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SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 3.09.1998, Seite 9

Der Kandidat und sein Gepäck

Gerhard Schroeders Bundestagswahl '98

Es ist an der Zeit, sich von Kohl zu verabschieden. Zwar geben die juengsten Umfragen der CDU wieder eine Chance, die SPD hat die Wahl noch nicht gewonnen und es kann knapp werden am 27.9. Aber selbst wenn Kohl die Wahl gewinnt, wird er nicht lange Kanzler bleiben. Seine gegen "Rot"-Gruen gerichtete Hauptaussage in diesem Wahlkampf: "Keine Experimente!" und "Weiter so!" ist das, was rechts wie links die Menschen am meisten abschreckt. Irgendeine Veraenderung, gleich welche, das wuenschen sich derzeit die meisten, das beherrscht die Stimmung vor den Wahlen. Nicht wenige Linke sind deshalb geneigt, Schroeder ihre Stimme zu geben, obwohl sie ihn nicht moegen. Bei den Arbeitgebern hingegen verbindet man mit dem "Weiter so" die gescheiterte Steuerreform oder auch eine weitere Amtsperiode von Norbert Bluem, der inzwischen als Hindernis fuer die Umwaelzung der Sozialsysteme nach neoliberalem Muster begriffen wird.
Die Unternehmer wollen Veraenderung, ihre Unzufriedenheit mit dieser Bundesregierung ist in den letzten Jahren vernehmlich gestiegen. Sie wollen Veraenderungen im System: den Bruch mit den "korporatistischen" (d.h. geregelten) Strukturen des Sozialstaats, den Bruch mit dem Foederalismus, auch den Bruch mit dem bestehenden Wahl- und Parteiensystem. Das alles ist mit dem "System Kohl" nicht machbar, zu stark ist der personelle Filz seit 16 Jahren auf ein anderes Muster konservativer Herrschaft und auf die Loyalitaet zu Kohl ausgerichtet worden.
Die anhaltende Auseinandersetzung innerhalb der CDU um die Nachfolge Kohls signalisiert deshalb mehr als nur einen Personenwechsel: Die CDU muss ihre Strukturen und ihre Arbeitsweise "modernisieren", wenn sie auch in Zukunft den Unternehmeranspruechen gerecht werden will. Eine Parteireform ist angesagt. Und weil Kohl eine solche bislang verhinderte, indem er jede Opposition im Keim erstickte, bedarf es jetzt in der CDU auch eines Fuehrungswechsels.
Kohl hat sich ueberlebt. Derjenige, der in diesem Wahlkampf versucht, den Wunsch nach Veraenderung, "Modernisierung" zu repraesentieren, ist Gerhard Schroeder. Dabei ist noch sehr undeutlich, was damit gemeint ist. Die Unternehmer verstehen etwas anderes darunter als die Gewerkschaften, diese etwas anderes als die aufstrebenden "innovativen Leistungstraeger", und diese noch etwas anderes als die, die an den Rand der Gesellschaft gedrueckt werden.
Schroeder will es allen recht machen: Auf der einen Seite laesst er seinen Wirtschaftsminister in spe, Jost Stollmann, verkuenden, dass er nicht daran denkt, die unsozialen Gesetze der Regierung Kohl zurueckzunehmen, und dass die Mitbestimmung eigentlich ein alter Hut ist.
Andererseits gibt sich das 100-Tage-Programm der SPD im Endpurt des Wahlkampfs betont "sozial": fuer Jugendliche sollen sofort 100.000 Arbeitsplaetze geschaffen werden; die fuer 1999 beschlossene Rentenkuerzung und die Zuzahlungen von chronisch Kranken und aelteren Patienten zu den Gesundheitskosten sollen ausser Kraft gesetzt werden; die "Fehlentscheidungen beim Kuendigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall" sollen durch ein "Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte "korrigiert" werden; auf dem Bau soll zu deutschen Tarifbedingungen gearbeitet werden.
Das Winken nach allen Seiten ist nicht nur wahlpolitischer Opportunismus, es ist Programm. Es gibt so etwas wie eine "Ideologie Schroeder", die im grossen und ganzen von der "Ideologie Clinton oder Blair" abgekupfert ist, und die in der juengsten Ausgabe der SPD-nahen Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft" folgendermassen umschrieben wird:
"Wer Innovationen fuer mehr Beschaeftigung will, muss die veraenderten Grundbedingungen der Informationsgesellschaft staerker beruecksichtigen. Haelt man das Modell der langen Wachstums- und Innovationszyklen fuer plausibel (Kondratieff-Wellen -- Basisinnovationen), so soll die derzeitige [lange] Aufschwungphase von den Basisinnovationen Information und Wissen getragen sein. Dies ist, neben der Humankapitalintensitaet ... ein Hinweis darauf, dass mit den bisherigen wirtschaftspolitischen Foerdermassnahmen und Rahmenbedingungen (Investitionsfoerderung des Sachkapitals) der strukturelle und technologische Wandel nicht optimal gefoerdert wird. Tatsaechlich wird die Wirtschaft so gefoerdert, als ob wir noch in der Industriegesellschaft leben und uns nicht schon laengst auf die Innovationsgesellschaft vorbereiten und sie realisieren muessten."
"Fuer den Strukturwandel unserer entwickelten Volkswirtschaft ist fuer die Vergangenheit folgende Entwicklung kennzeichnend: Im zeitlichen Verlauf haben die Produktionsbereiche, die viel Humankapital (qualifizierte Arbeit) einsetzten, gewonnen, waehrend die energie- und rohstoffintensiven sowie arbeitsintensiven Bereiche abgenommen haben ... International zeichnet sich ein Meinungswechsel in der Frage ab, ob staatliches Handeln fuer die wirtschaftliche Entwicklung hilfreich und noetig ist. [Das heisst] die Verbesserung der qualifizierten Arbeit (Humankapital) als neue Angebotspolitik zu verstehen und das wirtschaftspolitische Instrumentarium entsprechend auszurichten ... nicht mehr herkoemmliche Angebots- contra Nachfragepolitik."
Sieht man von der geschraubten Ausdrucksweise ab, lassen sich folgende Punkte als zentrale Elemente eines Wechsels a la Schroeder festhalten:-- Die Auseinandersetzung/Konkurrenz mit CDU und FDP wird nicht primaer auf dem sozialen Gebiet gesucht, sondern um die Frage: Wer ist am kompetentesten, dem Kapitalismus ein neues Wirtschaftswunder zu verpassen? Zu Beginn seiner Wahlkampagne forderte Schroeder Kohl heraus: Einen neuen Aufschwung kurz vor der Wahl, das hatte er vor vier Jahren auch. Aber dann hat er ihn durch seine Politik verspielt.-- Voraussetzung fuer die Realisierung aller sozialen Versprechungen ist der Wirtschaftsaufschwung. Ohne den geht nichts.-- Grundlage fuer die Wachstumsvisionen ist die Selbsttaeuschung, die kapitalistischen Konjunkturzyklen wuerden durch technologische Innovationen kommandiert und diese liessen sich auf Befehl bestellen. Auf dieser Basis polemisiert er gegen eine pure Kostensenkungspolitik (es braucht Subventionen, nur an der richtigen Stelle) und gegen den Ruf nach weniger Staat (staatliches Handeln muss den Wirtschaftsaufschwung lenken, damit er dauerhaft wird). (åbrigens geht diese Polemik daneben, denn auch Liberale fordern von Staat Handeln und Geld, nur eben in den Bereichen, die aus ihrer Sicht die gewinnbringendsten sind -- und da setzen sie durchaus aehnliche Akzente wie Schroeder.)-- Der Schwerpunkt: Investitionen in Humankapital (= qualifizierte Arbeit; warum eigentlich ist sog. unqualifizierte Arbeit kein Humankapital?) laesst fuer die Masse der wenig oder nicht qualifizierten Beschaeftigten wenig hoffen: Ihnen werden weder sichere Arbeitsplaetze, noch ein gesichertes Einkommen in Aussicht gestellt. In Schroeders Wachstumsstrategien spielen sie keine Rolle.-- Die Frage der Arbeitslosigkeit wird, ganz wie bei den Unternehmern auch, nur indirekt beantwortet: Wenn es einen neuen, sich selbst tragenden Aufschwung gibt, dann wird die Arbeitslosigkeit allmaehlich verschwinden.
Die Verfechter dieser Ideologie sitzen der Illusion auf, sie naehmen einen Platz zwischen oder ueber den Klassen ein; Unternehmer und Gewerkschaften muessten beide gleichermassen mit dem Zeigestock belehrt werden, was das Beste fuer sie ist.
Schroeders Ansatz unterscheidet sich in vielen Punkten kaum von dem der buergerlichen Parteien. Was ihn unterscheidet, sind Stilfragen: die Rhetorik (Diskursfaehigkeit); der Umgang mit den Medien; die Faehigkeit, Experimente zuzulassen, durch die Probleme auf ein Abstellgleis abgeschoben werden; ein anderer Stellenwert der Kulturpolitik usw. Natuerlich sind Stilfragen wichtig fuer die Stimmung in der Bevoelkerung. Aber fuer die reale gesellschaftliche Entwicklung bedeuten sie nicht viel.
In Schroeders Wahlkampf wird die "Modernisierungsoffensive" erstaunlich zurueckhaltend vorgetragen; das mag daran liegen, dass die Yuppisierung der SPD noch nicht ausreichend vorangekommen ist, und natuerlich will er auch die Wahlen gewinnen. Es wird sich aber auch noch weisen, ob es in der Gesellschaft eine Mehrheit fuer eine solche Perspektive gibt. Eben diese Unwaegbarkeiten sind es, die die Unternehmer davon abhalten, gegen Kohl und fuer Schroeder Partei zu ergreifen. Anders als Tony Blair hat er vor den Wahlen noch nicht bewiesen, dass er bereits die gesamte SPD umgekrempelt hat.
Angela Klein


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