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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 10

Instrumente moderner Sklaverei

Internationale Kredite sollen Ausweitung der Finanzkrise verhindern

Was für die einen vor allem unter dem Aspekt der Stabilität und Profitabilität der Weltwirtschaft von Interesse ist, interpretieren Kritiker als moderne Sklaverei: Verschuldung ist das Instrument, die sog. Entwicklungsländer in Abhängigkeit zu halten. Anders als bei privaten Schuldnern hat das internationale politische System keine Regeln entwickelt, wie mit bankrotten Staaten umzugehen ist. Die Zeiten, in denen kreditgebende Länder bei Zahlungsunfähigkeit ihrer Gläubiger kurzerhand militärisch intervenierten (Ägypten 1880; verschiedene zentralamerikanische Republiken Anfang dieses Jahrhunderts) sind längst vorbei. Heute wird das Geschäft von den internationalen Finanzinstitutionen und ihren Geldgebern, den Zentral- und Groábanken der G7-Staaten, erledigt.
  Michel Camdessus, geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), hat Mitte November angekündigt, dem im Zuge der Asienkrise angeschlagenen Brasilien ein Hilfspaket von 41,5 Milliarden Dollar zukommen zu lassen. Die Summe setzt sich aus Finanzierungszusagen von IWF, Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank, der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sowie aus Geldern der G7-Staaten zusammen. Mit 5 Milliarden Dollar bringen allein die USA die gröáte bilaterale Summe seit der mexikanischen Pesokrise 1995 für eine ausländische Volkswirtschaft auf. Die Entscheidung der Clinton-Administration "bringt unsere Verpflichtung zum Ausdruck, das internationale Finanzsystem zu stärken sowie die Finanzmärkte und die Interessen der amerikanischen Wirtschaft zu schützen", erklärte Robert Rubin, Verwalter des US-Fonds, gegenüber der International Herald Tribune.
  Die fünftgröáte Volkswirtschaft der Welt, die mit mehr als 160 Milliarden Dollar Auslandsverschuldung in der Kreide steht, soll mit dem Paket vor dem Abgleiten in eine tiefe ökonomische Krise bewahrt werden. Der Preis für den Kredit sind nicht nur höhere Zinszahlungen, sondern auch ein knapp kalkuliertes Sparprogramm. Die brasilianische Regierung macht aus der Not eine Tugend und will mit diesen Maánahmen das Vertrauen ausländischer Investoren wiedergewinnen und Befürchtungen über eine Abwertung der Landeswährung Real zerstreuen.
  Schon zu Beginn der Asienkrise vor einem Jahr sah sich das südamerikanische Land mit der weltweit zweithöchsten Schuldensumme genötigt, den Zinssatz auf 40-50 Prozent (Frankfurter Rundschau, 9.11.98) zu erhöhen. Derart hohe Zinsen locken vor allem ausländische Banken und Broker an, die mit kurzfristigen Devisengeschäften enorme Profite einfahren wollen. Die Devisen benötigt die brasilianische Regierung ihrerseits dringend zur Begleichung ihres Schuldendienstes.
  Modell Mexiko
  Diese Art Krisenmanagement hat in den 90er Jahren Schule gemacht: Die mexikanische Regierung, die weltweit an erster Stelle der Schuldnerliste steht (166 Milliarden Dollar laut UNDP-Bericht 1998), hat in einer vergleichbaren Situation auf diese Art und Weise ausländische Devisen erhalten. Global Players amerikanischer Versicherungs- und Pensionsfonds liehen sich in New York für 5-6 Prozent Geld, um es in Mexiko mit 14 Prozent gewinnträchtig anzulegen. Zwischen 1990 und 1993 flossen so 91 Milliarden Dollar nach Mexiko - mehr als ein Fünftel der gesamten Nettokapitalflüsse in alle Entwicklungsländer.
  Der Aufstand der Zapatisten und die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Luis Colosio erschütterten jedoch das Vertrauen der Anleger in die wirtschaftliche Stabilität Mexikos. Daran konnte auch die von US- Präsident Clinton vielgepriesene Integration Mexikos in das Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) nichts ändern. Die Manager der Versicherungs- und Pensionfonds zogen ihre Investitionen aus dem mexikanischen Finanzsektor ab und lösten so eine Krise aus. Die nach Ansicht von Finanzexperten überbewertete Landeswährung erlebte eine rasante Talfahrt.
  Vor der totalen Entwertung des Peso und damit dem Auseinanderbrechen des NAFTA bewahrte damals nur ein kombinierter Kredit über 52 Milliarden US-Dollar, finanziert von IWF, Weltbank und US-Regierung.
  Den Preis dafür zahlte die mexikanische Bevölkerung. Der erhöhte Schuldendienst und die mit dem Hilfspaket verbundenen Austeritäts- und Liberalisierungsprogramme hielten die mexikanische Wirtschaft am Boden. Allein bis 1997 gingen insgesamt 8000 Firmen, vor allem kleine und mittlere Betriebe, in Konkurs. Von der Abwärtsspirale am meisten betroffen waren die ohnehin schon an der Armutsgrenze lebenden Bevölkerungsschichten. Laut offiziellen Angaben muáten abhängig Beschäftigte Reallohneinbuáen von 25-30 Prozent hinnehmen.
  Hort der Armut: Afrika
  Nicht nur in Lateinamerika hinterläát die Politik der Verschuldung ihre Spuren. Auch Afrika leidet unter den Folgen steigender Verschuldung. 44 Länder, die der UN-Bericht über menschliche Entwicklung (UNDP) 1998 als solche mit "niedriger menschlicher Entwicklung" einstuft, sind mit 339 Milliarden US-Dollar bei ausländischen Gläubigern verschuldet. Allein 33 davon stammen aus Afrika.
  Trotzdem attestierten die G7-Länder Afrika bei ihrem diesjährigen Treffen im britischen Birmingham einen "neuen Geist der Hoffnung und des Fortschritts". Auch die Weltbank spricht in ihrem jüngsten Bericht von "wirtschaftlicher Erholung ... aufgrund einer besseren Politik". Unter "besserer Politik" ist aus Sicht der Weltbank ein Rückgang der Haushaltsdefizite wegen des "stärkeren Einsatzes einer neuen Klasse engagierter Politiker" für "Reformprogramme" zu verstehen. Eine harmlos klingende und gern verwendete Umschreibung, wenn Rationalisierungs- und Privatisierungsmaánahmen, einhergehend mit radikalen Sparprogrammen gemeint sind.
  Der vorsichtige Optimismus von Weltbank und G7 macht sich vor allem am nominal auf knapp 5 Prozent gestiegenen Bruttoinlandsprodukt (BIP) in einigen afrikanischen Staaten fest. Der Anstieg des BIP gewährt nicht nur eine gewisse Stabilität bei der Zins- und Schuldenrückzahlung, sondern "motiviert die Geldgeber", auch "ehrgeizigere Ziele zu setzen und über die unmittelbare Zukunft hinauszublicken".
  Mit anderen Worten: einige afrikanische Staaten werden zunehmend als Investitionsstandorte interessant. Nach der Asien- und Ruálandkrise sind einzelne Regionen Afrikas in der Tat für einige Anleger zur bedenkenswerten Alternative avanciert, was sich auch in den aktuellen Verhandlungen um den Europäischen Entwicklungsfonds im Rahmen des Lom‚-Nachfolgeabkommens widerspiegelt.
  Das gestiegene BIP einiger afrikanischer Staaten kann jedoch nicht über den ökonomisch desolaten Zustand der meisten Länder dieses Kontinents hinwegtäuschen. Regionaler Handel findet kaum statt, die Wirtschaft ist vor allem auf Exporte nach Europa orientiert, obwohl sich seit der Schuldenkrise der 80er Jahre das Preisverhältnis zwischen den kaum verarbeiteten afrikanischen Exportgütern und den aus den Industrieländern importierten Waren unaufhörlich verschlechtert hat. Bemühungen, diese Differenz durch eine Exportsteigerung auszugleichen, führen lediglich zu einem weiteren Preisverfall.
  Das nominale Wirtschaftswachstum kommt den reichen Oberschichten dieser Länder zugute und erreicht nur selten die Bedürftigen. Hochverschuldete afrikanische Staaten wie Angola oder Nigeria geben heute mehr für den Schuldendienst an ihre Gläubiger aus, als sie für Gesundheit, Erziehung und Grundversorgung aufwenden. Konkret bedeutet das für die Bevölkerung Nigerias eine durchschnittliche Lebenserwartung von 38-52 Jahren und ein jährliches Einkommen, das zwischen 900 und 5000 Dollar differiert (UNDP 1998).
  Teufelskreis
  Verschuldung
  Die Geschichte der Verschuldung ist mehr als ein Zahlenspiel: Ein Groáteil der heute 1583 Milliarden US-Dollar Gesamtschulden der "Entwicklungsländer" häufte sich seit Mitte der 60er Jahre an (1970: 62 Milliarden Dollar). In dieser Zeit wuchs die Bedeutung des ungleichen Tauschs, d.h., die damaligen Kolonien und Halbkolonien muáten immer mehr Arbeit gegen eine gleiche Menge Arbeit der Metropole austauschen (siehe Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, 1972). Mit anderen Worten: Die terms of trade, die Austauschrelationen, entwickelten sich zu ihren Ungunsten, vor allem weil sich der Handel zunehmend zwischen den Metropolen und nicht mehr zwischen den Kolonialstaaten und ihren (ehemaligen) Hoheitsgebieten abspielte.
  Gleichzeitig suchten die Bankiers des wirtschaftlich prosperierenden Nordens Abnehmer für ihre Bargeldüberschüsse. Auch die Weltbank verzehnfachte zwischen 1968 und 1973 ihre Darlehen. Einen Einschnitt brachte die Ölkrise. Anfang der 70er Jahre führte das Kartell der erdölexportierenden Länder (OPEC) zu einem enormen Preisanstieg und schlieálich zur Explosion der Ölpreise 1973. Die Dritte Welt avancierte zum Machtfaktor und führte den Industrieländern ihre Abhängigkeit von Rohstoffen drastisch vor Augen.
  Die zu dieser Zeit stark auf dem Weltmarkt miteinander konkurrierenden internationalen Banken übernahmen eine Transferfunktion und vermittelten die bei den arabischen Ölexporteuren angefallenen Kapitalüberschüsse in erdölimportierende Länder der Dritten Welt. Die Kredite wurden damals zu vergleichsweise günstigen Konditionen und mit der Bedingung vergeben, Waren aus dem Norden zu importieren.
  Diese Dynamik potenzierte sich in den 80er Jahren, dem "Jahrzehnt der Schuldenkrise", das die Wiederherstellung der Dominanz des Nordens einleitete. Die Zinsen schnellten in die Höhe und gleichzeitig drückte die weltwirtschaftliche Rezession die Nachfrage nach Rohstoffen und damit die Preise für Exportwaren aus den Drittweltländern. Darüber hinaus betrieben die Industrieländer eine Politik der Marktabschottung, um ihre eigenen Volkswirtschaften zu schützen. Das erschwerte es den Drittweltländern zusätzlich, ihre Exportkapazitäten als Vorraussetzung für den Schuldendienst auszubauen. Es blieb nur eine Möglichkeit: weitere Kredite, um zurückzahlen zu können - und damit ein zusätzliches Anwachsen der Auslandsverschuldung.
  Während sich die westlichen Industrieländer mit dem 1956 gegründeten Pariser Club bereits früh ein Verhandlungsinstrument geschaffen hatten, scheiterten die Versuche zur Bildung einer Organisation der Schuldner an den unterschiedlichen Interessen der Schuldnerländer und dem Druck der Gläubigerländer, die auf Einzelverhandlungen bestanden.
  Die internationalen Finanzinstitutionen haben in den letzten Jahren vor allem die Ausstände der ärmsten afrikanischen Länder gegenüber Privatbanken übernommen. Das war keinesfalls ein Akt selbstloser Freizügigkeit: für IWF und Weltbank stimmt die Rechnung. Sie erhalten heute von den verschuldeten Ländern mehr Geld, als sie ihnen leihen (UNDP 1994). Auch die Weltbank, die in ihren jährlichen Berichten nicht müde wird, den Kampf gegen die Armut anzumahnen, ist primär eine Brücke, über die privates Kaptial in Drittweltländer geleitet wird.
  Die Einzahlungsquote der 172 Mitgliedstaaten, deren Stimmrecht sich in erster Linie nach der Höhe des Kapitalanteils richtet, beträgt mittlerweile nur noch 10 Prozent. Den Rest ihrer Kredite finanziert die Weltbank seit jeher vor allem mit privaten Krediten des amerikanischen Kaptitalmarkts, mittlerweile zunehmend auch mit denen der Kaptialmärkte der beiden anderen Triadenmächte. Die Zinssätze der von der Weltbank vergebenen Kredite liegen zumeist knapp unter den üblichen Marktkonditionen. Die Geldgeber gewähren der Weltbank relativ günstige Finanzierungsbedingungen, weil die Bank wegen ihrer auf Sicherheit für die Gläubiger ausgerichteten Struktur ein hohes Ansehen genieát.
  1996 haben der Pariser Club, der IWF und die Weltbank eine Initiative ins Leben gerufen, die eine "Schuldenreduzierung" für die "Hochverschuldeten Armen Länder" (HIPCs) vorsieht. Während vergleichbare Initiativen für die wesentlich höher verschuldeten, für die Weltwirtschaft aber bedeutenderen Volkswirtschaften wie Mexiko und Brasilien relativ schnell umgesetzt wurden, müssen sich die HIPCs de facto mit einer Absichtserklärung zufrieden geben. Nur wenige Länder werden überhaupt in das Programm der Initiative aufgenommen und erhalten dann eventuell eine Schuldensenkung - wie im Falle Ugandas - von 3 Prozent. Die meisten Länder Afrikas sind in den Augen der Finanzchefs zu vernachlässigen, "weil sie ihre wirtschaftlichen Interessen nicht groáartig beeinflussen", erklärt die Britin Susan Strange in der Zeitschrift New Left Review.
  Laut UNDP belaufen sich die Schulden der ärmsten Länder auf 136 Millarden US-Dollar. Allein die jährlichen Ausgaben für Rüstung übersteigen weltweit diese Summe um ein Vielfaches: 780 Milliarden Dollar. Dieser Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn mit Krediten aus dem Ausland haben viele Regime in der Dritten Welt ihre Armeen aufgebaut und ausgerüstet. Erst in diesem Jahr verpflichteten IWF und Weltbank den afrikanischen Staat Rwanda, die Kredite zurückzuzahlen, die der frühere Diktator Habyarimana zum Waffenkauf verwendete, die 1994 im Genozid gegen die Tutsi zum Einsatz kamen. Strange resümiert: "Historisch betrachtet haben sich die Reichen und Mächtigen in allen vorrevolutionären Perioden gleichgültig gegenüber den Leiden der Armen verhalten."
  Gerhard Klas
 


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