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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 12

Nach mir die Sintflut

Der Führer des mächtigsten Landes auf Erden, mit unerschütterlichem Vertrauen in sein göttliches Recht zu herrschen und in die absolute Macht seines zentralisierten Staates, war der Namensgeber Louisianas. Als er 1715 starb, hatte Ludwig XIV. Frankreich zur Führungsmacht Europas erhoben, aber die Nation ausgeblutet; das zwang ihn, den Bauern hohe Steuern aufzubürden, während der Adel gar keine zahlte. Die meisten Menschen lebten in Armut, während der König ein Reich aufbaute.
Nach seinem Ableben herrschte sein Urenkel Ludwig XV. über Frankreich und seine Besitztümer, darunter die Kolonialstadt New Orleans. Er lebte für seinen Genuss und Luxus, während sein Volk weiter in der Verzweiflung versank. Man sagt von ihm, zum Ende seine Lebens habe er die Worte gehaucht: »Nach mir die Sintflut.«
Jahrhunderte später kommt diese Flut über die Bevölkerung von New Orleans, weil die derzeit politisch und wirtschaftlich Herrschenden sie ihrem Schicksal überlassen haben. »Nach mir die Sintflut« ist zu einer Chiffre für die Psychologie derer geworden, die Menschen und Natur ohne Gedanken an morgen in den Ruin treiben. Die Zerstörung von New Orleans stellt den verbleichenden amerikanischen Traum bloß.
»Wächter der Freiheit und des American way of life« künden die Anzeigen für eine Bewerbung bei der Nationalgarde. Für die 38%, die in New Orleans unterhalb der Armutsgrenze lebten, und für die mindestens 37 Millionen im ganzen Land, die ihr Schicksal teilen, ist der Traum vom »American way of life« lange verflogen. Und zum Unglück der Bevölkerung von New Orleans wurden zu viele Nationalgardisten weggeschickt, um »Freiheit und den American way of life« in den Irak zu bringen, statt zur rechtzeitigen Evakuierung der Bevölkerung eingesetzt zu werden.
Auch dieser Traum bricht gerade zusammen, weil die Wahrheit über Tausende toter Zivilisten, den Kollaps der Infrastruktur, den beginnenden Bürgerkrieg, die Stärke der Aufständischen und die Entfesselung eines fanatischen Terrorregimes von Al Qaeda gegen die irakische Bevölkerung allmählich zur amerikanischen Öffentlichkeit vordringt.
Andere Legenden sind noch intakt, wie die Erfolgsstory über die Befreiung Afghanistans, wo die Lebenserwartung bei gerade 44,5 Jahren liegt, eins von fünf Kindern vor dem Alter von fünf Jahren stirbt und Gewalt gegen Frauen ebenso häufig ist wie zu Zeiten der Taliban. Die UNO schätzt, dass jedes Jahr 400000 Afghanen von Naturkatastrophen heimgesucht werden; wenig wird getan, sie davor zu schützen oder ihnen zu helfen. Darin teilen die Bewohner von New Orleans jetzt ein gemeinsames Schicksal mit den Afghanen.
In einem der seltenen Augenblicke, wo die Schranke fällt, die das Fernsehen sonst zwischen dem Zuschauer und der realen Welt aufbaut, erlebten wir einen der ergreifendsten Momente, als Aaron Broussard, Präsident von Jefferson Parish in Louisiana, in Tränen ausbrach: »Die Nachwirkungen von Katrina werden in die Geschichtsbücher als einer der schlimmsten Fälle in der US-Geschichte eingehen, wo Amerikaner auf amerikanischem Boden im Stich gelassen wurden. Nicht allein Katrina hat all diese Toten in New Orleans verursacht. Die Bürokratie hat hier gemordet, und sie muss sich vor dem Kongress verantworten.«
Viele TV-Berichte über Katrina waren in der Tat bemerkenswert und gaben wenigstens annähernd Realität wieder: anders als sonst kamen die Armen zu Wort. Wie lang wird das noch gehen? Bis jetzt war die Fernsehberichterstattung über die Bushregierung nicht viel besser als die speichelleckenden Adligen am Hof Ludwigs XIV.
Nach dem 11.September wurden die Nachrichtenredaktionen eingeschüchtert. In einem berühmten Artikel für das New York Times Magazine schrieb Ron Suskind, die Bush-Administration baue »auf den Glauben«. Er zitierte einen älteren Beamten aus dem Weißen Haus, der hatte Journalisten und andere, die auf die Wirklichkeit bauen wollten, mit den Worten entlassen: »Jetzt sind wir ein Reich, und wenn wir handeln, schaffen wir uns unsere eigene Wirklichkeit.«
Es ist gefährlich, einen Präsidenten zu haben, der vor allem auf seine Instinkte und seinen Glauben setzt, er sei von Gott geführt. Aber nur wenn die Nachrichtenmedien über seine Taten unkritisch berichten, ist es ihm möglich, jenen Vertrauen einzuflößen, die er führt.
Jetzt trauen sich Journalisten kritische Fragen, fordern Rechenschaft für die Warnungen, die die Regierungen in den Wind geschlagen hat: dass die Deiche brechen würden, wenn sie nicht repariert würden, weil die Mittel dafür gekürzt wurden. Sie fordern Rechenschaft auch dafür, dass den Mittellosen nicht geholfen wurde, sich in Sicherheit zu bringen. Die Kameras haben wenigstens etwas von dem Leid gezeigt, mehr als wir im Irak gesehen haben. Zum ersten Mal seit Jahren brechen sich wieder Worte wie »Rasse«, »Klasse« und »Armut« Bahn.
Eine der Fragen, die wir am häufigsten im Fernsehen hörten war: »Wie konnte dies geschehen, in Amerika?« Eine Antwort liegt in der Haltung der Nachrichten und Unterhaltungssendungen solch ernsten Fragen gegenüber — ob sie nur einem mystischen American way of life nachrennen oder sich mit der tatsächlichen Existenz eines zivilisierten Volkes beschäftigen. Wenn die Gesellschaft aber zivilisierter werden soll, muss es einen Journalismus geben, der jeden Tag den Schleier über den Tatsachen lüftet, nicht nur dann wenn die Katastrophe zuschlägt.
Deshalb gründen wir jetzt ein Unabhängiges Weltfernsehen (Independent World Television), aus den Mitteln von Tausenden kleiner Spenden, frei von Geldern der Regierung und der Unternehmen.

Paul Jay

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