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Im Frühling 1966 besuchte eine kleine Gruppe von SDS-Aktivisten, allen
voran der spätere »Rädelsführer« der APO-Revolte, Rudi Dutschke, die ungarische
Hauptstadt Budapest, um sich mit dem in die Jahre gekommenen marxistischen Philosophen Georg Lukács
politisch-intellektuell auszutauschen. Der radikale Berliner Student Dutschke hatte sich schon seit
längerem mit dem schillernden Ungarn auseinandergesetzt und plante, ihn zum Thema seiner Doktorarbeit
zu machen. Besonders interessiert zeigten sich Dutschke und Genossen an jenem jüngeren Lukács,
der zu Beginn der 20er Jahre, in Zeiten der Aktualität der Weltrevolution, die sog. Offensivtheorie
der internationalen Linken, den sofortigen und bündnispolitisch kompromisslosen Übergang zur
revolutionären Aktion, theoretisch zu verallgemeinern suchte.
Das Gespräch zwischen den Generationen verlief jedoch nicht ganz so, wie es sich mindestens die
jungen SDSler erhofften. Lukács scheint sich von ihrem revolutionären Elan reichlich
unbeeindruckt gezeigt zu haben. Das Warum ist in den ein halbes Jahr später stattgefundenen und sowohl
per Radio wie Buch verbreiteten und international bekannt gewordenen Gesprächen mit Georg Lukács
dokumentiert.
Mit Bestimmtheit wendet sich Lukács
hier im Zeitalter von chinesischer Kulturrevolution und lateinamerikanischem Guerillakampf
gegen die »chinesischen Verführungen«, gegen die Jungen, die als Partisanen nach
Südamerika gehen und hält dies ebenso wie die Sexwelle vor allem für eine Art der
Maschinenstürmerei. Er wolle dem zwar eine gewisse Berechtigung nicht absprechen in den
Kämpfen um die Befreiung der Sexualität werde bspw. die Erkämpfung der Unabhängigkeit
der Frau erkennbar , halte es jedoch letztlich für problematisch, denn wir müssten uns im
Klaren sein, »dass wir heute in der Erweckung des subjektiven Faktors nicht die zwanziger Jahre
erneuern und fortsetzen können, sondern dass wir auf der Grundlage eines neuen Anfangs mit allen
Erfahrungen zu beginnen haben, die wir aus der bisherigen Arbeiterbewegung und aus dem Marxismus haben. Wir
müssen uns klar darüber sein, dass wir es mit einem Neuanfang zu tun haben, oder wenn ich
eine Analogie gebrauchen würde dass wir jetzt nicht in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts
stehen, sondern in einem bestimmten Sinn am Anfang des 19.Jahrhunderts.«
Was damals die Entfremdung der Generationen
fast zwangsläufig vertiefte, liest sich vierzig Jahre später anders. Die Aktualität der
Revolution, von der ein Rudi Dutschke stellvertretend für die meisten anderen seiner Generation damals
ausging, hat sich als »überschießendes Bewusstsein« erwiesen, als heroische Illusion
eines weltgeschichtlichen Aufbruchs, die sich bereits zehn Jahre später ernüchtert wusste.
Heute offenbart sich dagegen die tiefe
Weisheit des alten Georg Lukács, deren strategische Konsequenzen er selbst zu jener Zeit aber erst zu
ziehen begann. Im Widerspruch zu seiner in den zitierten Passagen zu Tage tretenden Erkenntnis, dass die
großen Wege der organisierten Arbeiterbewegung im 20.Jahrhundert in eine weitreichende Sackgasse
geführt hatten, hielt nämlich Lukács realiter an einer dieser Strömungen auch weiterhin
fest. Er hatte sich seit den 50ern zwar zunehmend in individueller Opposition zur politischen Realität
jenes real existierenden Sozialismus befunden, von dem Dutschke sagte, dass dort alles real sei, nur nicht
der Sozialismus. Doch trotz der ihn betreffenden politischen und intellektuellen Ausgrenzung und Repression
innerhalb Ungarns und innerhalb der (welt-)kommunistischen Bewegung war nach außen an
Lukács prinzipieller Loyalität zu den Grundlagen bürokratischer Herrschaft noch immer
nicht zu rütteln.
In dieser kleinen Episode spiegelt sich nicht nur der komplizierte und heute nur noch bedingt nach Gut
und Böse, Richtig und Falsch zu trennende Generationenkampf der 60er und 70er Jahre. Hier spiegeln
sich auch die spezifischen Widersprüche eines Georg Lukács, die ihn zu einem der am schwierigsten
zu fassenden Denker des 20.Jahrhunderts machen. Keiner dieser Denker dürfte in ihrer biografischen und
politisch-intellektuellen Entwicklung eine solche Reihe von Wandlungen durchgemacht haben: vom jugendlichen
Ästhetiker und Avantgardisten zum rätekommunistischen Volkskommissar, vom linksradikalen
Verfasser von Geschichte und Klassenbewusstsein zum Vertreter der »rechten« Blum-Thesen, vom
illegalen Kämpfer gegen den aufziehenden Faschisten zum Apologeten des aufziehenden Stalinismus, vom
zurückgezogen lebenden Literaturwissenschaftler und Philosophen zum Propagandisten der sowjetischen
Außenpolitik, vom in der UdSSR inhaftierten »Volksfeind« zum gefeierten Repräsentanten
des ungarischen Weges zum Sozialismus, vom antistalinistischen Erneuerer von 1956 zum Philosophen einer
Ontologie des gesellschaftlichen Seins in den 60ern. Und gleichzeitig formulierte derselbe Lukács, der
alte, in seinen autobiografischen Gesprächen Gelebtes Denken von 1970/71 zurückblickende
Lukács, dass er glaube, dass es in seiner Entwicklung »keine anorganischen Elemente« gebe.
Am nächsten, so scheint mir, kommt man
der bislang noch wenig thematisierten Einheit der lukácsschen Widersprüche durch seine
späten autobiografischen Gespräche. Nicht alle, aber der große Teil derselben, vor allem
auch Gelebtes Denken und die Gespräche mit Lukács, sind nun wieder aufgelegt worden, im Band 18
der von Frank Benseler federführend organisierten Werkausgabe. Verdeutlichen die Gespräche mehr
den Sozialphilosophen und seine politische Sicht auf die Welt der 60er Jahre (und sind insofern etwas
unpassend in dem der Biografie gewidmeten Werkband), so finden sich in Gelebtes Denken nicht nur eine Reihe
bemerkenswert offener Selbsteinschätzungen.
Nachvollziehbar wird hier v.a., wie dieser
philosophisch und ästhetisch sich zumeist auf Themen der Geschichte stürzende Lukács damit
ganz und gar auf seine (geschichtlich gewordene) Gegenwart zielte: Hegel ist bei ihm nicht immer Hegel,
Trotzki selten Trotzki, und wenn Lukács in den 30ern Brecht angriff, dann hatte dies eben weniger mit
Brecht selbst zu tun, den er offenbar sehr schätzte, sondern mehr mit jenen, für die der
ebenfalls nicht widerspruchslose Brecht auch stand.
Erst eine konsequente Historisierung des
lukácsschen Lebens und Werkes kann hier die notwendigen Voraussetzungen liefern, um seine
Aktualität zu bestimmen und natürlich, wie Rudi Dutschke in einem Brief an Lukács
bemerkt, die »richtige Aufhebung der revolutionären Bewegungen der Vergangenheit«.
Heute sollten diese Aufhebungen einfacher anzugehen sein, denn über vieles, was damals noch
unausgemacht, historisch offen gewesen ist, hat »die Geschichte« mittlerweile geurteilt.
Lukács geschichtsphilosophisch verankerte Hoffnung auf eine Selbstreformation des
arbeiterbürokratischen Sozialismus bspw. hat sich als falsch und für die politische Linke fatal
erwiesen.
Auf der anderen Seite erscheint gerade sein
so hitzig geführter Kampf gegen den modernen Avantgardismus heute in strahlenderem Licht. Als
»Kraft der Negation« tendiert dieser in der Tat zum Steckenbleiben in jenem Negativismus, der
nicht selten mit einem zynischen Zuckerguss gekrönt wird. Der nonkonformistische Konformismus
wesentlicher Teile des Avantgardismus kann heute allenfalls noch seiner Reichweite, nicht aber seinem
Gehalt nach bestritten werden. Der Provokateur, dieses Sinnbild des Avantgardisten, hat in postmodern-
neoliberalen Zeiten seine Subversivität nicht nur weitgehend eingebüßt, er ist sogar zu
einem ihrer tragenden kulturpolitischen Handlanger mutiert. Entsprechend provokativ und treffend erscheint
noch heute die von Fredric Jameson bereits Ende der 70er Jahre gemachte Aussage, dass es gerade dann,
»wenn der Modernismus und seine ihn begleitenden ›Verfremdungs‹techniken zum dominanten
Stil geworden sind, mit welchem der Konsument mit dem Kapitalismus versöhnt wird«, des Realismus
als solchem bedürfe, damit die gewohnheitsmäßigen Verfremdungen ihrerseits verfremdet und
korrigiert werden.
Leider wurde dieser herausragende Aufsatz
in die beiden aktuellen Jahrbücher der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft nicht mit
aufgenommen, die sich schwerpunktmäßig dem »verspäteten, aber notwendigen Dialog
zwischen Georg Lukács und Theodor W. Adorno« (Rüdiger Dannemann) widmen. Die in den
insgesamt 12 Beiträgen zutage tretende Offenheit vieler »Lukácsianer« gegenüber
dessen großem Antipoden Adorno ist umso beeindruckender, wenn bedacht wird, dass keiner der
»Freunde der Frankfurter Schule« es für aufregend erachtete, sich an dieser theoriepolitisch
interessanten Diskussion zu beteiligen. Ganz so einfach sind die Aufhebungen revolutionärer Theorie
des vergangenen 20.Jahrhunderts dann doch noch nicht.
Christoph Jünke
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