankgeheimnisses und die »Freizügigkeit des Kapitals, der Güter, Dienstleistungen und Personen«.
Um ein daraus folgendes Lohn- und Sozialdumping zu vermeiden, haben Unternehmer, Regierung und Gewerkschaften eine Reihe von »begleitenden Maßnahmen« zum Schutz vor den Folgen der Personenfreizügigkeit vereinbart. Diese Maßnahmen beruhigen niemanden, aber durch einen perversen Mechanismus, der mit der Unterzeichnung der Tarifverträge zu tun hat, bewirken sie, dass erhebliche Geldbeträge in die Kassen der Gewerkschaften fließen. Grob gesagt kassieren die Gewerkschaftsvorstände für ihr Ja zu den Verträgen, obwohl sie weniger als 10% der abhängig Beschäftigten repräsentieren.
Der Kapitalismus hat immer darauf geachtet, einen kontrollierten Überfluss an Arbeitskräften zu haben. Die schweizerischen Unternehmer sind da Musterknaben: sie haben stets gezielt Migranten geworben auf der Basis von Kontingenten, Reglementierungen und Aufenthaltserlaubnissen, die je auf den Bedarf zugeschnitten waren. Die »Personenfreizügigkeit« ist nur eine neue Variante dieser Politik.
Rudolf Stämpfli, Vorsitzender des Schweizerischen Unternehmerverbands, macht daraus keinen Hehl: »Die Ausländer, die aus den EU-Mitgliedstaaten kommen … verdrängen die schwerer zu integrierenden Migranten, die aus weiter entfernten Ländern kommen … Die Familienzusammenführung für Menschen aus EU-Mitgliedstaaten ist ebenfalls eingeschränkter … Die Einwanderungspolitik geht daher exakt in die Richtung, die das neue Ausländergesetz vorzeichnet und ist konform mit den Bedürfnissen der Schweizer Wirtschaft.«

Reine Ideologie

Da das Arbeitsrecht in der Schweiz miserabel und die Gewerkschaften schwach sind, bedroht »ein freier Import von Arbeitskräften« alle abhängig Beschäftigten — gleich welcher Nationalität und mit welchem Status — mit Lohn- und Sozialdumping. Die Befürworter des Ja anerkennen das selbst, indem sie die »Wirksamkeit der begleitenden Maßnahmen« betonen. Worin bestehen diese?
Der Abstimmungstext bestimmt, dass Dumping dann vorliegt, wenn »offenkundig und wiederholt« Missbrauch getrieben wird. Die einmalige Einstellung von 50 Beschäftigten unter Tarif wäre kein Missbrauch, weil eben einmalig. Im Verlauf der Kampagne wurde auch mehrfach versichert, es würden 150 Arbeitsinspektoren eingestellt. Abgesehen davon, dass dies viel zu wenig ist, um dreieinhalb Millionen Arbeitsverträge zu prüfen, spricht der Abstimmungstext selbst aber nur von »einer ausreichenden Zahl« von Inspektoren, deren Einstellung zudem nicht Pflicht ist.
Darüber hinaus kann die »Ausweitung der Tarifverträge erleichtert« werden, um dem Dumping entgegenzuwirken. Es stimmt, bei »offenkundigem und wiederholtem Missbrauch« ist das möglich, aber nur sofern die Unternehmer dem zustimmen, was sie jedoch häufig genug verweigert haben. Es verfügen jedoch nur 500000 Beschäftigte über einen solchen Tarifvertrag. Für die anderen 3,2 Millionen bedeutet dieses »Zugeständnis« nichts!
In einer Debatte mit dem Autor dieser Zeilen musste die Vertreterin der Unternehmer aus der französischen Schweiz zugeben: »Die Zugeständnisse an die Gewerkschaften bei den begleitenden Maßnahmen sind rein ideologischer Natur, sie kosten uns praktisch nichts.«
Bleibt als Hauptargument das nationale Wirtschaftsinteresse, von dem angeblich das Wohl der Beschäftigten abhängt. Für Wirtschaftsminister Joseph Deiss »gewinnt die Schweizerische Wirtschaft an Flexibilität«, wenn die bilateralen Verträge auf die neuen Mitgliedstaaten ausgedehnt werden. Die Beschäftigten wissen, was damit gemeint ist. Eben deshalb haben die Unternehmer Dutzende Millionen Franken in diese Kampagne investiert, die ihnen so wichtig ist.

Nicht-EU-Ausländer ausgeschlossen
Dennoch hat sich auf der Linken eine Koalition gebildet aus Teilen der extremen Linken und gewendeten Stalinisten, die bis 1989 von der SED finanziert wurden; sie ruft auf, mit Ja zu stimmen, um der Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten. Die konkreten Auswirkungen auf die Beschäftigten wiegen scheinbar weniger als die Tatsache, dass das Referendum mit den meisten Unterschriften von der extremen Rechten lanciert worden ist.
Die Absicht ist löblich, aber die »Personenfreizügigkeit«, um die es hier geht, wird die Spaltung und die Konkurrenz unter den Beschäftigten verschärfen und somit auch die Fremdenfeindlichkeit. Das gilt umso mehr, als »Freizügigkeit« auf ein rein formelles Recht reduziert ist. Mit demselben Grund könnte man behaupten, dass der Freizügigkeitsartikel in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art.13) ein reales Recht auf Niederlassung beschreibt, nicht eins, das durch Elend und Kriege ständig außer Kraft gesetzt wird.
Es sei noch hinzugefügt, dass von der Personenfreizügigkeit mehr als 300000 Menschen »ohne Papiere« vom legalen Zugang zum Arbeitsmarkt dauerhaft ausgeschlossen werden, weil die Schweiz vor kurzem dem Schengener Abkommen beigetreten ist — der Festung Europa!
Sollte am 25.September das Nein siegen, wird es neue Verhandlungen geben müssen, die Zugeständnisse erfordern. Welche? Weder die Schließung der Grenzen noch bürokratische Maßnahmen, sondern eine Verbesserung des Arbeitsrechts. Vor allem muss der Wirkungsgrad der Tarifverträge ohne vorherige Zustimmung der Unternehmer ausgeweitet werden können; es müssen in ihnen Mindestlöhne fixiert werden, und die Vertreter der Beschäftigten müssen gegen Entlassungen geschützt werden. Diese Rechte werden den Beschäftigten erlauben, dem Druck der Unternehmer besser zu widerstehen. Erst wo die Angst nicht mehr greift, kann eine Einheit im Kampf und Solidarität hergestellt werden.

Paolo Gilardi, Genf

Paolo Gilardi ist Mitglied der Bewegung für den Sozialismus (MPS/BFS).



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