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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 14

H5N1

Die Vogelgrippe auf dem Vormarsch

Die tödliche Vogelgrippe ist auf dem Vormarsch. Die ersten Streifengänse sind bereits in ihren Winterquartieren nahe des Kauveriflusses im südindischen Bundesstaat Karnataka eingetroffen. In den kommenden Wochen werden weitere 100000 Gänse, Möwen und Kormorane ihr Sommerdomizil am Qinghai-See in Westchina verlassen und sich auf den Weg nach Indien, Bangladesh, Myanmar und Australien machen.
Eine unbekannte Anzahl dieser schönen Zugvögel wird Träger von H5N1 sein, dem Subtyp der Vogelgrippe, der in Südostasien 61 Menschen getötet hat und von dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fürchtet, dass er kurz davor steht, pandemische Formen anzunehmen — der Art, die im Herbst 1918 50—100 Millionen Menschen getötet hat. Wenn die Vögel in den Feuchtgebieten Südasiens auftauchen, werden sie das Virus ins Wasser ausscheiden, aus dem Zugvögel aus Europa und heimisches Hausgeflügel es aufnehmen können. Im schlimmsten Fall gelangt die Vogelgrippe bis vor die Tore der dicht bevölkerten Slums von Dhaka, Kolkata, Karachi und Mumbai.
Der Ausbruch der Vogelgrippe am Qinghai-See wurde erstmals von chinesischen Naturschutzbeamten Ende April festgestellt. Anfangs war sie auf eine kleine Insel in dem riesigen Salzsee begrenzt, wo Gänse plötzlich krampfartige Bewegungen machten, zusammenbrachen und starben. Mitte Mai hatte sich die Seuche auf die gesamte Vogelpopulation des Sees ausgedehnt und Tausende von Vögeln getötet. Ein Ornithologe nannte es »den umfassendsten jemals beobachteten Fall tödlicher Vogelgrippe unter Wildvögeln«.
Chinesische Wissenschaftler sind mittlerweile erschrocken über die Virulenz des neuen Stamms: Wenn Mäuse damit infiziert werden, sterben sie noch rascher als bei einer Injektion mit dem »Genotyp Z«, der gefürchteten H5N1-Variante, der gegenwärtig in Vietnam Bauern und ihre Kinder zum Opfer fallen.

Chinesische Versäumnisse

Yi Guan, Leiter eines Teams zur Erforschung der Vogelgrippe, das seit 1997 gegen die drohende Epidemie kämpft, klagte im Juli gegenüber dem Londoner Guardian über die lasche Reaktion der chinesischen Behörden auf die biologische Katastrophe am Qinghai-See.
»Sie haben fast nichts unternommen, den Ausbruch der Epidemie unter Kontrolle zu bekommen. Sie hätten um internationale Hilfe bitten sollen. Diese Vögel werden Indien und Bangladesh erreichen und dort auf Vögel aus Europa treffen.« Yi Guan sprach sich für die Schaffung einer internationalen Taskforce zur Beobachtung der Epidemie bei Wildvögeln sowie für die Lockerung der Regeln aus, die den freien Zugang ausländischer Wissenschaftler zu den betroffenen Gebieten Chinas verhindern.
In einem vom britischen Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichten Bericht enthüllten Yi Guan und seine Mitarbeiter auch, es gebe Verbindungen zwischen dem Virusstrang vom Qinghai-See und dem offiziell nicht bekannt gemachten jüngsten Ausbruch von H5N1 bei Vögeln in Südchina.
Nicht zum ersten Mal werden chinesische Behörden beschuldigt, einen Ausbruch zu verheimlichen. Sie logen auch über den Charakter und das Ausmaß der SARS-Epidemie 2003, die von Guangdong ausging und sich rasch auf 25 weitere Länder ausbreitete. Die chinesische Bürokratie versucht nun, die Forscher zum Schweigen zu bringen, indem sie eines von Yi Guangs Laboratorien an der Universität von Shantou schließt und das konservative Landwirtschaftsministerium mit neuen Vollmachten über die Forschung ausstattet.
Mittlerweile ist H5N1 in die Außenbezirke der tibetischen Hauptstadt Lhasa, die Mongolei und in die Nähe der sibirischen Metropole Nowosibirsk vorgedrungen. Experten des russischen Gesundheitsministeriums haben sich pessimistisch darüber geäußert, dass die Epidemie auf die asiatische Seite des Urals beschränkt werden kann. Sibirische Zugvögel wandern jeden Herbst zum Schwarzen Meer und ins südliche Europa; eine weitere Zugvogelroute führt von Sibirien nach Alaska und Kanada.
In Erwartung dieses nächsten, vielleicht unvermeidlichen Stadiums der Weltreise der Vogelgrippe werden Geflügelpopulationen in Moskau gekennzeichnet; Wissenschaftler in Alaska untersuchen den Vogelzug über die Beringstraße, und selbst in der Schweiz schaut man besorgt auf Reiherenten und Tafelenten, die aus Eurasien kommen.
Das menschliche Epizentrum von H5N1 weitet sich ebenfalls aus: Mitte Juli bestätigten indonesische Behörden, in einem wohlhabenden Vorort von Jakarta seien ein Vater und seine zwei jungen Töchter an der Vogelgrippe gestorben. Beunruhigenderweise hatte die Familie keinen Kontakt mit Geflügel, und in der Nachbarschaft brach beinahe Panik aus, als die Presse über eine mögliche Übertragung der Krankheit von Mensch zu Mensch spekulierte.
Gleichzeitig wurden in Thailand fünf neue Fälle bei Geflügel bekannt. Damit erhielt die massive und medienwirksame Kampagne des Landes zur Ausrottung der Krankheit einen schweren Schlag. In Vietnam, einem Hauptsorgenkind der WHO, hat H5N1 neue Opfer gefordert; die Behörden haben ihren Appell nach verstärkter internationaler Hilfe erneuert.
Die Vogelgrippe ist ursprünglich unter Geflügel in Südostasien endemisch und wahrscheinlich nicht ausrottbar. Jetzt scheint sie sich mit der Geschwindigkeit einer Epidemie unter Zugvögeln auszubreiten — mit der Gefahr, sich binnen eines Jahres über den größten Teil der Erde zu verbreiten.
Jeder neue Außenposten von H5N1 — ob unter Enten in Sibirien, Schweinen in Indonesien oder Menschen in Vietnam — bietet dem sich rasch entwickelnden Virus eine weitere Gelegenheit, das Gen oder sogar bloß die Proteinmutation zu erwerben, die es benötigt, um massenhaft Menschen zu töten.
Die exponenzielle Zunahme von Krisenherden und stummer Wirte (wie infizierte Enten, die keine Symptome aufweisen) hat dazu geführt, dass die Warnungen von Wissenschaftlern, Gesundheitsbeamten und sogar Regierungen in den letzten Monaten immer eindringlicher wurden.

USA: nicht vorbereitet

Der neue US-Gesundheitsminister Mike Leavitt äußerte Anfang August gegenüber Associated Press, eine Grippeepidemie wäre jetzt »absolut sicher« — damit wiederholte er die Warnungen der WHO, sie sei »unvermeidlich«. Dem Magazin Science zufolge schätzen Experten die Chance für einen globalen Ausbruch auf »100%«.
Dieselbe düstere Stimmung verbreitet die britische Presse; die Behörden halten bereits Ausschau nach passenden Örtlichkeiten für Leichenhallen mit großen Kapazitäten. Amtliche Befürchtungen gehen davon aus, dass die Vogelgrippe in Großbritannien 700000 Menschen töten könnte. Die Blair-Regierung führt Katastrophenübungen durch, die den Ausbruch einer Epidemie simulieren, und soll schon eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen haben, die die Notmaßnahmen im Krisenfall koordiniert.
Von alldem ist in Washington wenig zu spüren. Während das Nationale Gesundheitsamt um die extreme Dringlichkeit weiß und Anthony Fauci, der »Zar der Epidemieplanung«, vor der »Mutter aller Infektionen« warnt, scheint das Weiße Haus weit weniger durch einwandernde Seuchen beunruhigt als durch das mutwillige Gemetzel im Irak.
Eine große NGO, der Trust for America‘s Health, warnte, die Vorsorge für eine Epidemie in den USA läge weit hinter den Maßnahmen in Großbritannien und Kanada zurück, die US-Regierung habe es versäumt, »eine kohärente, rasche und transparente Strategie aufzustellen«.
Der republikanische Senator Bill Frist aus Tennessee hatte bereits Anfang Juni die Regierung kritisiert. Dabei bezog er sich auf Washingtons Versäumnis, einen angemessenen Vorrat an Tamiflu (ein Medikament mit dem Wirkstoff Oseltamivir) anzulegen, und bemerkte sarkastisch: »Um mehr Antivirenmittel zu erwerben, müssten wir uns erst hinter Großbritannien, Frankreich, Kanada und anderen in die Schlange stellen, denn die haben schon zig Millionen Einheiten bestellt.«
Auch die Presse prangerte Washingtons Versäumnis an, genug Antivirenmittel vorrätig zu halten und die Produktion von Impfstoffen auf den neuesten Stand zu bringen: die New York Times am 17.Juli, Nature in einer Sondernummer im Mai, Foreign Affairs in der Juli-August-Ausgabe. Der aktuelle Vorrat reicht nicht einmal für 1% der US-Bevölkerung.

Impfstoff nur für wenige

Das Gesundheitsministerium hat jüngst versucht, die Kritiker durch höhere Ausgaben für die Erforschung von Impfstoffen zu beruhigen. Regierung und Medien machten viel Aufhebens von angeblich erfolgreichen Tests mit einem Impfstoff gegen die Vogelgrippe.
Aber es gibt keine Garantie, dass der Impfstoff, der auf einem »genetisch modifizierten« Stamm von H5N1 beruht, auch gegen einen pandemischen Stamm mit anderen Genen und Proteinen wirkt. Außerdem wurden bei den Tests zwei Dosen zuzüglich einer Auffrischungsimpfung verabreicht, darauf beruhte ihr Erfolg. Da die Regierung aber nur 2 Millionen Dosen Impfstoff beim Pharmariesen Sanofi-Pasteur bestellt hat, können allenfalls 450000 Personen geschützt werden.
Die Umstellung auf eine größere Produktion würde Monate erfordern; sie stieße an die Grenzen einer veralteten Technologie der Impfstoffherstellung, die von der begrenzten und prekären Versorgung mit fruchtbaren Hühnereiern abhängt. Damit verbunden wäre auch die Senkung der Produktion des Impfstoffs gegen die alljährliche Wintergrippe, der so oft Lebensretter für viele ältere Bürger ist.
Bei neuen Bestellungen von Tamiflu muss sich Washington, wie Senator Frist vorhergesagt hat, in die Warteliste hinter anderen Kunden aufstellen; der Schweizer Pharmakonzern Roche ist der einzige, der das Antivirenmittel herstellt. Dass die Impfstofftests erfolgreich waren, ist eine gute Nachricht, doch sie ändert nichts am Urteil der New York Times, dass »es nicht genug verfügbare Medikamente gibt, um mehr als eine Handvoll Menschen zu schützen, und die industrielle Kapazität fehlt, schnell mehr davon herzustellen«.
Die Mehrheit der Weltbevölkerung — darunter die in den armen Ländern Südasiens und Afrikas, die, wie uns die Geschichte lehrt, von Epidemien besonders hart betroffen werden — wird keinen Zugang zu teuren Antivirenmitteln oder seltenen Impfstoffen haben. Es ist sogar zweifelhaft, ob die WHO über das Minimum an Medikamenten verfügt, um auf einen ersten Infektionsherd zu reagieren.
Neuere theoretische mathematisch-epidemiologische Studien in Atlanta und London haben die Hoffnung geweckt, dass eine Pandemie im Keim erstickt werden kann, wenn 1—3 Millionen Dosen von Tamiflu verfügbar sind, um die Infektion auf einen Sicherheitsradius um die ersten Fälle herum zu begrenzen. Nach langjährigen Bemühungen ist es der WHO jedoch nur gelungen, einen Vorrat von 123000 Dosen von Tamiflu anzulegen. Obwohl Roche versprochen hat, mehr zur Verfügung zu stellen, wird der verzeifelte Andrang reicher Länder auf das Medikament die Bemühungen der WHO wohl durchkreuzen.
Ein universell verfügbarer »Weltimpfstoff« wird ohne ein Milliarden- Dollar-Engagement der reichen Länder, vor allem der USA, wohl ein Wunschtraum bleiben, und selbst dann ist es wahrscheinlich zu spät.
»Die Leute kriegen es einfach nicht«, klagt Michael Osterholm, Direktor des Instituts zur Erforschung von Infektionskrankheiten an der Universität von Minnesota. »Wenn wir heute mit einer Art ›Manhattan Project‹ reagieren würden, um die Produktion von Impfstoffen und Medikamenten auszuweiten, hätte dies keine messbare Auswirkung auf ihre ausreichende Verfügbarkeit, um wenigstens einige Jahre gegen eine weltweite Pandemie anzugehen.«
»Einige Jahre« ist ein Luxus, den Washington bereits vergeudet hat. Während die Gänse auf dem Weg nach Westen und Süden sind, läuft uns die Zeit davon. In den Worten Shigeru Omis, Direktor der WHO für den Westpazifik: »Wir haben den entscheidenden Wendepunkt erreicht.«

Mike Davis

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