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70 Milliarden Dollar will der Weltwährungsfonds in
den kommenden drei Jahren bereitstellen, damit Brasilien seine schwere Krise der
Staatsfinanzen und die Abzahlung der Schulden im Griff behält. Bedingung ist
ein neues drakonisches Sparpaket, das die soeben im Amt bestätigte Regierung
Cardoso dem Volk auferlegen soll. Nach den bekannt gewordenen Zahlen sollen u.a.
die Ausgaben für Gesundheit und Bildung um 9-12 Prozent
zusammengestrichen werden. Betroffen sind auch die ohnehin völlig
unzureichenden Landzuteilungen, Infrastrukturmaánahmen und Kredite an die
Landarmut. Allerdings regt sich Widerstand. Die Gewerkschaften planen
gröáere Mobilisierungen und die neu- bzw. wiedergewählten linken
Landesregierungen und Bürgermeister wehren sich gegen die massiven
Kürzungen. Ol¡vio Dutra (PT), neugewählter Gouverneur im Bundesstaat
Rio Grande do Sul: "Ich werde gegenüber dem Weltwährungsfonds
nicht den Kopf hängen lassen."
VertreterInnen der Landlosenbewegung MST und des gröáten
Landarbeiterverbands Contag befinden sich mit Unterstützung der
Solidaritätsbewegung derzeit auf einer Veranstaltungsreise durch Europa.
Für die SoZ sprach Hermann Dierkes mit ihnen in Duisburg nach einer
gemeinsamen Veranstaltung von FIAN, Infostelle 3.Welt, Internationales Zentrum
(VHS) und DGB-Arbeitskreis Porto Alegre.
Sebasti"o, wer ist Contag und was sind die Ziele?
Sebasti"o Rocha: Contag ist mit 3600 Einzelgewerkschaften der gröáte
Landarbeiterverband Brasiliens. Contag wurde 1963 gegründet, also kurz vor
dem Militärputsch. Nach dem Putsch wurden wir unterdrückt und viele
von uns muáten ins Gefängnis oder ins Exil. Ende der 60er Jahre konnten wir
langsam wieder aktiv werden. Seit einigen Jahren haben wir uns der CUT, Brasiliens
gröátem Gewerkschaftsverband, angeschlossen. Wir kämpfen für
ein neues sozioökonomisches Entwicklungsmodell auf der Grundlage einer
Landreform und der Unterstützung bäuerlicher Kleinbetriebe.
Wir wollen vor allem eine binnenorientierte Wirtschaft, die Beendigung der sozialen
Ausgrenzung, der Kinder- und Sklavenarbeit sowie entwickelte soziale und
demokratische Bürgerrechte. Dazu ist eine andere Politik als die von Cardoso
notwendig und der enge Schulterschluá der Arbeitenden in Stadt und Land. Contag
bekämpft Seite an Seite mit der MST die Politik des Neoliberalismus in
Brasilien. Wir halten Landbesetzungen für legitim, um Druck auf die Regierung
auszuüben. Ich selbst bin aus Bras¡lia und in der Leitung von Contag für
das Thema Landreform zuständig.
Ines, du vertrittst die MST...
Ines de Andrade: Die Landlosenbewegung MST ist in 24 von 27 Bundesstaaten aktiv
und bundesweit koordiniert. Ich bin aus dem Bundesstaat Maranh"o und Mitglied der
MST-Landesleitung. Wir kämpfen wie Contag in erster Linie für eine
grundlegende Landreform. Die MST hat zahlreiche Besetzungen von brachliegenden
oder miábräuchlich genutzten Ländereien durchgeführt, um ihre
Enteignung und Zuteilung an Landlose zu erzwingen. So etwas sieht unsere Verfassung
vor.
Wir sind oft wieder von den besetzten Ländereien vertrieben worden, man hat
auf uns geschossen, man hat uns massakriert, wie in Eldorado dos Caraj s. Wir
mobilisieren aber auch in den Städten, besetzen Büros der
Landreformbehörde INCRA, führen Hungerstreiks durch usw. Auf den
besetzten und legalisierten Ländereien richten wir Schulen ein. Derzeit werden
sie von rd. 75000 Kindern besucht. 2800 LehrerInnen unterstützen uns
dabei.
Im Bundesstaat Rio Grande do Sul verfügen wir sogar über ein
Ausbildungszentrum für Lehrer und für politische Bildung. Wir achten
besonders auf die Förderung der Frau. In allen unseren Aktivitäten besteht
eine Quote von 50%. Wir kämpfen so lange weiter, bis alle Zugang zu Land,
Brot und Bildung haben.
Wie ist die Resonanz aus der Bevölkerung?
Ines de Andrade: 85% der Bevölkerung stehen auf unserer Seite, 65%
unterstützen sogar unsere Kampfform der Landbesetzung. Alle Parteien - auch
die Rechten - sprechen inzwischen in ihren Programmen von Landreform. In Wahrheit
haben sie sich nur opportunistisch der Volksmeinung angepaát. Sie meinen bestenfalls
eine Landreform mit hohen Entschädigungszahlungen. Das aber ist für
uns unakzeptabel, denn die Groágrundbesitzer sind mitverantwortlich für unsere
Not und sie haben sich auf unsere Kosten bereichert. Nur wenige Parteien, wie die PT,
PDT, PSD und der Präsidentschaftskandidat Lula setzen sich konsequent
für die Landreform ein.
Die Regierung Cardoso behauptet, sie habe seit 1994 280000 Familien Land zugeteilt.
Waren das konkrete Schritte auf dem Weg zur Landreform?
Wir haben andere Zahlen und beklagen ihre Verfälschung. Laut Jahresbericht
der Landreformbehörde waren es in den Jahren 1995 bis 1997 insgesamt
186000 Familien; davon sind jeweils über 23,8% (bis zu 32%) Ansiedlungen,
die aus der Zeit vorheriger Regierungen stammen. Darüber hinaus zählt
der Präsident auch die erst noch geplanten Ansiedlungen mit. Die
vorläufigen offiziellen Untersuchungen über die Situation auf dem Land
1966 ergaben, daá zwischen 1995 und 1996 etwa zwei Millionen Arbeitsplätze
in der Landwirtschaft verloren gegangen sind. Laut einem Abgeordnetenausschuá
wurden etwa zehnmal mehr Menschen auf dem Land entlassen als Menschen von der
Regierung Cardoso angesiedelt.
Sebasti"o Rocha: Bei dem Tempo der Regierung Cardoso würde es mehrere
hundert Jahre dauern, bis alle Landlosen eine Existenz haben. In Brasilien gibt es rund
360 Millionen Hektar gutes Ackerland. Die 30 Millionen Armen brauchen 60% davon,
um Lebensmittel zu erzeugen. Ich will nur daran erinnern, daá in Brasilien 10% der
Neugeborenen sterben, bevor sie das erste Lebensjahr vollendet haben.
Auáerdem führen die Ausweitung der Plantagenwirtschaft und die wachsende
Mechanisierung dazu, daá immer weniger Menschen auf dem Land Arbeit finden. Die
Masse der Plantagenerzeugnisse (Kaffee, Soja, Zucker, Orangen, Zellulose usw.) wird
exportiert. Wir haben nichts davon.
Welche Auswirkungen haben die jüngsten Wahlergebnisse auf eure
Probleme?
Sebasti"o Rocha: In der ersten Amtszeit von Cardoso haben 197 Menschen ihr Leben
im Kampf um Land verloren. Der Druck ist sehr hoch und die Grundbesitzer haben viel
daran gesetzt, Vertreter ihrer Interessen in das Abgeordnetenhaus zu bekommen. Das
Wahlergebnis zeigt, daá 165 Abgeordnete selber Groágrundbesitzer sind.
Um nicht enteignen zu müssen - angeblich um die Agrarreform nicht durch
langjährige juristische Auseinandersetzungen zu verzögern - nahm die
Regierung Cardoso weitere Kredite des IWF auf und vergibt Kredite für den
Landkauf an landlose Bauern, die nach zehn Jahren ratenweise zurückgezahlt
werden müssen. Solche Angebote verursachen nicht nur weitere
Landspekulationen, die Kreditnehmer laufen auch Gefahr, einen Teil der Kredite gar
nicht zu bekommen, weil der Haushalt eingefroren wurde.
Die Mittel für die Agrarreform wurden bei dieser Gelegenheit auf einen Schlag
um 49% gekürzt. Damit sind die Versprechen der Regierung, 1999 an 100000
Bedürftige Land zu verteilen, bereits im Vorfeld gescheitert. Der
Präsidentschaftskandidat der Opposition hatte eine jährliche Zuteilung an
eine Million Landlose gefordert. Cardoso hat übrigens im Wahlkampf nicht
bestritten, daá dies möglich sei.
Können die neugewählten linken Landesregierungen euch
unterstützen?
Ines de Andrade: Sicher. Aber entscheidend wird sein, daá wir weiterhin einen enormen
auáerparlamentarischen Druck auf die Bundesregierung in Bras¡lia ausüben.
Denn Enteignungen (mit Entschädigungen in Form von Titeln auf die
landwirtschaftliche Bundesschuld) können nur durch den Präsidenten der
Republik durchgeführt werden.
Das Klimaphänomen El Ni¤o hat auch in Brasilien verheerende Auswirkungen
gehabt. Wie wart ihr im Nordosten davon betroffen?
Ines de Andrade: Durch die lange Trockenheit gab es keine Ernte. Kredite konnten
nicht zurückgezahlt werden oder wurden gesperrt. Die Regierung war trotz vieler
Warnungen von Wissenschaftlern nicht darauf vorbereitet. Sie griff die Kleinbauern an
und warf ihnen Unfähigkeit vor, mit Geld umzugehen. Viele Menschen standen
vor dem Nichts. Um zu überleben, nahmen sie an Lebensmittelrequisitionen in
Lagern und Supermärkten teil.
Unter den Verhafteten befinden sich sehr viele MST-Leitungsmitglieder. Sie warten
jetzt auf den Prozeá. Zum Beispiel wurden gegen Jo"o Pedro St‚dile, Leitungsmitglied
der MST, allein drei Prozesse eingeleitet: wegen "Raubes",
"Bandenbildung" und "Bildung bewaffneter
Gruppen".
Allerdings ist die Solidarität mit den Angeklagten groá. Auch die katholische
Kirche hat sich auf ihre Seite gestellt, doch kein Bischof muá sich vor Gericht
für seine Stellungnahme verantworten. Der Prozeá gegen Jos‚ Rainha, ein
weiteres Leitungsmitglied der MST, dem zu Unrecht der Mord an Angestellten von
Groágrundbesitzern vorgeworfen wurde, wird im Dezember fortgesetzt. Der
Solidaritätsbewegung ist es immerhin gelungen, das Verfahren von der Stadt
Pedro Canaria in die Hauptstadt des Bundesstaats Espirito Santo, Vitoria, zu verlegen.
Denn die Richter waren alle voreingenommen und es gab begründeten Verdacht,
daá ein rein politisches Urteil gefällt würde.
Was wir immer wieder feststellen: Die Regierung reagiert sehr sensibel auf Proteste,
insbesondere aus dem Ausland. Deshalb ist die Solidarität so wichtig und
deshalb legen wir groáen Wert darauf, auch im Ausland über die Situation aus
der Sicht der Betroffenen zu berichten.
Hermann Dierkes