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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 14

Irak

Neoliberale Verfassung

Am 30.Juni veröffentlichte die irakische Zeitung Al Mada einen Verfassungsentwurf, den irakische Politiker untereinander ausgehandelt hatten. Er war den US-amerikanischen Besatzern ein Dorn im Auge.

Die Iraker — auch solche, die bereit sind, mit den Amerikanern zusammen zu arbeiten — wollten, zumindest auf dem Papier, in der arabischen Wüste einen Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Muster errichten: Die reichen Öleinkommen sollten dazu genutzt werden, jedem irakischen Bürger das Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung und andere Sozialleistungen zu sichern. »Soziale Gerechtigkeit ist die Basis des gesellschaftlichen Wiederaufbaus«, hieß es in dem Entwurf. Alle Rohstoffvorkommmen des Irak sollten öffentliches Eigentum des irakischen Volkes sein. Jedermann sollte ein Recht auf Arbeit haben, der Staat sollte gesetzlich verpflichtet sein, jedem einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Der Staat sollte das gemeinsame Instrument des irakischen Volkes sein, das Land zu entwickeln.
Die Iraker wollten damit ein ganz anderes Land aufbauen als die US-Besatzer. Letztere wollten die »Wunschliste der internationalen Investoren« durchsetzen, wie die britische Wirtschaftszeitung The Economist schrieb. Als Besatzungsmacht hatten die USA Gesetze erlassen, die vorsahen, ausländische Investoren mit Irakern auf dem einheimischen Markt gleich zu stellen, ihnen die vollständige Rückführung ihrer Gewinne zu erlauben, ein kaum progressives Steuersystem einzuführen, Zölle aufzuheben, eine strikte Garantie geistiger Eigentumsrechte durchzusetzen, einen Großteil staatlicher Betriebe zu verkaufen, Subventionen für Nahrungsmittel und Energie abzubauen und Sozialleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wasserversorgung u.a. zu privatisieren.
In der späteren Version des Verfassungsentwurfs, die im Juli bekannt wurde, waren die fortschrittlichen Bestimmungen gestrichen. Als der endgültige Entwurf am 28.August auf dem Tisch lag, waren Bestimmungen hinzugekommen, die ihren neoliberalen Charakter noch stärker unterstreichen.

Soziale Gerechtigkeit gestrichen

Gestrichen war der Artikel, der soziale Gerechtigkeit als Grundlage der Wirtschaft beschrieb. An seine Stelle trat der Vorbehalt, der Staat sei verpflichtet, »die irakische Wirtschaft auf moderne wirtschaftliche Grundlagen zu stellen, sodass ihre Ressourcen vollständig investiert, ihre Ressourcen diversifiziert und der private Sektor entwickelt und gefördert wird«. Ein weiterer Artikel fordert: »Das Land wird die Förderung von Investitionen in verschiedenen Sektoren garantieren.«
Dies kann man nur als Umschreibung der neoliberalen »Reform«pakete verstehen, die Dutzenden von Entwicklungsländern auf der Welt vorgeschrieben und aufgezwungen wurden. Standardmäßig umfassen sie die Privatisierung von Staatsbetrieben, die Liberalisierung des Handels, die Deregulierung der Märkte und ihre Öffnung für ausländische Investoren. Statt die sog. Bremer-Gesetze (genannt nach Paul Bremer, bis zum 28.Juni 2004 Chef der Übergangsverwaltung) und die Verordnungen der Besatzungsbehörden aufzuheben, soll die Verfassung die Iraker verpflichten sie umzusetzen.
Gestrichen wurde auch der Grundsatz des öffentlichen irakischen Eigentums am Öl und anderen Rohstoffvorkommen und die staatliche Verpflichtung, sie zu schützen. Ein neuer Artikel schafft jetzt die legale Grundlage für den Ausverkauf des irakischen Öls und seine Unterwerfung unter die Kontrolle großer ausländischer Ölkonzerne. Artikel 110 geht so weit zu fordern, dass »die Zentralregierung und die Regierungen der Öl produzierenden Regionen gemeinsam die notwendigen strategischen Entscheidungen fällen werden, die Öl- und Gasvorkommen zum größten Nutzen des irakischen Volkes zu fördern; sie stützen sich dabei auf die modernsten Techniken marktwirtschaftlicher Grundsätze und ermutigen Investitionen«.
Mit »modernen Formen marktwirtschaftlicher Grundsätze« meint der Entwurf wahrscheinlich bestehende Vorhaben, die auch von der Interimsregierung befürwortet werden, die staatliche Ölgesellschaft zu privatisieren und die Ölreserven des Irak für die großen Ölkonzerne zu öffnen.
Im Verlauf der Verhandlungen über die Verfassung hatte der Vorsitzende des Obersten Rats für die Islamische Revolution (SCIRI), Ayatollah Abd al-Aziz al-Hakim, massiv darauf gedrungen, im Süden des Landes einen schiitischen Sub-Staat aus 9 von 18 irakischen Provinzen zu schaffen. Der Verfassungsentwurf würde diesem Sub-Staat erlauben, selbstständig über die Ölvorkommen auf seinem Territorium zu verfügen, aus den bereits erschlossenen Ölfeldern erhebliche Einkünfte zu beziehen und aus den noch zu erschließenden bis zu 100% der Einkommen einzustreichen. Die Befürwortung des Föderalismus durch die US-Regierung hat viel damit zu tun, dass die Kräfte, die letzten Endes über die irakischen Ölreserven bestimmen werden — die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden — sich erklärtermaßen für deren Privatisierung ausgesprochen haben.
Im Gegensatz zum Eindruck, der in den Medien erweckt wurde, ist eine deutliche Mehrheit der Iraker — Sunniten wie Schiiten — gegen den Föderalismus. Eine Umfrage des International Republican Institute — eine US- Behörde, die den Auftrag hat, im Irak politische Parteien aufzubauen, die für den Freihandel sind — ergab im Juli 2005, dass 69% der Iraker im ganzen Land eine Verfassung wollten, die »eine starke Zentralregierung« errichtet; nur 22% wollten »Regionalregierungen mit maßgeblichen Kompetenzen« ausstatten. Selbst im schiitisch beherrschten Süden sind nur 25% für den Föderalismus, 66% lehnen ihn ab.
Während die Verfassung den Öl fördernden Regionen das Recht gibt, eine eigene Ölpolitik zu betreiben, fordert sie zugleich, dass der Zentralstaat »die Freizügigkeit von Personen, Waren und irakischem Kapital zwischen den Regionen und Provinzen« garantiert. Diese Rollenaufteilung zwischen Zentralstaat und Regionen folgt dem Konzept des »marktförderndem Föderalismus«, das neoliberale Verfassungsrechtler verfechten: Darin hat der Staat nur das Recht, auf seinem Territorium den gemeinsamen Markt zu fördern; die Macht, ihn zu regulieren, wird an schwächere Sub-Staaten delegiert. Für Neoliberale ist der Föderalismus so lange akzeptabel, wie Regionen keine Hindernisse für den Freihandel aufbauen und nicht stark genug werden, selber eine Arbeitsmarkt-, Umwelt- und Sozialpolitik treiben zu können.
Die Verfassung legt auch den Grundstein für den möglichen Erwerb irakischer Beteiligungen — Aktien, Immobilien oder anderes Kapital — durch ausländische Privatpersonen oder multinationale Konzerne. Steht im Juni- Entwurf noch: »Iraker haben das volle und unbedingte Recht auf Eigentum auf allen Gebieten ohne Einschränkungen«, so wurden in der Endfassung die Wörter »unbedingt« und »ohne Einschränkungen« fallengelassen und stattdessen hinzugefügt: »Ausnahmen regelt das Gesetz.«
Bremers Verordnung 39 erlaubte bereits ausländischen Besitz an irakischen Vermögenswerten. Wenn diese Verordnung nun in ein Gesetz umgewandelt wird, hebt die Verfassung die Einschränkung auf, dass ausschließlich Iraker das Recht auf Eigentum an irakischen Vermögenswerten haben. Die Verordnung bezieht sich noch nicht auf das Öl, aber das kann schnell kommen, urteilt man nach den Erklärungen der irakischen Regierungsbeamten.
Die sog. »Bestimmungen über das nationale Vermögen«, die gewisse Teile der Wirtschaft eines Landes wie Grund und Boden oder Naturvorkommen seinen Bürgerinnen und Bürgern vorbehalten, finden sich in den Verfassungen vieler Entwicklungsländer. Aus der irakischen wurden sie entfernt.
Die Medien verlieren sich in Geschichten über Sunniten, Schiiten und Kurden, die über die Öleinkünfte streiten, aber sie unterschlagen wohlweislich den Konflikt zwischen Irakern und Nicht-Irakern. Die Verfassung bereitet damit den Boden, dass Nicht-Iraker in Zukunft ebenso viele Rechte über irakisches Öl haben wie die Iraker selbst.

Generalprivatisierung

Der Juni-Entwurf verpflichtete den Staat zu sozialen Leistungen, einschließlich kostenloser Schulbildung und Gesundheit. Der IWF hätte darin ernste rechtliche Hindernisse für seine Verordnungen gesehen, die darauf bestehen, dass die Regierung Subventionen an Iraker streicht. In der Juli-Version hieß es dann, soziale Leistungen würden bereit gestellt, aber nur, wenn die Regierung sich diese leisten kann. Der letzte Entwurf kennt nur noch eine vage Zusicherung von Sozialleistungen, fügt aber zugleich eine Passage über die Rolle des privaten Sektors hinzu.
Diese subtilen Änderungen sind von Bedeutung, denn sie verweisen auf die kommende Generalprivatisierung der öffentlichen Dienste im Irak, die von Unternehmen gefordert wird, die im Irak den Bildungs- und Gesundheitssektor »restrukturieren« wollen und dafür von USAID finanziell unterstützt werden.
Die irakische Verfassung wird wahrscheinlich auch die einzige auf der Welt sein, die die »Bekämpfung des Terrorismus« zu einem Staatsziel erklärt. Da besatzungsfreundlich eingestellte Iraker und US-Beamte im irakischen Diskurs mit »Terrorismus« die Widerstandsbewegung bezeichnen, könnte diese Klausel dazu benutzt werden, anhaltende militärische Operationen gegen politische Kräfte zu legalisieren, die sich weigern, die Besatzung und den politischen Prozess, den sie hervorgebracht hat, anzuerkennen. Wie in anderen Ländern auch könnte der »Krieg gegen den Terror« dazu benutzt werden, eine ständige Militärpräsenz der USA im Irak zu rechtfertigen.
Der Inhalt der irakischen Verfassung ist von größtem Interesse für diejenigen, die die irakische Wirtschaft entlang neoliberaler Grundsätze wieder aufbauen wollen. Sie stellt das rechtliche Fundament dar, auf dem sich später der sog. »Rechtsstaat« erheben soll — ein Regelwerk, auf das man sich ständig beziehen wird, um darauf zu pochen, dass die Regierung in Wirtschaft und Handel, bei Investitionen und Privatisierungen und in vielen anderen Politikfeldern nur eine untergeordnete Rolle spielen darf — und das noch lange nachdem die 160000 Besatzungstruppen abgezogen sind. Der Irak ist hier nur ein Vorreiter für die Beseitigung fortschrittlicher nationaler Wirtschaftsbestimmungen in den Verfassungen und Rechtssystemen von Dutzend anderen Entwicklungsländern auf der Welt.

Herbert Docena

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