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Was für die einen vor allem unter dem Aspekt der
Stabilität und Profitabilität der Weltwirtschaft von Interesse ist,
interpretieren Kritiker als moderne Sklaverei: Verschuldung ist das Instrument, die sog.
Entwicklungsländer in Abhängigkeit zu halten. Anders als bei privaten
Schuldnern hat das internationale politische System keine Regeln entwickelt, wie mit
bankrotten Staaten umzugehen ist. Die Zeiten, in denen kreditgebende Länder
bei Zahlungsunfähigkeit ihrer Gläubiger kurzerhand militärisch
intervenierten (Ägypten 1880; verschiedene zentralamerikanische Republiken
Anfang dieses Jahrhunderts) sind längst vorbei. Heute wird das Geschäft
von den internationalen Finanzinstitutionen und ihren Geldgebern, den Zentral- und
Groábanken der G7-Staaten, erledigt.
Michel Camdessus, geschäftsführender Direktor des Internationalen
Währungsfonds (IWF), hat Mitte November angekündigt, dem im Zuge
der Asienkrise angeschlagenen Brasilien ein Hilfspaket von 41,5 Milliarden Dollar
zukommen zu lassen. Die Summe setzt sich aus Finanzierungszusagen von IWF,
Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich sowie aus Geldern der G7-Staaten zusammen. Mit 5
Milliarden Dollar bringen allein die USA die gröáte bilaterale Summe seit der
mexikanischen Pesokrise 1995 für eine ausländische Volkswirtschaft auf.
Die Entscheidung der Clinton-Administration "bringt unsere Verpflichtung zum
Ausdruck, das internationale Finanzsystem zu stärken sowie die
Finanzmärkte und die Interessen der amerikanischen Wirtschaft zu
schützen", erklärte Robert Rubin, Verwalter des US-Fonds,
gegenüber der International Herald Tribune.
Die fünftgröáte Volkswirtschaft der Welt, die mit mehr als 160 Milliarden
Dollar Auslandsverschuldung in der Kreide steht, soll mit dem Paket vor dem
Abgleiten in eine tiefe ökonomische Krise bewahrt werden. Der Preis für
den Kredit sind nicht nur höhere Zinszahlungen, sondern auch ein knapp
kalkuliertes Sparprogramm. Die brasilianische Regierung macht aus der Not eine
Tugend und will mit diesen Maánahmen das Vertrauen ausländischer Investoren
wiedergewinnen und Befürchtungen über eine Abwertung der
Landeswährung Real zerstreuen.
Schon zu Beginn der Asienkrise vor einem Jahr sah sich das südamerikanische
Land mit der weltweit zweithöchsten Schuldensumme genötigt, den
Zinssatz auf 40-50 Prozent (Frankfurter Rundschau, 9.11.98) zu erhöhen.
Derart hohe Zinsen locken vor allem ausländische Banken und Broker an, die
mit kurzfristigen Devisengeschäften enorme Profite einfahren wollen. Die
Devisen benötigt die brasilianische Regierung ihrerseits dringend zur
Begleichung ihres Schuldendienstes.
Modell Mexiko
Diese Art Krisenmanagement hat in den 90er Jahren Schule gemacht: Die
mexikanische Regierung, die weltweit an erster Stelle der Schuldnerliste steht (166
Milliarden Dollar laut UNDP-Bericht 1998), hat in einer vergleichbaren Situation auf
diese Art und Weise ausländische Devisen erhalten. Global Players
amerikanischer Versicherungs- und Pensionsfonds liehen sich in New York für
5-6 Prozent Geld, um es in Mexiko mit 14 Prozent gewinnträchtig anzulegen.
Zwischen 1990 und 1993 flossen so 91 Milliarden Dollar nach Mexiko - mehr als ein
Fünftel der gesamten Nettokapitalflüsse in alle
Entwicklungsländer.
Der Aufstand der Zapatisten und die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten
Luis Colosio erschütterten jedoch das Vertrauen der Anleger in die
wirtschaftliche Stabilität Mexikos. Daran konnte auch die von US-
Präsident Clinton vielgepriesene Integration Mexikos in das
Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) nichts ändern. Die
Manager der Versicherungs- und Pensionfonds zogen ihre Investitionen aus dem
mexikanischen Finanzsektor ab und lösten so eine Krise aus. Die nach Ansicht
von Finanzexperten überbewertete Landeswährung erlebte eine rasante
Talfahrt.
Vor der totalen Entwertung des Peso und damit dem Auseinanderbrechen des NAFTA
bewahrte damals nur ein kombinierter Kredit über 52 Milliarden US-Dollar,
finanziert von IWF, Weltbank und US-Regierung.
Den Preis dafür zahlte die mexikanische Bevölkerung. Der erhöhte
Schuldendienst und die mit dem Hilfspaket verbundenen Austeritäts- und
Liberalisierungsprogramme hielten die mexikanische Wirtschaft am Boden. Allein bis
1997 gingen insgesamt 8000 Firmen, vor allem kleine und mittlere Betriebe, in
Konkurs. Von der Abwärtsspirale am meisten betroffen waren die ohnehin schon
an der Armutsgrenze lebenden Bevölkerungsschichten. Laut offiziellen Angaben
muáten abhängig Beschäftigte Reallohneinbuáen von 25-30 Prozent
hinnehmen.
Hort der Armut: Afrika
Nicht nur in Lateinamerika hinterläát die Politik der Verschuldung ihre Spuren.
Auch Afrika leidet unter den Folgen steigender Verschuldung. 44 Länder, die
der UN-Bericht über menschliche Entwicklung (UNDP) 1998 als solche mit
"niedriger menschlicher Entwicklung" einstuft, sind mit 339 Milliarden
US-Dollar bei ausländischen Gläubigern verschuldet. Allein 33 davon
stammen aus Afrika.
Trotzdem attestierten die G7-Länder Afrika bei ihrem diesjährigen
Treffen im britischen Birmingham einen "neuen Geist der Hoffnung und des
Fortschritts". Auch die Weltbank spricht in ihrem jüngsten Bericht von
"wirtschaftlicher Erholung ... aufgrund einer besseren Politik". Unter
"besserer Politik" ist aus Sicht der Weltbank ein Rückgang der
Haushaltsdefizite wegen des "stärkeren Einsatzes einer neuen Klasse
engagierter Politiker" für "Reformprogramme" zu verstehen.
Eine harmlos klingende und gern verwendete Umschreibung, wenn Rationalisierungs-
und Privatisierungsmaánahmen, einhergehend mit radikalen Sparprogrammen gemeint
sind.
Der vorsichtige Optimismus von Weltbank und G7 macht sich vor allem am nominal
auf knapp 5 Prozent gestiegenen Bruttoinlandsprodukt (BIP) in einigen afrikanischen
Staaten fest. Der Anstieg des BIP gewährt nicht nur eine gewisse Stabilität
bei der Zins- und Schuldenrückzahlung, sondern "motiviert die
Geldgeber", auch "ehrgeizigere Ziele zu setzen und über die
unmittelbare Zukunft hinauszublicken".
Mit anderen Worten: einige afrikanische Staaten werden zunehmend als
Investitionsstandorte interessant. Nach der Asien- und Ruálandkrise sind einzelne
Regionen Afrikas in der Tat für einige Anleger zur bedenkenswerten Alternative
avanciert, was sich auch in den aktuellen Verhandlungen um den Europäischen
Entwicklungsfonds im Rahmen des Lom‚-Nachfolgeabkommens
widerspiegelt.
Das gestiegene BIP einiger afrikanischer Staaten kann jedoch nicht über den
ökonomisch desolaten Zustand der meisten Länder dieses Kontinents
hinwegtäuschen. Regionaler Handel findet kaum statt, die Wirtschaft ist vor
allem auf Exporte nach Europa orientiert, obwohl sich seit der Schuldenkrise der 80er
Jahre das Preisverhältnis zwischen den kaum verarbeiteten afrikanischen
Exportgütern und den aus den Industrieländern importierten Waren
unaufhörlich verschlechtert hat. Bemühungen, diese Differenz durch eine
Exportsteigerung auszugleichen, führen lediglich zu einem weiteren
Preisverfall.
Das nominale Wirtschaftswachstum kommt den reichen Oberschichten dieser
Länder zugute und erreicht nur selten die Bedürftigen. Hochverschuldete
afrikanische Staaten wie Angola oder Nigeria geben heute mehr für den
Schuldendienst an ihre Gläubiger aus, als sie für Gesundheit, Erziehung
und Grundversorgung aufwenden. Konkret bedeutet das für die
Bevölkerung Nigerias eine durchschnittliche Lebenserwartung von 38-52
Jahren und ein jährliches Einkommen, das zwischen 900 und 5000 Dollar
differiert (UNDP 1998).
Teufelskreis
Verschuldung
Die Geschichte der Verschuldung ist mehr als ein Zahlenspiel: Ein Groáteil der heute
1583 Milliarden US-Dollar Gesamtschulden der
"Entwicklungsländer" häufte sich seit Mitte der 60er Jahre an
(1970: 62 Milliarden Dollar). In dieser Zeit wuchs die Bedeutung des ungleichen
Tauschs, d.h., die damaligen Kolonien und Halbkolonien muáten immer mehr Arbeit
gegen eine gleiche Menge Arbeit der Metropole austauschen (siehe Ernest Mandel, Der
Spätkapitalismus, 1972). Mit anderen Worten: Die terms of trade, die
Austauschrelationen, entwickelten sich zu ihren Ungunsten, vor allem weil sich der
Handel zunehmend zwischen den Metropolen und nicht mehr zwischen den
Kolonialstaaten und ihren (ehemaligen) Hoheitsgebieten abspielte.
Gleichzeitig suchten die Bankiers des wirtschaftlich prosperierenden Nordens
Abnehmer für ihre Bargeldüberschüsse. Auch die Weltbank
verzehnfachte zwischen 1968 und 1973 ihre Darlehen. Einen Einschnitt brachte die
Ölkrise. Anfang der 70er Jahre führte das Kartell der
erdölexportierenden Länder (OPEC) zu einem enormen Preisanstieg und
schlieálich zur Explosion der Ölpreise 1973. Die Dritte Welt avancierte zum
Machtfaktor und führte den Industrieländern ihre Abhängigkeit von
Rohstoffen drastisch vor Augen.
Die zu dieser Zeit stark auf dem Weltmarkt miteinander konkurrierenden
internationalen Banken übernahmen eine Transferfunktion und vermittelten die
bei den arabischen Ölexporteuren angefallenen Kapitalüberschüsse
in erdölimportierende Länder der Dritten Welt. Die Kredite wurden
damals zu vergleichsweise günstigen Konditionen und mit der Bedingung
vergeben, Waren aus dem Norden zu importieren.
Diese Dynamik potenzierte sich in den 80er Jahren, dem "Jahrzehnt der
Schuldenkrise", das die Wiederherstellung der Dominanz des Nordens einleitete.
Die Zinsen schnellten in die Höhe und gleichzeitig drückte die
weltwirtschaftliche Rezession die Nachfrage nach Rohstoffen und damit die Preise
für Exportwaren aus den Drittweltländern. Darüber hinaus
betrieben die Industrieländer eine Politik der Marktabschottung, um ihre eigenen
Volkswirtschaften zu schützen. Das erschwerte es den Drittweltländern
zusätzlich, ihre Exportkapazitäten als Vorraussetzung für den
Schuldendienst auszubauen. Es blieb nur eine Möglichkeit: weitere Kredite, um
zurückzahlen zu können - und damit ein zusätzliches Anwachsen
der Auslandsverschuldung.
Während sich die westlichen Industrieländer mit dem 1956
gegründeten Pariser Club bereits früh ein Verhandlungsinstrument
geschaffen hatten, scheiterten die Versuche zur Bildung einer Organisation der
Schuldner an den unterschiedlichen Interessen der Schuldnerländer und dem
Druck der Gläubigerländer, die auf Einzelverhandlungen
bestanden.
Die internationalen Finanzinstitutionen haben in den letzten Jahren vor allem die
Ausstände der ärmsten afrikanischen Länder gegenüber
Privatbanken übernommen. Das war keinesfalls ein Akt selbstloser
Freizügigkeit: für IWF und Weltbank stimmt die Rechnung. Sie erhalten
heute von den verschuldeten Ländern mehr Geld, als sie ihnen leihen (UNDP
1994). Auch die Weltbank, die in ihren jährlichen Berichten nicht müde
wird, den Kampf gegen die Armut anzumahnen, ist primär eine Brücke,
über die privates Kaptial in Drittweltländer geleitet wird.
Die Einzahlungsquote der 172 Mitgliedstaaten, deren Stimmrecht sich in erster Linie
nach der Höhe des Kapitalanteils richtet, beträgt mittlerweile nur noch 10
Prozent. Den Rest ihrer Kredite finanziert die Weltbank seit jeher vor allem mit
privaten Krediten des amerikanischen Kaptitalmarkts, mittlerweile zunehmend auch
mit denen der Kaptialmärkte der beiden anderen Triadenmächte. Die
Zinssätze der von der Weltbank vergebenen Kredite liegen zumeist knapp unter
den üblichen Marktkonditionen. Die Geldgeber gewähren der Weltbank
relativ günstige Finanzierungsbedingungen, weil die Bank wegen ihrer auf
Sicherheit für die Gläubiger ausgerichteten Struktur ein hohes Ansehen
genieát.
1996 haben der Pariser Club, der IWF und die Weltbank eine Initiative ins Leben
gerufen, die eine "Schuldenreduzierung" für die
"Hochverschuldeten Armen Länder" (HIPCs) vorsieht.
Während vergleichbare Initiativen für die wesentlich höher
verschuldeten, für die Weltwirtschaft aber bedeutenderen Volkswirtschaften wie
Mexiko und Brasilien relativ schnell umgesetzt wurden, müssen sich die HIPCs
de facto mit einer Absichtserklärung zufrieden geben. Nur wenige Länder
werden überhaupt in das Programm der Initiative aufgenommen und erhalten
dann eventuell eine Schuldensenkung - wie im Falle Ugandas - von 3 Prozent. Die
meisten Länder Afrikas sind in den Augen der Finanzchefs zu
vernachlässigen, "weil sie ihre wirtschaftlichen Interessen nicht groáartig
beeinflussen", erklärt die Britin Susan Strange in der Zeitschrift New Left
Review.
Laut UNDP belaufen sich die Schulden der ärmsten Länder auf 136
Millarden US-Dollar. Allein die jährlichen Ausgaben für Rüstung
übersteigen weltweit diese Summe um ein Vielfaches: 780 Milliarden Dollar.
Dieser Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn mit Krediten aus dem Ausland
haben viele Regime in der Dritten Welt ihre Armeen aufgebaut und ausgerüstet.
Erst in diesem Jahr verpflichteten IWF und Weltbank den afrikanischen Staat Rwanda,
die Kredite zurückzuzahlen, die der frühere Diktator Habyarimana zum
Waffenkauf verwendete, die 1994 im Genozid gegen die Tutsi zum Einsatz kamen.
Strange resümiert: "Historisch betrachtet haben sich die Reichen und
Mächtigen in allen vorrevolutionären Perioden gleichgültig
gegenüber den Leiden der Armen verhalten."
Gerhard Klas