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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2005, Seite 19

Wolfgang Abendroth und

die Neue Linke

Nach wie vor werden vor allem Theodor W. Adorno oder Herbert Marcuse mit der Neuen Linken in Zusammenhang gebracht. Die eigentlichen »Gründerväter« Wolfgang Abendroth, Leo Kofler, Fritz Lamm und andere sind dagegen aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden. Vor zwanzig Jahren, am 15.September 1985, starb mit dem Marburger Politologen und Juristen Wolfgang Abendroth einer der bedeutendsten marxistischen Wissenschaftler der alten Bundesrepublik.

Abendroth verstand sich als eingreifender Wissenschaftler und war an den großen politischen Protestbewegungen der 50er und 60er Jahre, an den Auseinandersetzungen um Neuordnung und Mitbestimmung, gegen Wiederbewaffnung, Atomrüstung und Notstandsgesetze, maßgeblich beteiligt. Als Kritiker des sozialpartnerschaftlichen Kurses in Sozialdemokratie und Gewerkschaften wurde er zur Symbolfigur des linkssozialistischen Flügels der SPD und prägte maßgeblich die erste, linkssozialistische Neue Linke im SDS.
Seine zum Teil beachtlichen theoretischen Leistungen sind allerdings über die tagespolitischen Schriften verstreut und oft nicht systematisch zusammengefasst. Das macht es für uns heute schwer, sie zu rekonstruieren. Beginnt man diese Schätze zu bergen, so finden sich beispielsweise Aktualisierungen der linkssozialistischen Staats- und Verfassungstheorie oder Reformulierungen von Partei- und Gewerkschaftskonzepten. Allerdings bestand sein Beitrag zur Entwicklung der Neuen Linken nicht nur in der Formulierung von Theorie, sondern gerade in der Art und Weise, wie er politische Aktionen als selbstständige Lernprozesse mitgestaltete und auf diese Weise politische Bildung betrieb.

Wissenschaft und Politik

Mit Abendroths Marburger Institut für wissenschaftliche Politik (IwP) entstand ein kleiner Freiraum, in dem auf wissenschaftlichem Niveau auch über marxistische Theorie gesprochen werden konnte. In Anknüpfung an das alte Frankfurter Vorkriegsinstitut für Sozialforschung unter Carl Grünberg sollte es nicht über, sondern für eine revolutionäre Arbeiterbewegung arbeiten.
Damit bot das IwP inhaltlich und konzeptionell eine Alternative zum Frankfurter Nachkriegsinstitut der Kritischen Theoretiker, die Abendroth wegen ihres dialektischen Denkens zwar schätzte, deren Haltung zur Arbeiterbewegung er jedoch für zu pessimistisch hielt. Auch der organisierte, planende Kapitalismus könne Rezessionen nicht verhindern, und die Individuen in den spätkapitalistischen Gesellschaften seien durch den irrationalen Konsumzwang nicht ausschließlich entfremdet und verkrüppelt. Es war für ihn deswegen weiterhin möglich, Widersprüche bewusst zu machen und den Kampf um strukturelle Veränderungen der Gesellschaft zu führen.
Themenschwerpunkte des Instituts bildeten daher die klassischen sozialistischen Themen, die in der Universitätslandschaft sonst keinen Raum fanden. Abendroth verknüpfte in Marburg auf sehr spezifische Weise Politik- und Rechtswissenschaft mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. Er regte junge Akademiker an, sich mit gesellschaftlichen Tabus und einer verdrängten Kultur der revolutionären Arbeiterbewegung zu beschäftigen, sodass am Institut ganz gegen den Zeitgeist zahlreiche Pionierarbeiten zur Geschichte des Widerstands und der NS-Vergangenheit entstanden, die heute z.T. als Klassiker gelten.
Abendroth band die SDS-Mitglieder auch ganz konkret in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein, um den Kontakt zwischen Akademikern und Arbeiterbewegung herzustellen. Durch diese Einbindung in konkrete Politik und Bildungsarbeit eröffnete sich für die erste Generation der Neuen Linken ein anderer Zugang zu den Gewerkschaften als bspw. in der antiautoritären Linken oder bei der Frankfurter Schule.
Mit der politischen und wissenschaftlichen Verstärkung durch Heinz Maus und Werner Hofmann entwickelte sich Marburg in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zu einem politischen und wissenschaftlichen Koordinationszentrum der drei zentralen Bewegungen der APO (Antinotstandsbewegung, Ostermarsch- und Studentenbewegung).

Linkssozialisten und Antiautoritäre

Abendroth war für die linkssozialistische Neue Linke im SDS nicht nur eine theoretische Bezugsfigur, sondern auch politischer Ratgeber und Helfer. Als die SPD dem aufmüpfigen SDS die Mittel sperrte, gründeten Abendroth und andere aus der ersten Generation der Neuen Linken die Sozialistische Fördergesellschaft (SFG), die das Überleben des SDS sicherte. Im Jahr 1961 wurden die SFG-Mitglieder aus der SPD ausgeschlossen, die darin die Keimzelle einer kommunistischen Alternativpartei sah. Während das Frankfurter Institut auf Distanz zum SDS ging, half Abendroth unter schwierigsten Bedingungen, den SDS neu zu organisieren und in ein Netzwerk von Gewerkschaftsaktiven oder anderen linkssozialistischen Parteien im westeuropäischen Ausland einzubinden.
Dieses Solidaritätsverhältnis zwischen SDS-Bundesvorstand und SFG- Mitgliedern hielt jedoch nur wenige Jahre. Die junge, antiautoritäre Neue Linke der zweiten Jahrzehnthälfte konnte dagegen mit Abendroths Verständnis von Gewerkschaften, Parlament oder Verfassung nur wenig anfangen. Man wollte sich vielmehr auch von den eigenen Übervätern und ihren Organisationsvorstellungen emanzipieren. Die neuen provokativen Aktions- und Ausdrucksformen gaben ihnen das dafür nötige Selbstvertrauen, denn nun schien ein Weg gefunden, wie die Manipulation der Gesellschaft aufgebrochen werden konnte. Die Arbeiterbewegung galt den Antiautoritären entsprechend als integriert und überholt.
Abendroth verhielt sich nach außen gegenüber der antiautoritären Jugend solidarisch. Nach innen kritisierte er jedoch, dass die realen gesellschaftspolitischen Wirkungen der Proteste bei weitem überschätzt würden und die Arbeiterbewegung zu schnell zum alten Eisen geworfen würde. Das war für ihn allein schon eine Machtfrage. Eine einzelne kleine Randgruppe könne kaum etwas bewirken, zumal sie außerhalb der Betriebe keine wirklichen Druckmittel habe. Aktionsformen wie Puddingattentate hielt er auch insoweit verfehlt, als nicht darauf geachtet wurde, dass dadurch die Arbeiterbewegung abgestoßen würde. Mit linksradikalem Dominanzverhalten war für ihn nichts zu erreichen. Dies alles erinnerte ihn zu sehr an die Politik der Ultralinken in den Weimarer Jahren — und an ihre Konsequenzen.
Wie viele in seiner Generation beunruhigte Abendroth auch die Geringachtung rechtsstaatlicher Errungenschaften der spontaneistischen Akteure. Die Rechtsordnung sei aber in jeder Klassengesellschaft sowohl eines der gewichtigsten Mittel zur Stabilisierung der diese Gesellschaft bestimmenden Machtverhältnisse (und daher ein ständiges Objekt der sozialen Kämpfe zwischen den verschiedenen Klassen) als auch ein Instrument zu ihrer Transformation. Die sozialen Bewegungen haben daher eben nicht von sich aus die Rechtsstaatlichkeit zu brechen, sondern umgekehrt ihre Legalität zu fordern. Das im Grundgesetz genannte Prinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaats müsse in dieser Kombination auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet werden. Doch war hier in der aufgeheizten Stimmung der 60er Jahre kaum Verständigung möglich.

Organisation und Aktion

Dabei kam es zu Missverständnissen auf beiden Seiten. Die Antiautoritären sahen in den Organisationsvorstellungen und den Wünschen einer Parteineugründung der linkssozialistischen Neuen Linken das Werk »rechter«, parteifixierter Marxisten wie Abendroth. Betont wurden dagegen Autonomie und Spontaneität. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass Abendroth in Wirklichkeit die Voraussetzungen für eine parteiförmige Formation in den 60er Jahren nicht gegeben sah. Vielmehr sah er sich genötigt, permanent zwischen der Überbetonung außerparlamentarischer Aktion oder parlamentarischer Arbeit zu vermitteln.
Abendroths Parteiverständnis wird in der Diskussion um das Sozialistische Zentrum deutlicher. Er entwarf hierzu das noch heute interessante Konzept eines linken brain trust. Das Sozialistische Zentrum würde, wenn es Erfolg hat, tatsächlich zur »Partei« werden. Aber politische Partei im Sinne der sozialistischen Tradition sei kein Wahlverein oder eine mehr oder weniger zufällige Wahlkombination, sondern eine Gruppierung, die in den unterdrückten Klassen politisches Selbstbewusstsein entwickle und in Aktionen geltend mache. Man wird »Partei«, wenn man zum Subjekt geschichtlicher Bewegung wird. Die Teilnahme an Wahlkämpfen und die Tätigkeit in Parlamenten (wie die Verteidigung der Rechte des Parlaments gegen die Exekutive) sei auch nur ein Mittel der Arbeit einer sozialistischen Partei, nicht ihre Hauptaufgabe. Sie müsste vielmehr (Selbst-)Aufklärungsarbeit leisten.
Gegenüber allen avantgardistischen Konzepten macht Abendroth deutlich, dass den politischen Intellektuellen für jede Emanzipation nur die Funktion der Politikberatung zukomme. Der selbstständige Kampf der Arbeiterklasse sei das wichtigste Mittel ihrer politischen Bildung. Das Bewusstsein der Arbeiterbewegung konnte sich für die Linkssozialisten nur gegen das herrschende Bewusstsein, durch die Erfahrung eigener Aktivitäten und deren intellektuelle Verarbeitung herausbilden. Daher musste nach dieser Lesart Oppositionspolitik als selbstbestimmter, kollektiver Lernprozess organisiert werden. Das Sozialistische Zentrum stellte er sich deswegen als pluralen Diskussionsraum vor, das als politischer Akteur übergreifende Organisationen auch Aktionen plant und koordiniert. Dies war für ihn notwendig, da sich dauerhaftes politisches Klassenbewusstsein niemals nur spontan bilde.
Nach Abendroth bedarf es der Formulierung durch kritische intellektuelle Arbeit, der Organisierung durch ein Zentrum und der Vermittlung zu wachsenden Minoritäten der eigenen Klasse durch politische Aktionen. Aus den Erfahrungen eigener politischer und sozialer Kämpfe sollte sich diese Klasse ihrer Interessen bewusst werden und ihre geistige Unterwerfung unter die Ideologie der herrschenden Klasse überwinden. Das Sozialistische Zentrum sollte so die vorhandenen Einpunktbewegungen stärken, indem ihre Möglichkeiten aufgezeigt würden, um aus der Defensive herauszukommen. Es ging darum, planend und aus der Vergangenheit lernend die Zukunft mitgestalten zu können.
Auch die Führungen der Gewerkschaften seien auf die politische Hilfe eines solchen Zentrums zunehmend angewiesen, da der Kampf um Arbeitsbedingungen, Lebenshaltung und soziale Sicherheit der arbeitenden Menschen in immer stärkerem Maß politisch geführt würde. Die unmittelbaren Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern träten demgegenüber in ihrer Bedeutung zurück. Die Gewerkschaften allein seien überfordert, politische Gegenkonzepte zu entwerfen. Ein Nebeneffekt sollte sein, die Spaltung der Linken durch gemeinsame Aktionen zu überwinden. Auch wenn die Gründung einer linkssozialistischen Partei 1969 scheiterte, wandelte sich das Sozialistische Zentrum in das Sozialistische Büro, das durchaus erfolgreich über die Revolte hinaus weiterarbeitete.

Zentrum und Peripherie

Die antiautoritäre Strömung fand ihre politischen Vorbilder dagegen überwiegend in den Marxismen der Dritten Welt (Algerien, Kuba, China oder Vietnam). Die Weltrevolution hing für sie von den Befreiungskämpfen der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Völker ab, welche die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung stellten. Und so hätten die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt das Proletariat als revolutionäres Subjekt abgelöst. Die Revolution ging für sie nicht mehr von den Zentren aus, sondern von der Peripherie, von den globalen Randgruppen.
Abendroth war zwar auch hier engagiert, u.a. als Völkerrechtler im Russell-Tribunal gegen den Vietnamkrieg, sah jedoch die Hauptaufgabe der jungen kritischen Intellektuellen im eigenen Land. Nur der breite Widerstand der nichtimperialistischen Unterklassen der USA und der anderen bürgerlichen Staaten, war für ihn in der Lage, eine derartig unsinnige Politik reaktionärer Gewalt zu verhindern.
In den Befreiungsbewegungen sah er seit seiner Jugend gleichberechtigte Bündnispartner, doch konnten sie die Arbeit einer Auswertung der eigenen Erfahrungen als Voraussetzung der Transformation des historisch akkumulierten politischen, sozialen und kulturellen Blocks aus den Widersprüchen vor Ort nicht ersetzen. Man konnte für Abendroth nicht die Konzepte anderer Befreiungsbewegungen übernehmen, sondern müsse seine eigenen Wege aus der konkreten Praxis heraus entwickeln.
Auch Wolfgang Abendroth hatte blinde Flecken. Auf viele Themen der antiautoritären, kulturellen Linken, auf Fragen alternativer Lebensweisen, von Kultur und Sexualität ging er nicht näher ein. Auch blieben ihm Bedeutung und Dauer des fordistischen Gesellschaftstypus und seine Regulationsformen unklar. Doch kann der Aufbruch von »1968« ohne Abendroth nicht sinnvoll interpretiert werden. Und erst aus der Zusammenschau der gesamten Neuen Linken lassen sich Erfahrungen für den Neuansatz einer linken Politik heute gewinnen. Es lohnt sich auf jeden Fall, die gegenwärtigen Verhältnisse auch mit Abendroth neu zu denken.

Richard Heigl

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