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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 5

Gewerkschaftstag der IG Medien

Kritische Stimmen

Erbarmen, die Hessen kommen - das muß wohl mancher Delegierte auf dem 4.Gewerkschaftstag der IG Medien gedacht haben. Denn die hessischen TeilnehmerInnen haben die laufenden Diskussionen auf weiten Strecken nicht nur geführt, sondern ihre Schwerpunkte auch maágeblich mitbestimmt. [...]
  Der Kongreß wurde mit einem abwechslungsreichen politischen und kulturellen Programm eröffnet. Der Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, [Ö] bezeichnete die Teilnahme der DGB-Gewerkschaften an einem "Bündnis für Arbeit" zwar als "unausweichlich", wollte diese allerdings an bestimmte Bedingungen geknüpft wissen. Selbstverständlich wäre der Gesetzgeber - also der Bundestag - gefordert, seinen Teil zur Veränderung beizutragen; bspw. durch Rücknahme der "Reformen" beim Kündigungssschutzgesetz oder durch Umlagefinanzierung bei der Berufsausbildung.
  In der Tarifpolitik bekannte sich Detlef Hensche zu den Niederlagen der letzten Jahre. Die Taktik der Schwerpunktstreiks sei an ihre Grenzen gestoáen. Ohne breite Arbeitskämpfe in möglichst vielen Betrieben seien die bestehenden Tarifverträge kaum zu halten, geschweige denn neue Forderungen durchzusetzen. Seine pauschale Aussage: "Wenn sich die Unternehmer in die Betriebe zurückziehen, müssen wir ihnen folgen", also nach Haustarifverträgen, wurde von mehreren Delegierten kritisiertÖ
  Firmentarifverträge seien vielleicht für Groábetriebe - wie bspw. die Zeitungsverlage - eine Alternative zum Flächentarifvertrag. Doch welche Belegschaft von kleinen und mittleren Unternehmen habe die Kraft, die tariflichen Rechte und Leistungen in den "eigenen vier Wänden" zu verteidigen?
  Der mehr als einjährige Streik der Beschäftigten von Schilder-Warweg in Bielefeld zeige doch deutlich die Grenzen betrieblicher Tarifkämpfe auf: sowohl finanziell, wenn es um die zeitliche Ausdehnung des Arbeitskampfes gehe, als auch personell, wenn ein Arbeitgeber knochenhart bleibe und sich partout auf keinen Kompromiá einlassen wolle.
  Für viele Beschäftigte gebe es keine wirkliche Alternative zum Flächentarifvertrag. Deshalb müsse die IG Medien, müáten sich die leitenden Gremien auf allen Ebenen dazu durchringen, für sich selbst festzulegen: Bis hierher und nicht weiter! Die IG Medien werde, anders als bisher, die bestehenden Tarifverträge mit aller Kraft verteidigen!
  Gegen diese kritische Einschätzung der tarifpolitischen Orientierung richteten sich anschlieáend zahlreiche Diskussionsbeiträge. Vor allem manche Vertreter aus groáen Unternehmen - auch aus Hessen - unterstrichen, daá auch für die Zeitungsverlage keine wirkliche Alternative zum Flächentarifvertrag bestehe.
  Auch Detlef Hensche wollte diese Kritik so nicht stehen lassen. Er zeigte die "unterschiedlichen Zwänge" auf, denen die IG Medien in ihrer Tarifpolitik ausgesetzt sei: die Angst der Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz und die daraus resultierende Forderung von Beschäftigten, betrieblich vom Tarifvertrag abzuweichen; oder die Flucht der Unternehmer aus ihren Verbänden. Der Vorsitzende warnte eindringlich vor einer "Illusionspolitik", die solche Probleme ausblende. Doch zur Frage der Verständigung über eine "Haltelinie" bei der Verteidigung der tariflichen Rechte und Leistungen äuáerte er sich nicht.
  In diesem Zusammenhang kam es beim Antrag des Hauptvorstands zur Abschöpfung des Streikfonds auch zu einer harten Konfrontation unterschiedlicher Meinungen. Insgesamt nahmen 32 Kolleginnen und Kollegen das Wort. Dabei lagen die Differenzen nicht in der Einschätzung, daá die IG Medien neue Projekte zur Mitgliedergewinnung starten müsse.
  Vielmehr wurde von den Kritikern in Frage gstellt, daá dafür der Streikfonds angetastet werden dürfe, weil dadurch die Kampffähigkeit eingeschränkt würde. Von den Befürwortern wurde entgegengehalten, die IG Medien besitze keinen finanziellen Spielraum mehr, und ohne die Verringerung der Zuführung in den Streikfonds von bisher 5 Prozent der Beiträge könne kein Geld mehr "locker" gemacht werden.
  Ohne Widerspruch blieben die einleitenden Worte Detlef Hensches zur Einschätzung der abgelaufenen Regierungsperiode der CDU/CSU-FDP- Koalition. Sie sei von steigenden Gewinnen und explodierenden Börsenkursen bei gleichzeitig wachsender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet gewesen. Dadurch habe sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft vertieft. Die wichtigste Aufgabe der neuen Regierung sei ein erkennbarer Beitrag zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
  Dies wollte der Vorsitzende der IG Medien auch in bezug auf die Europäischen Währungsunion gewürdigt wissen: "Warum drohen eigentlich nur Sanktionen bei zu hoher Staatsverschuldung? Warum nicht gleiches bei Überschreitung einer bestimmten Arbeitslosenquote?"
  Wie erwartet stand die Fusion zur Megadienstleistungsgewerkschaft im Mittelpunkt des Gewerkschaftstags. Das wurde schon dadurch unterstrichen, daá diese Frage als eigenständiger Diskussionspunkt aus dem ergänzenden Rechenschaftsbericht des Geschäftsführenden Hauptvorstands ausgeklammert war. Darüber hinaus begann die Debatte mit einer vierstündigen Podiumsdiskussion, zu der die Vorsitzenden der ÖTV, Herbert Mai, der Deutschen Postgewerkschaft, Kurt van Haaren, und der Deutschen Angestelltengewerkschaft, Roland Issen, angereist waren.
  Ein längeres Interview mit Margret Mönig-Raane, der Vorsitzenden der Gewerkschaft HBV, lief als Video auf einer Groáleinwand, denn die HBV veranstaltete parallel zur IG Medien ihren Gewerkschaftstag in Bremen. Angesichts dieses "Brimboriums" ist die Kritik von Detlef Hensche und anderen Delegierten nicht nachvollziehbar, der Gewerkschaftstag habe sich übermäáig lang - eineinhalb Tage - mit der Fusion beschäftigt.
  Wie wichtig den Delegierten die Debatte um die organisationspolitische Zukunft der IG Medien war, zeigt die groáe Zahl von mehr als 40 Rednern zu diesem Tagesordnungspunkt. Zur Diskussion stand - um nur die "Gegenpole" aufzuzeigen - der Antrag der Mitgliederversammlung des Ortsvereins Wiesbaden auf Ablehnung und ein Antrag des Hauptvorstands auf eine an gewisse Bedingungen geknüpfte Befürwortung des Zusammenschlusses der IG Medien mit drei weiteren DGB-Gewerkschaften und der DAG. Ablehnende, kritische und befürwortende Meinungen wurden in den Delegationen aller Landesbezirke sichtbar. Selbstverständlich beteiligte sich nur eine geringere Zahl von Delegierten an der Diskussion. Doch die Pausen offenbarten mehr Vorbehalte und Ängste, als dies in den Redebeiträgen und im Abstimmungsergebnis zum Ausdruck kam.
  Nach der Generaldebatte zu diesem Punkt des Geschäftsberichts und der Antragsdiskussion, die jeweils einen halben Tag dauerten, lehnte der Gewerkschaftstag den "Wiesbadener Antrag" erwartungsgemäá mit groáer Mehrheit ab. Grob geschätzt sprachen sich ungefähr 25 Prozent der Delegierten für ein Nein zur Mega-Gewerkschaft aus. Auch zwei Anträge des Landesbezirkstags Hessen, die einen Zusammenschluá mit der Erfüllung weitreichender Bedingungen - bspw. die Erarbeitung von gesellschaftspolitischen Zielorientierungen und gewerkschaftlichen Handlungsstrategien - verbunden sehen wollten, fielen durch. Im Gegenzug wurden alle Anträge, die sich nicht prinzipiell gegen eine Fusion richteten, mit groáer Mehrheit angenommen.
  Neben diesen thematischen Schwerpunkten wurden eine Reihe organisations- und (tarif)politischer Anträge beschlossen: die Bildung einer Personengruppe "Arbeitslose"; eine Entschlieáung zu einer aktiven Lohnpolitik an der Seite der IG Metall; die Verteidigung der 35-Stunden-Woche; die perspektivische Forderung nach der 30-Stunden-Woche; die Versicherungspflicht für 620-Mark- Jobs.
  Aus: Impuls, Informationsblatt der IG Medien, Bezirk Wiesbaden, Nr.39, 30.10.1998.
 


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