SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 9

Begrenzte Möglichkeiten

Glanz und Elend betrieblicher Arbeitskämpfe

In (der heutigen) Situation sind solidarische, kollektive Aktionen des sozialen Widerstands selten und erlangen eine besondere Bedeutung, unabhängig davon, wie erfolgreich sie sind. Die Verständigung über gemeinsame Interessen von Lohnabhängigen, das gemeinsame Handeln wider die ökonomische Vernunft, die Durchbrechung einer Logik, die alles Soziale privatisieren will, ermöglichen ein soziales Erlebnis und Lernprozesse, ohne die jede Aussicht auf soziale Emanzipation von den Zwängen und verheerenden Folgen der Kapitalverwertung aufgegeben werden muss.
Heute kann man jede Woche in Zeitungen und anderen Medien davon lesen, dass Unternehmensführungen damit drohen, ein Werk zu schließen. Die Aktion geht vom Kapital aus. Die meisten Drohungen zielen darauf ab, Lohnkürzungen, längere Arbeitszeiten, Verzicht auf Urlaub, Verzicht auf Weihnachtsgeld usw. durchzusetzen. Einen allgemeinen, solidarischen Widerstand der Lohnabhängigen dagegen gibt es nicht, allenfalls den Widerstand einzelner Belegschaften. Die ökonomische Logik der Marktwirtschaft wird weitgehend akzeptiert.

Die Logik der Geldvermehrung

Die Logik der Geldvermehrung bestimmt die Vorgänge in jedem einzelnen Unternehmen. Je stärker der Druck der angeblich so nützlichen und selig machenden Konkurrenz, je ungehinderter sie sich entfalten kann, desto schmerzhafter die Maßnahmen zur Kostensenkung (Entlassungen, Lohnkürzungen usw.). Im Kapitalismus ist die Existenz der Lohnabhängigen grundsätzlich an die Vermehrung der Geldvermögen gebunden.
Die Geldbesitzer haben — trotz aller gegenteiligen Bekundungen — nicht primär ein soziales Interesse an der Erhaltung von Lohnarbeitsplätzen, sondern sie haben nur ein ökonomisches Interesse an solchen Lohnarbeitsplätzen, die ihr eingesetztes Geld vermehren. Lohnarbeit, die das angelegte Geld nicht vermehrt, oder nicht genug vermehrt, fällt den Kostensenkungsprogrammen zum Opfer. Soll die lohnabhängige Existenz in einem Unternehmen trotz ungenügender Rendite erhalten werden, so stellt das die Logik der Geldvermehrung, die ökonomische Funktion der Geldbesitzer und ihre Macht in Frage und wirft damit die Frage nach der Verfügungsmacht über die Produktionsmittel auf.
Die lohnabhängige Existenz in einem Einzelbetrieb trotz ungenügender Rendite sichern, das würde verlangen, dass die Geldbesitzer sich mit niedrigerer Rendite zufrieden geben oder gar bereit wären, ihr Geld für soziale Zwecke herzugeben, ohne es zu vermehren. Das könnte allenfalls durch politische, staatliche Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden, widerspräche aber sowohl der ökonomischen Logik wie dem individuellen Freiheitsgrundsatz der Verfassung. Illusionär wäre das somit in einem doppelten Sinn: Erstens könnte es niemals von einer Belegschaft durchgesetzt werden und zweitens würde es im Sinne einer allgemeinen, politischen Lösung die Vermehrung des vorgeschossenen Geldes, den Zweck von Geldanlage und Investition, und damit den ökonomischen, durch Geld vermittelten gesellschaftlichen Reproduktionsprozess blockieren.
Die Gesellschaft kann angeblich nur funktionieren und das Wohl aller gemehrt werden, wenn das Streben nach persönlicher Bereicherung als Grundprinzip der Produktionsverhältnisse (Ökonomie) anerkannt und geschützt wird. Obwohl die Wirklichkeit diesem Wunderglauben an die Mehrung des Gemeinwohls durch das Streben von Privatpersonen nach persönlicher Bereicherung täglich widerspricht, werden die Menschen damit gnadenlos von geschwätzigen Politikern bombardiert und für dumm verkauft.
Die Insellösung eines Unternehmens, das keinen ausreichenden Profit abwirft oder eines von einer Belegschaft übernommenen Unternehmens könnte allenfalls eine Lösung auf Zeit sein. Sie wäre auf gar keinen Fall eine Lösung für alle Unternehmen, die in die Krise geraten. Unter den Bedingungen eines allgemeinen Verdrängungswettbewerbs in Folge sinkender Renditen, der zunehmenden Staatsverschuldung, ist die dauerhafte Subventionierung von Unternehmen keine realistische Variante. Und auch hier gilt, dass eine einzelne Belegschaft so etwas niemals erzwingen könnte.

Der Bruch mit der Logik

War also die tagelange »Informationsveranstaltung« der Bochumer Opelbelegschaft im Herbst 2004 nichts als eine Illusion? Ohne jede Perspektive?
Zunächst: Das Bochumer Opelwerk wurde (noch) nicht geschlossen. Den Preis, den die Beschäftigten dafür zu zahlen hatten war hoch (Lohneinbußen etc.). Angebot und Annahme der Abfindungen in beachtlicher Höhe lagen ganz auf der Linie der »Privatisierung des Sozialen«. Solche Angebote sprechen die Einzelnen an, sollen sie für die vorgeschlagene Lösung der Schwierigkeiten der Kapitalverwertung empfänglich machen, sollen die einzelnen Lohnabhängigen dazu bringen, zu Hause zu rechnen, statt mit den Kolleginnen und Kollegen darüber zu beraten, für welche gemeinsamen Ziele man wie kämpfen kann. Ein fetter Köder, in den eine ganze Anzahl von Leuten aus sehr verständlichen und nachvollziehbaren Gründen gebissen hat.
Das individuelle Durchrechnen eines Abfindungsangebots ist ein Stück individueller Lebensplanung und bedeutet die Akzeptanz des ökonomischen Sachzwangs, der kapitalistischen Lösung des Konflikts. Das individuelle Durchrechnen des Abfindungsangebots bedeutet auch, dass mitten in der Gemeinschaftsaktion die Einzelnen bereits darüber nachdenken, was diese Gemeinschaftsaktion für sie als Einzelne und nicht etwa für die Gemeinschaft bringt. Eine wirkungsvolle Waffe zur Entsolidarisierung!
Trotzdem gilt es festzuhalten:
Etwa eine Woche lang wurde die Ware Opelauto nicht produziert und folglich konnte Opel diese nicht produzierte Ware auch nicht verhökern und in Geld umwandeln.
Damit stockte und stoppte für etwa eine Woche die Verwertung eines Einzelkapitals, das ökonomische Gesetz der Verwertung von Wert war einen Moment lang und einem Ort durch die Aktion der Belegschaft außer Kraft gesetzt.
Die Menschen verweigerten einen Moment lang nicht nur dem abstrakten, ökonomischen Sachzwang ihre Gefolgschaft, sondern auch den Funktionären des Kapitals. Sie folgten nicht dem fremden Kommando über ihre Arbeitskraft. Sie wurden »vertragsbrüchig« und stellten damit auch das Rechtsgefüge der kapitalistischen Warenproduktion in Frage.
Was hier gesagt ist, gilt natürlich für jede Streikaktion: Sie durchbricht den ökonomischen Sachzwang und setzt zumindest für einen Moment an die Stelle des ökonomisch-sachlichen Funktionierens der beteiligten Individuen die solidarische, bewusste Aktion der Gemeinschaft. Ohne solche Aktionen sind die Lohnabhängigen nichts weiter als Verkäufer der Ware Arbeitskraft und damit vollständig der Marktlogik und der Willkür des Einzelkapitals ausgeliefert. Ohne solche Aktionen kann es auch keine gesellschaftliche Perspektive zur Überwindung des Systems der Lohnarbeit geben und damit keine Perspektive zur Überwindung von Mangel, Armut und existentieller Unsicherheit.
In solchen solidarischen Gemeinschaftsaktionen wird der Status »Verkäufer von Ware Arbeitskraft«, der immer ein Status der Vereinzelung ist, für einen Moment aufgehoben. Solche solidarischen Gemeinschaftsaktionen sind die einzige Möglichkeit, die Vereinzelung der Einzelnen aufzuheben und soziale Fähigkeiten zu erlernen, die benötigt werden, um den Kapitalismus überwinden zu können. Besonders jetzt, unter den Bedingungen der neoliberalen Offensive, der um sich greifende Ohnmacht, können solche Aktionen gar nicht hoch genug bewertet werden!

Die Akzeptanz der Logik

Festzuhalten bleibt aber auch: Die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung kann sich auf weitgehende Akzeptanz der Lohnabhängigen stützen. Will sagen, auch bei Opel akzeptiert die Mehrheit der Beschäftigten
die eigene lohnabhängige Existenz,
die gesellschaftliche Produktion von Waren für den Markt durch eigentumsrechtlich voneinander unabhängige Unternehmen,
die Notwendigkeit des Einzelunternehmens, Profit zu erwirtschaften,
die Anhäufung von privatem Geldreichtum, dessen einziger Zweck es ist, sich selbst zu vermehren.
Diese Akzeptanz erstreckt sich nicht vollständig auf die sozialen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Will sagen:
Die Menschen leiden unter dem Kommando anderer über ihre Arbeitskraft, wenn es als ungerecht oder willkürlich empfunden wird und dieses Kommando eine Verschlechterung der eigenen Lage mit sich bringt.
Die Menschen leiden unter Mangel oder Einschränkung im Angesicht des überschießenden Reichtums.
Die Menschen leiden unter Arbeitsbedingungen (Stress, Überanstrengung, schlechte Luft, Nacht- und Schichtarbeit usw.).
Die Menschen leiden inzwischen vor allem und zunehmend unter der existenziellen Unsicherheit, drohender Lohnarbeitslosigkeit und Armut, die sich einstellt, wenn die Geldvermehrung nicht funktioniert, das Kapital sich nicht erfolgreich verwertet.
Wer gegen drohende Lohnarbeitslosigkeit kämpft, die Lohnabhängigkeit und die damit verbundenen Produktionsverhältnisse aber akzeptiert, hat die Denkverbote schon im eigenen Kopf. Die Perspektiven des Kampfes sind von vornherein sehr eingeschränkt und eine Vernunft ist schon verankert, die die Niederlage akzeptiert und die Menschen beugt. Ein gesellschaftlicher Sachzwang, der wie eine Naturnotwendigkeit empfunden wird, setzt sich als Einsicht und Resignation durch und bestimmt letztlich das Handeln der Einzelnen. Die allgegenwärtige Lösung des Widerspruchs besteht in einer vorprogrammierten Niederlage. Einzelne Belegschaften können sicher Zugeständnisse von Seiten des Kapitals ertrotzen, aber die Niederlage nicht vermeiden.
Eine Perspektive für die Zukunft entsteht nur dann, wenn die Erkenntnis sich breit macht, dass das System der Lohnarbeit selbst die Ursache von Lohnarbeitslosigkeit und existenzieller Unsicherheit ist. Die herrschende ökonomische Vernunft ist asozial. Je mehr sie das Denken der Menschen beherrscht, desto mehr werden wir alle den Wechselfällen von Kapitalverwertung ausgeliefert sein und uns abhängig machen von der Bereicherung der Geldbesitzer. Wer die bestehende Ordnung akzeptiert, darf sich über deren Folgen nicht wundern. Wenn Lohnabhängige existenzielle Unsicherheit und Armut vermeiden und überwinden wollen, müssen sie sich wieder als Solidargemeinschaft organisieren, um das Privateigentum an Produktionsmitteln und damit das System der Lohnarbeit selbst abzuschaffen.

Robert Schlosser

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus einem längeren Beitrag aus dem soeben erschienenen Buch: Sechs Tage der Selbstermächtigung — Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004, Berlin: Die Buchmacherei 2005.


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