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Plötzlich, spätestens dann, wenn die Augen des Lesers im zweiten
Kapitel ruhen, glaubt man, diese Regine stünde neben einem und frage in ihrer unnachahmlichen Art:
»Na, wat haste denn heut schon für die Menschen geleistet?« Unweigerlich packt einen das
schlechte Gewissen, falls nur das Wohlgefühl des eigenen Ichs auf der Tagesordnung gestanden haben
sollte.
Dieser Biografie einer ungewöhnlich
demokratisch gesinnten Frau die nach 1989 nicht nur zur beliebtesten Politikerin in Ostdeutschland
avancierte, sondern die bereits in der DDR als promovierte Biologin im VEB Berlin-Chemie für das
»reinste Insulin im Ostblock« und für »klärende Gespräche« im Kollegium
sorgte , gelingt es vortrefflich, in unser so privat fixiertes bürgerliches Gewissen die Aura
einer Frau zu reproduzieren, die liebevoll, aber unbarmherzig zu sich selbst, oft auch anderen
gegenüber, jeden Tag als einen verlorenen Tag bezeichnete, an dem sie nicht etwas sinnvolles für
andere Menschen und für die Familie in Bewegung gesetzt hatte.
Sie passte mit ihrer Offenheit und
Ehrlichkeit so gar nicht in das Bild einer politischen Klasse, für die Taktik und Sachlichkeit
über das menschlich soziale Gelingen unseres Lebens dominieren muss, wenn »vernünftige«
Politik denn gestaltet werden soll.
Für Regine Hildebrandt war Demokratie
nicht eine Floskel, hinter der sich Karrierismus und Egoismus bestens verstecken kann. Sie lebte Demokratie
nicht repräsentativ, sondern wollte direkte Demokratie, was bei ihren Widersachern, besonders in der
CDU, überhaupt nicht geschätzt wurde. »Meine Kraft kriege ich daher, dass ich im Lande
unterwegs bin. Ich seh doch, was hier los ist, und ich weiß es, weil ich bei den Leuten bin und
nicht dadurch, dass ich Königinnen empfange.«
Sie wusste auch von der Not der Frauen, die
gezwungen sind zur Abtreibung, deshalb kämpfte sie Ende Mai 1993 mit allen Mitteln gegen das Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes, das die Fristenlösung und die Beratungspflicht verwarf. Sie nannte
dieses Urteil einen »Rückfall ins Mittelalter!« Auch von der westdeutsch implantierten
Demokratie wurde sie enttäuscht, hatte sie doch gehofft, endlich sei die staatliche Manipulation des
Volkes beendet. Die Formen der Manipulation hatten sich jedoch nur geändert.
Einer ihrer Widersacher, der stets so
repräsentativ wirkende Innenminister Wolfgang Schäuble, nannte diese Frau, die ihr Herz auf der
Zunge trug, »unerträglich«. Auch die heutige Kanzlerin Angela Merkel erzürnte sich
über die so wenig repräsentativ wirkende demokratische Entschlossenheit der Sozialministerin des
Landes Brandenburg, die 1993 die Neuauflage der »Montagsdemonstrationen« forderte, und zwar vor
Brandenburgs Arbeitsämtern, um gegen die Einsparungen bei Fortbildungs- und Umschulungsprogrammen zu
protestieren. Die damalige Bundesfrauenministerin Merkel nannte diesen Aufruf einen »Skandal«.
Regine Hildebrandt »eierte«
nicht, sondern ging den aufrechten Gang auch in Zeiten der DDR. Sie blieb als Ministerin des Landes
Brandenburg die einfache »Köchin«, die den Staat mitlenken wollte. Solche Frauen passen
nicht in die Marketinggepflogenheiten eines Parlamentarismus, in dem sich repräsentative
Volksvertreter mehr an ihre Beraterverträge und Aufsichtsratsposten gebunden fühlen als an ihre
Wählerschaft im Wahlbezirk. Hildebrandt wurde daher mit allen unsauberen, aber auch sachlich wie
rechtsstaatlich vorgetragenen Behauptungen bombardiert, um sie an ihrer Arbeit für die Rentner, die
Kranken und Frauen zu behindern. Als sich die SPD 1999 weigerte, eine, von der Sozialministerin Hildebrandt
geforderte, Koalition mit der PDS einzugehen, trat sie von ihrem Amt zurück, denn eine Koalition mit
den »Arschlöchern« der CDU des Ex-Militärs Schönbohm war ihr unerträglich.
»Taktisches Vorgehen zum Erzielen eines erfolgversprechenden Effektes ist mir in der Seele
zuwider.«
Bis zu ihrem Todestag, dem 26. November
2001, den sie bewusst kommen sah, blieb diese Frau ihrer aktiven Lebensart verbunden. Noch im Oktober war
ihr Terminkalender prall gefüllt, von »Hospizeinweihung in Frankfurt/Oder« bis zu einem TV-
Termin mit Dorothee Sölle, bei dem über Sterbehilfe gesprochen wurde. Sie lebte, ohne sich vom
baldigen Tod bannen zu lassen.
Ja, diese Hildebrandt war noch eine, die
sich darüber aufregen konnte, dass Mitglieder der SPD in teuren Hotels Quartier beziehen, wenn sie zu
Veranstaltungen reisen, und nicht Herberge bei denen suchen, die sie als ihre Wähler umwerben. Die
spinnt doch, werden die erlauchten Herrschaften lachend gefeixt haben über jene Frau, die noch
einen Traum von Menschlichkeit verwirklichen wollte.
Jürgen Meier
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