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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 15

Brasiliens Bewegung der Landlosen

Kampf für Land, Brot und Bildung

70 Milliarden Dollar will der Weltwährungsfonds in den kommenden drei Jahren bereitstellen, damit Brasilien seine schwere Krise der Staatsfinanzen und die Abzahlung der Schulden im Griff behält. Bedingung ist ein neues drakonisches Sparpaket, das die soeben im Amt bestätigte Regierung Cardoso dem Volk auferlegen soll. Nach den bekannt gewordenen Zahlen sollen u.a. die Ausgaben für Gesundheit und Bildung um 9-12 Prozent zusammengestrichen werden. Betroffen sind auch die ohnehin völlig unzureichenden Landzuteilungen, Infrastrukturmaánahmen und Kredite an die Landarmut. Allerdings regt sich Widerstand. Die Gewerkschaften planen gröáere Mobilisierungen und die neu- bzw. wiedergewählten linken Landesregierungen und Bürgermeister wehren sich gegen die massiven Kürzungen. Ol¡vio Dutra (PT), neugewählter Gouverneur im Bundesstaat Rio Grande do Sul: "Ich werde gegenüber dem Weltwährungsfonds nicht den Kopf hängen lassen."
  VertreterInnen der Landlosenbewegung MST und des gröáten Landarbeiterverbands Contag befinden sich mit Unterstützung der Solidaritätsbewegung derzeit auf einer Veranstaltungsreise durch Europa. Für die SoZ sprach Hermann Dierkes mit ihnen in Duisburg nach einer gemeinsamen Veranstaltung von FIAN, Infostelle 3.Welt, Internationales Zentrum (VHS) und DGB-Arbeitskreis Porto Alegre.
  Sebasti"o, wer ist Contag und was sind die Ziele?
  Sebasti"o Rocha: Contag ist mit 3600 Einzelgewerkschaften der gröáte Landarbeiterverband Brasiliens. Contag wurde 1963 gegründet, also kurz vor dem Militärputsch. Nach dem Putsch wurden wir unterdrückt und viele von uns muáten ins Gefängnis oder ins Exil. Ende der 60er Jahre konnten wir langsam wieder aktiv werden. Seit einigen Jahren haben wir uns der CUT, Brasiliens gröátem Gewerkschaftsverband, angeschlossen. Wir kämpfen für ein neues sozioökonomisches Entwicklungsmodell auf der Grundlage einer Landreform und der Unterstützung bäuerlicher Kleinbetriebe.
  Wir wollen vor allem eine binnenorientierte Wirtschaft, die Beendigung der sozialen Ausgrenzung, der Kinder- und Sklavenarbeit sowie entwickelte soziale und demokratische Bürgerrechte. Dazu ist eine andere Politik als die von Cardoso notwendig und der enge Schulterschluá der Arbeitenden in Stadt und Land. Contag bekämpft Seite an Seite mit der MST die Politik des Neoliberalismus in Brasilien. Wir halten Landbesetzungen für legitim, um Druck auf die Regierung auszuüben. Ich selbst bin aus Bras¡lia und in der Leitung von Contag für das Thema Landreform zuständig.
 
  Ines, du vertrittst die MST...
  Ines de Andrade: Die Landlosenbewegung MST ist in 24 von 27 Bundesstaaten aktiv und bundesweit koordiniert. Ich bin aus dem Bundesstaat Maranh"o und Mitglied der MST-Landesleitung. Wir kämpfen wie Contag in erster Linie für eine grundlegende Landreform. Die MST hat zahlreiche Besetzungen von brachliegenden oder miábräuchlich genutzten Ländereien durchgeführt, um ihre Enteignung und Zuteilung an Landlose zu erzwingen. So etwas sieht unsere Verfassung vor.
  Wir sind oft wieder von den besetzten Ländereien vertrieben worden, man hat auf uns geschossen, man hat uns massakriert, wie in Eldorado dos Caraj s. Wir mobilisieren aber auch in den Städten, besetzen Büros der Landreformbehörde INCRA, führen Hungerstreiks durch usw. Auf den besetzten und legalisierten Ländereien richten wir Schulen ein. Derzeit werden sie von rd. 75000 Kindern besucht. 2800 LehrerInnen unterstützen uns dabei.
  Im Bundesstaat Rio Grande do Sul verfügen wir sogar über ein Ausbildungszentrum für Lehrer und für politische Bildung. Wir achten besonders auf die Förderung der Frau. In allen unseren Aktivitäten besteht eine Quote von 50%. Wir kämpfen so lange weiter, bis alle Zugang zu Land, Brot und Bildung haben.
 
  Wie ist die Resonanz aus der Bevölkerung?
  Ines de Andrade: 85% der Bevölkerung stehen auf unserer Seite, 65% unterstützen sogar unsere Kampfform der Landbesetzung. Alle Parteien - auch die Rechten - sprechen inzwischen in ihren Programmen von Landreform. In Wahrheit haben sie sich nur opportunistisch der Volksmeinung angepaát. Sie meinen bestenfalls eine Landreform mit hohen Entschädigungszahlungen. Das aber ist für uns unakzeptabel, denn die Groágrundbesitzer sind mitverantwortlich für unsere Not und sie haben sich auf unsere Kosten bereichert. Nur wenige Parteien, wie die PT, PDT, PSD und der Präsidentschaftskandidat Lula setzen sich konsequent für die Landreform ein.
 
  Die Regierung Cardoso behauptet, sie habe seit 1994 280000 Familien Land zugeteilt. Waren das konkrete Schritte auf dem Weg zur Landreform?
  Wir haben andere Zahlen und beklagen ihre Verfälschung. Laut Jahresbericht der Landreformbehörde waren es in den Jahren 1995 bis 1997 insgesamt 186000 Familien; davon sind jeweils über 23,8% (bis zu 32%) Ansiedlungen, die aus der Zeit vorheriger Regierungen stammen. Darüber hinaus zählt der Präsident auch die erst noch geplanten Ansiedlungen mit. Die vorläufigen offiziellen Untersuchungen über die Situation auf dem Land 1966 ergaben, daá zwischen 1995 und 1996 etwa zwei Millionen Arbeitsplätze in der Landwirtschaft verloren gegangen sind. Laut einem Abgeordnetenausschuá wurden etwa zehnmal mehr Menschen auf dem Land entlassen als Menschen von der Regierung Cardoso angesiedelt.
  Sebasti"o Rocha: Bei dem Tempo der Regierung Cardoso würde es mehrere hundert Jahre dauern, bis alle Landlosen eine Existenz haben. In Brasilien gibt es rund 360 Millionen Hektar gutes Ackerland. Die 30 Millionen Armen brauchen 60% davon, um Lebensmittel zu erzeugen. Ich will nur daran erinnern, daá in Brasilien 10% der Neugeborenen sterben, bevor sie das erste Lebensjahr vollendet haben.
  Auáerdem führen die Ausweitung der Plantagenwirtschaft und die wachsende Mechanisierung dazu, daá immer weniger Menschen auf dem Land Arbeit finden. Die Masse der Plantagenerzeugnisse (Kaffee, Soja, Zucker, Orangen, Zellulose usw.) wird exportiert. Wir haben nichts davon.
 
  Welche Auswirkungen haben die jüngsten Wahlergebnisse auf eure Probleme?
  Sebasti"o Rocha: In der ersten Amtszeit von Cardoso haben 197 Menschen ihr Leben im Kampf um Land verloren. Der Druck ist sehr hoch und die Grundbesitzer haben viel daran gesetzt, Vertreter ihrer Interessen in das Abgeordnetenhaus zu bekommen. Das Wahlergebnis zeigt, daá 165 Abgeordnete selber Groágrundbesitzer sind.
  Um nicht enteignen zu müssen - angeblich um die Agrarreform nicht durch langjährige juristische Auseinandersetzungen zu verzögern - nahm die Regierung Cardoso weitere Kredite des IWF auf und vergibt Kredite für den Landkauf an landlose Bauern, die nach zehn Jahren ratenweise zurückgezahlt werden müssen. Solche Angebote verursachen nicht nur weitere Landspekulationen, die Kreditnehmer laufen auch Gefahr, einen Teil der Kredite gar nicht zu bekommen, weil der Haushalt eingefroren wurde.
  Die Mittel für die Agrarreform wurden bei dieser Gelegenheit auf einen Schlag um 49% gekürzt. Damit sind die Versprechen der Regierung, 1999 an 100000 Bedürftige Land zu verteilen, bereits im Vorfeld gescheitert. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition hatte eine jährliche Zuteilung an eine Million Landlose gefordert. Cardoso hat übrigens im Wahlkampf nicht bestritten, daá dies möglich sei.
 
  Können die neugewählten linken Landesregierungen euch unterstützen?
  Ines de Andrade: Sicher. Aber entscheidend wird sein, daá wir weiterhin einen enormen auáerparlamentarischen Druck auf die Bundesregierung in Bras¡lia ausüben. Denn Enteignungen (mit Entschädigungen in Form von Titeln auf die landwirtschaftliche Bundesschuld) können nur durch den Präsidenten der Republik durchgeführt werden.
 
  Das Klimaphänomen El Ni¤o hat auch in Brasilien verheerende Auswirkungen gehabt. Wie wart ihr im Nordosten davon betroffen?
  Ines de Andrade: Durch die lange Trockenheit gab es keine Ernte. Kredite konnten nicht zurückgezahlt werden oder wurden gesperrt. Die Regierung war trotz vieler Warnungen von Wissenschaftlern nicht darauf vorbereitet. Sie griff die Kleinbauern an und warf ihnen Unfähigkeit vor, mit Geld umzugehen. Viele Menschen standen vor dem Nichts. Um zu überleben, nahmen sie an Lebensmittelrequisitionen in Lagern und Supermärkten teil.
  Unter den Verhafteten befinden sich sehr viele MST-Leitungsmitglieder. Sie warten jetzt auf den Prozeá. Zum Beispiel wurden gegen Jo"o Pedro St‚dile, Leitungsmitglied der MST, allein drei Prozesse eingeleitet: wegen "Raubes", "Bandenbildung" und "Bildung bewaffneter Gruppen".
  Allerdings ist die Solidarität mit den Angeklagten groá. Auch die katholische Kirche hat sich auf ihre Seite gestellt, doch kein Bischof muá sich vor Gericht für seine Stellungnahme verantworten. Der Prozeá gegen Jos‚ Rainha, ein weiteres Leitungsmitglied der MST, dem zu Unrecht der Mord an Angestellten von Groágrundbesitzern vorgeworfen wurde, wird im Dezember fortgesetzt. Der Solidaritätsbewegung ist es immerhin gelungen, das Verfahren von der Stadt Pedro Canaria in die Hauptstadt des Bundesstaats Espirito Santo, Vitoria, zu verlegen. Denn die Richter waren alle voreingenommen und es gab begründeten Verdacht, daá ein rein politisches Urteil gefällt würde.
  Was wir immer wieder feststellen: Die Regierung reagiert sehr sensibel auf Proteste, insbesondere aus dem Ausland. Deshalb ist die Solidarität so wichtig und deshalb legen wir groáen Wert darauf, auch im Ausland über die Situation aus der Sicht der Betroffenen zu berichten.
  Hermann Dierkes
 


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