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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite

Venezuela

Revolution in der Revolution

Der sich in Venezuela entfaltende politische Kampf ist in der heutigen Welt zum wichtigsten Bezugspunkt sowohl für die Linke als auch für die Bewegung für globale Gerechtigkeit geworden. Sehr deutlich wurde dies in Porto Alegre beim 5.Weltsozialforum, als Hugo Chávez — im Gegensatz zum brasilianischen Präsidenten Lula — ein grandioser Empfang bereitet wurde.

Mit den entscheidenden Siegen bei den diversen Referenden des letzten Jahres begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte Venezuelas. Chávez und seine ihm am nächsten stehenden Unterstützer sprechen jetzt von einer »neuen Phase«, von einem »Sprung nach vorne«, von der »Revolution in der Revolution«. Im November 2004 fand ein Treffen mit allen neugewählten Bürgermeistern und Gouverneuren statt, um mit dem Entwurf eines neuen »strategischen Plans« zu beginnen.
Seitdem wendet sich Chávez immer mehr nicht nur gegen den »Neoliberalismus«, sondern direkt gegen den Kapitalismus. Beispielsweise wies er zu Beginn diesen Jahres auf die Notwendigkeit hin, sozialistische Lösungen für das 21.Jahrhundert (wieder) in Betracht zu ziehen. Im April dann sprach er es endlich deutlich aus: »Ich bin ein Sozialist.« Und: »Sozialismus. Darauf steuern wir zu.«

Mobilisierungsfähigkeit

Auch auf die Gefahr hin, zu stark zu vereinfachen, kann bei dem in Venezuela stattfindenden Prozess von zwei großen Stärken und von zwei großen Schwächen gesprochen werden.
Eine der wichtigsten Stärken der bolivarischen Revolution beruht auf der enormen Mobilisierungsfähigkeit der venezolanischen Bevölkerung. Diese Mobilisierungsfähigkeit hat sich während der vergangenen sechs Jahre, der Jahre der eigentlichen bolivarischen Revolution, einige Male gezeigt. Das wichtigste Ereignis war hierbei sicherlich der Aufstand vom 11. bis 13.April 2002, der den von Washington unterstützten Staatsstreich stoppte und Chávez nach nur 48 Stunden in den Präsidentenpalast zurückbrachte.
Diese Mobilisierungsfähigkeit hat sich auch an den Wahlurnen gezeigt — acht- oder neunmal in den letzten sechseinhalb Jahren. Chávez, der in den internationalen Medien regelmäßig als »Autoritärer«, »Einheizer« und »Putschplaner« bezeichnet wird, hat damit einen Rekord an Wahlsiegen aufgestellt, der bisher von keinem anderen bürgerlichen Demokraten der Welt gebrochen werden konnte. Jedoch waren diese Mobilisierungen hauptsächlich defensiver Natur. Sie demonstrierten, dass eine Mehrheit des venezolanischen Volkes bereit ist, zu kämpfen, um das zu verteidigen, was die Menschen als ihre Regierung, als ihre Führung, als ihre Revolution betrachten.
Teile der Bevölkerung wurden aber nicht nur für die Verteidigung des Erreichten aktiv. Auf ganz unterschiedliche Weise begannen die Menschen, sich auch für das noch nicht Erreichte einzusetzen. Zum Beispiel bildeten die Bewohner der städtischen Elendsviertel Komitees, die sich mit der Land-, der Gesundheits- und der Wasserfrage auseinandersetzen und die einige der außerhalb der Ministerien angesiedelte Sozialprogramme der Regierung, die sog. Misiones unterstützen und »managen«. Außerdem gab es mehrere Versuche (die allerdings immer wieder von den mit Chávez sympathisierenden lokalen Regierungsvertretern vereitelt wurden), lokale oder kommunale Planungsräte einzurichten, die Investitionspläne und den lokalen Regierungshaushalt aufstellen und einführen sollten.
Als Antwort auf den Ruf der Regierung, eine »endogene«, das heißt integrierte, selbstversorgende Entwicklung voranzutreiben, wurden mehr als 40000 städtische und ländliche Kooperativen unterschiedlichster Art gegründet, von denen jedoch die meisten noch nicht verwirklicht sind, sondern sich noch in der Planungsphase befinden. Schließlich gibt es auch einige zaghafte und vorsichtige Versuche in einigen Fabriken und an einigen Arbeitsplätzen, eine Art von Arbeiterkontrolle einzuführen.

Führungsfähigkeit

Die zweite große Stärke, die sich bei dem politischen Prozess in Venezuela beobachten lässt, sind die sich entwickelnden Führungsqualitäten, die Chávez und seine engsten Mitarbeiter zeigen.
Ja, es gibt bei Chávez Aspekte von linkslastigem Populismus, militärischem Nationalismus und von purem Pragmatismus gepaart mit einem Gutteil flammender Rhetorik. Aber nichts davon trifft Chávez‘ Sinn für Taktik, seine großen pädagogischen Fähigkeiten oder seine tiefe, radikale Überzeugung, die bei seiner Regierungstätigkeit immer deutlicher zu Tage treten.
Seine Prinzipien können in vier grundlegenden Punkten zusammengefasst werden:
Souveränität: Venezuela (und auch ganz Lateinamerika) muss die völlige Kontrolle über seine Ressourcen, sein Territorium und seine Entscheidungsprozesse zurückerlangen.
Beteiligungsdemokratie: Die einzige Möglichkeit Armut abzuschaffen, ist, den Armen Macht zu geben.
Neue Wirtschaft: das neue notwendige Wirtschaftsmodell kann nicht innerhalb des Kapitalismus verwirklicht werden.
Internationalismus: Es gibt keine Lösungen rein auf der nationalen Ebene.
Es gibt natürlich einen wichtigen Faktor zugunsten des in Venezuela stattfindenden Prozesses, der wenig mit der politischen Kreativität von Chávez oder den Venezolanern zu tun hat, nämlich das Öl. Venezuela ist nicht nur der fünftgrößte Ölproduzent der Welt und der Hauptlieferant allen Treibstoffs, der an der Ostküste der USA verbraucht wird.
Es wird auch gerechnet, dass Venezuela die größten Ölreserven der Welt hat, wenn man das superschwere Rohöl im Orinoko-Gürtel dazuzählt. Venezuelas Ölreichtum hat den Venezolanern ein Vermächtnis tiefer ökonomischer und sozialer Verzerrungen hinterlassen, aber in Kombination mit den hohen Weltmarktpreisen macht es einen revolutionären Prozess möglich, der eine noch nie dagewesenen Menge an ökonomischen Muskeln spielen lassen kann.

Schwäche der sozialen Bewegungen

Jedoch können wir den in Venezuela stattfindenden Prozess nur verstehen, wenn wir diese Stärken in Verbindung setzen zu den deutlichen Schwächen, die die bolivarische Revolution aufweist — oder besser gesagt: zu den großen Herausforderungen, die es zu überwinden gilt.
Die größte Herausforderung ist wahrscheinlich die extreme Schwäche der sozialen Bewegungen und der linken politischen Parteien in Venezuela. Das Fehlen von sozialen Bewegungen scheint paradox zu sein in einem Prozess, der so gekennzeichnet ist von Massenmobilisierungen. Es gibt aber nichts in Venezuela, was sich auch nur im Entferntesten mit der Landlosenbewegung in Brasilien, den indigenen Bewegungen in Ecuador oder Bolivien, bzw. mit den Piqueteros in Argentinien vergleichen lässt.
Die Gründe dafür sind sehr komplex. Ein Erklärungsansatz könnte mit der Tatsache zusammenhängen, dass das, was an Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen in Venezuela existiert hatte, sehr stark an die Acción Democrática geknüpft war, der hochgradig korrupten »sozialdemokratischen« Partei Venezuelas, die an vorderster Front bei der Einführung einer neoliberalen Politik in den 80er und 90er Jahren stand und die zum Zentrum der Opposition der herrschenden Klasse gegen Chávez wurde.
Aber was auch immer die Gründe sein mögen für das Fehlen von starken, unabhängigen sozialen Bewegungen, die Folgen sind weitreichend. Zum einen führt es dazu, dass Organisierungen eine Tendenz zur Kurzlebigkeit haben. Die »Bolivarischen Zirkel« bspw. sind schon längst wieder verschwunden. Ihre Energie wurde zum Teil in die Misiones und in die Gesundheits-, Land-, und Wasserkomitees gesteckt. Politisch gesehen bereiteten sie die UBEs und die Patrullas vor, die letztes Jahr die Kampagne für das Referendum führten. Diese wiederum sollen sich jetzt in Unidades de Batalla Endógena (Organisationseinheiten zum Kampf gegen die Armut) umwandeln, um die Entstehung von integrierten, kooperativen Entwicklungsprojekten zu schützen.
Die Instabilität der Organisationsformen macht es sehr schwierig, aus unterschiedlichen Sektoren heraus zu einer gemeinsamen Plattform mit kohärenten Perspektiven und Forderungen zu finden.
Zweitens stellt sich deshalb die Frage nach dem autonomen Charakter solcher Massenmobilisierungen bzw. -organisationen. Das Fehlen von starken nationalen Bewegungen mit ihren eigenen spezifischen Forderungen kann zu einer akuten Abhängigkeit von Initiativen führen, die aus dem Zentrum der Macht, aus dem Staatsapparat oder gar von Chávez selbst kommen. Genau diese direkte und absolut zentrale Beziehung zwischen der Führung und den Massen lässt den Eindruck entstehen, dass es sich hier um Populismus handelt. Dieser Eindruck entspricht sicherlich zum Teil der Wahrheit — was die Form betrifft, nicht den Inhalt.
Die einzige wirkliche Ausnahme von diesem Phänomen ist der neue Gewerkschaftsdachverband UNT, der in den letzten zwei Jahren in gewisser Weise begann, den Raum zu füllen, den der Zusammenbruch der alten Bürokratie der CTV hinterließ, der ihrer schmachvollen Rolle in dem missglückten Putsch und der Lahmlegung der Ölindustrie im Jahr 2002 folgte.
Eine Ausnahme ist die UNT hauptsächlich deshalb, weil sie als die einzige soziale Bewegung bezeichnet werden kann, die in ihren Reihen und in ihrer Leitung eine bedeutende Strömung von autonom organisierten Revolutionären hat — speziell die der OIR.
Bei dieser handelt es sich um eine Umgruppierung revolutionärer Marxisten, die sich noch im Prozess der Formierung befinden, von denen viele — aber nicht alle — von der trotzkistischen Moreno-Tradition kommen.
Die kleineren Parteien (PPT, Podemos, KP und UVP) mögen einige wichtige Kader stellen, aber als politische Parteien, als Organisatorinnen von kollektiver politischer Aktion und von politischen Ideen sind sie völlig uneffektiv. Die größte Partei der Chavistas, die MVR (Bewegung der fünften Republik), ist nicht wirklich eine Partei. Es hat noch nie ein Kongress stattgefunden, es gib kein parteiinternes Leben, das der Rede Wert wäre, und sie hat kein ideologisches oder programmatisches Profil. Bei dieser Partei handelt es sich eher um eine Verschmelzung von Gruppen, Clans und Interessen, von denen viele ernste Anliegen haben mögen, von denen aber auch ein guter Teil opportunistisch bzw. rein auf Wahlen ausgerichtet ist.

Verhältnis zum Staat

Alle diese Schwierigkeiten stehen in Zusammenhang mit der anderen großen Herausforderung, vor der die bolivarische Revolution steht: ihrem Verhältnis zum Staat. Das, was wir in Venezuela im Moment beobachten können, ist das Paradox einer Revolution (bzw. eines revolutionären Prozesses), die bisher noch nicht in der Lage war, den entscheidenden Bruch mit dem bürgerlichen Staatsapparat herbeizuführen.
Es gab partielle Brüche und neue Arrangements. Nach der Wahl von Chávez 1998 begann Venezuelas traditionelle Elite die politischen Führungsposten zu verlieren, von denen aus sie den Staat eine so lange Zeit lang wie ihr Privateigentum behandelt hatte. Der Entwurf einer neuen Verfassung durch eine verfassunggebende Versammlung im Jahr 2000 gab dem Spiel einige neue Spielregeln. Die Aufstände der Bevölkerung, die im April 2002 den Putsch niederschlugen, begleitet von einer Revolte von jungen Offizieren und Soldaten, brach dem offenen Widerstand innerhalb des Staatsapparats das Rückgrat, am besten sichtbar in den höheren Rängen der Streitkräfte.
Zweifellos existiert immer noch eine unterschwellige Opposition innerhalb von Teilen der Streitkräfte, der Polizei und des Justizapparats. Aber das wirkliche Problem ist viel grundsätzlicher: Die bolivarische Revolution versucht ihr Programm einer radikalen Umformung mit der gesamten administrativen, legislativen und judikativen Maschinerie des alten bürgerlichen Staatsapparats und mit einem Großteil seines Personals zu vollziehen. Streng genommen gab es gar keine Revolution — nur einen revolutionären Prozess, der immer noch im bürgerlichen Staat gefangen ist.
Es wäre aber falsch, darin politisches Versagen zu sehen. Chávez und seine Mannschaft sind sich des Problems sehr bewusst. Ihr »neuer strategischer Plan« beschäftigt sich mit der Frage, auf welchem Weg man eine neue Ökonomie und einen neuen Staat aufbauen kann.
Sie glauben, es wäre beim gegenwärtigen internationalen und regionalen Kräfteverhältnis selbstmörderisch, einen expliziten Bruch mit dem, was als »Legalität« empfunden wird, zu vollziehen. Der frontale Angriff auf privates Eigentum wäre ein solcher Bruch, und ihr Weg scheint vielmehr der zu sein, teilweise durch die existierenden Institutionen hindurch und teilweise um sie herumgehen zu wollen.
Natürlich handelt es sich hierbei um ein Dilemma, das weit über Venezuela hinaus als solches empfunden wird. Die Kunst ist es nun, den Mechanismus von Massenorganisationen und gesellschaftlicher Beteiligung zu finden, der in der Lage ist, eine neuartige Legitimität für neuartige Institutionen zu schaffen. Und dabei befindet sich Venezuela auf einem Weg, der uns allen die Richtung zeigen könnte.

Stuart Piper

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