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Geh zu den Toten, Mörder!" rufen
Menschen auf einer Straáe in Le¢n im Norden Nikaraguas, während ein Mann
sich anschickt, aus einer silbergrauen Staatskarosse zu steigen. Es ist Arnoldo Alem n,
seit fast zwei Jahren nikaraguanischer Staatspräsident. Zu diesem Vorfall in
Le¢n kam es am 3.November 1998, vier Tage nach einer der gröáten
Naturkatastrophen, die praktisch den gesamten mittelamerikanischen Raum
heimsuchte. Noch ist nicht sicher, wie hoch die Zahl der Todesopfer ist, aber die
Überlebenden in Le¢n halten Alem n und seine Regierung für mitschuldig
am Tod mehrerer tausend Menschen.
Das "Nikaraguanisches Institut für territoriale Studien"
verkündete bereits eine Woche vor Beginn der Regenfälle Mitte Oktober
die Gefahr, daá der Hurrikan Mitch das nationale Gebiet heimsuchen könnte.
Die Regierung veranlaáte daraufhin weder präventive Maánahmen, noch wurde
die Bevölkerung in Alarmbereitschaft versetzt. Auch wurden keine
Helfergruppen zusammengestellt, wie etwa beim Hurrikan Joan 1988.
Das Ausmaá der Katastrophe und ihre Auswirkungen wurden bagatellisiert.
Eindeutiger Ausdruck hiervon: die Gefahr, die von einem möglichen Erdrutsch
am Vulkan Casitas in Posoltega ausging, wurde von der Regierung heruntergespielt
und die Bürgermeisterin, die im Vorfeld vor der Gefahr warnte, beschuldigt,
Gerüchte zu verbreiten. Durch den Erdrutsch starben über 1500
Menschen.
Die ersten Transporte von Hilfsgütern mit Medikamenten und Kleidung
für die Überlebenden trafen hier erst am 5.November ein. Auch in den
anderen betroffenen Gebieten fehlte es an den elementarsten Versorgungsgütern.
Erst am 31.10. begann die Armee mit der Bergung und der Notversorgung. Seitdem ist
sie zwar pausenlos im Einsatz, doch Hubschrauber stehen bei weitem nicht in
ausreichendem Maáe zur Verfügung. Die ihrer Existenzgrundlage beraubten
Menschen fühlen sich von der Regierung alleingelassen.
Trotz dieser offensichtlichen Notlage erklärten verschiedene Ministerien
wiederholt, der Notstand sei nur vorübergehend, es gebe reichlich und
genügend Nahrungsmittel, die Beinträchtigung der Ernten sei nicht
alarmierend und die Straáen und Brücken würden schnell
repariert.
Der Vizepräsident der Republik lehnte Lebensmittelhilfen zunächst mit
der Begründung ab, daá die Bevölkerung daran gewöhnt sei, gallo
pinto (Reis mit Bohnen) zu essen und Lagervorräte ausreichend vorhanden
seien.
Offensichtlich ging es der Regierung darum, gegenüber dem IWF,
ausländischen Regierungen und vor allem Investoren, das Bild eines sich
stabilisierenden Landes aufrechtzuerhalten. Darin sind nicht nur Streiks,
Straáenschlachten und bewaffnete Banden auf dem Land unerwünscht, sondern
auch Naturkatastrophen, die Instabilität bedeuten. So sagte der Minister
für Auswärtige Zusammenarbeit: "Das
Strukturanpassungsprogramm ESAF II wird durch die jetzige Situation keinerlei
Modifizierung erleiden. Es wird erfüllt."
Trotz ausbrechender Epidemien lehnte Alem n das Angebot Kubas, eine kubanische
Ärztebrigade sowie Medikamente zu schicken, ab. Diese Zurückweisung
ist bei der Bevölkerung auf groáes Unverständnis gestoáen, da selbst der
Diktator Somoza beim Erdbeben 1972 kubanische Ärztebrigaden akzeptierte.
Die Ablehnung kommentierte Alem n zynisch: "Wollen Sie, daá die kubanischen
Ärzte zum Essen hier nach Nikaragua kommen?"
Die Auswirkungen des Hurrikans prägen die politischen Auseinandersetzungen
und das Tagesgeschehen in Nikaragua. Machtkonstellationen, die sich seit Januar
1997, dem Machtantritt des erzkonservativen Präsidenten Alem n ergeben
haben, verändern sie bislang nicht.
Die radikale Rhetorik der
FSLN, die seit Januar 1997 die liberale, durch Machtmiábrauch gekennzeichnete
Politik der liberalen Regierung angreift, wurde im öffentlichen Kontext
beibehalten. Hinter den Kulissen jedoch, prägen geheime Verhandlungen das
politische Geschehen. An einem Tisch finden sich die regierenden Liberalen mit der
immer noch gröáten Oppositionspartei FSLN. Ziel der Verhandlungen ist die
Machtkonsolidierung, die Aufteilung von Räumen zwischen den beiden
politischen Polen.
Beide Parteien wollen eine Wahlreform, die die Hauptparteien finanziell
begünstigt. Die
FSLN fordert darüber hinaus eine Neubesetzung und mehr Sitze im Obersten
Wahlrat, da sie dieses Wahlmanagementgremium für die eigene Wahlniederlage
von 1996 verantwortlich macht. Des weiteren fordert sie mehr Sitze beim Obersten
Gerichtshof.
Alem n hingegen versucht seine Mehrheiten im Obersten Wahlrat und Obersten
Gerichtshof zu behalten, ist aber offensichtlich dennoch bereit, den Spielraum der
FSLN zu vergröáern, wenn im Gegenzug das Wahlgesetz bezüglich der
Wiederwahl zum Präsidenten geändert wird und so seine Wiederwahl
technisch ermöglicht wird.
Ein weiterer Verhandlungspunkt ist die Etablierung eines Zweikammersystems
(Nationalversammlung und Senat), sowie die Ernennung aller Expräsidenten zu
Senatoren auf Lebenszeit. Die Ernennung zum Senator auf Lebenszeit soll mit Ortega
beginnen. Das schlösse eine lebenslange Immunität ein. Dies würde
für Ortega bedeuten, daá er bezüglich der Anklage seiner Stieftochter
Zoilam‚rica wegen jahrelangen sexuellen Miábrauchs zeitlebens strafrechtlich nicht zu
belangen wäre.
Darüber hinaus stehen bei den Verhandlungen für die FSLN-Führer
gut dotierte Machtpositionen in den Vorständen staatlicher Institutionen und der
Banken sowie Steuervergünstigungen für FSLN-Unternehmen und die
endgültige Klärung bezüglich der APT-Betriebe (arbeitereigene
Betriebe) zur Position, in denen wichtige FSLN-Führungskader
persönliche ökonomische Interessen haben.
Wenn Ortega dem Vorwurf, unter Ausschluá der Öffentlichkeit mit Alem n zu
paktieren, entgegenhält, es gäbe keinen Pakt, sondern die FSLN
beanspruche lediglich einen Spielraum, der ihr als zweite Kraft nach den Wahlen
zustehe, stellt sich die Frage, warum die FSLN-Fraktion aufgrund ihres derzeitigen
Übergewichts im Parlament, mit 36 gegenüber 33 Abgeordneten der
Liberalen Partei, nicht den Spielraum nutzt, um eine vehemente Oppositionspolitik zu
betreiben, eine Politik, die sich gemeinsam mit der Basis für die Belange der
verarmten Bevölkerungsmehrheit einsetzt, statt sich in inoffiziellen und
fragwürdigen Verhandlungen aufzureiben.
Doch in der jeweiligen Situation, in der sich beide Parteien (bzw. ihre
Führungskräfte) befinden, scheinen sowohl die von Alem n
geführte PLC als auch die von Ortega dominierte FSLN trotz verbal betonter
extremer ideologischer Gegensätze, hauptsächlich daran interessiert zu
sein, eigene Positionen zu stabilisieren, Machtquoten aufzuteilen und sich diese
gegenseitig zu garantieren.
Ein gefährliches Spiel für die FSLN, die immer mehr an
Glaubwürdigkeit einbüát und eine enttäuschte Basis
zurückläát. An dieser politischen Leitlinie änderte auch die
Katastrophe bislang nichts. Zwar versuchten die FSLN-Parlamentarier den
Präsidenten aufgrund des Miámanagements bei der Soforthilfe abzusetzen. Doch
die Initiative scheiterte.
Ein Abbruch der Verhandlungen zwischen Regierung und FSLN-Führungsspitze
ist dennoch nicht in Sicht. Sie sollen "zur gegebenen Zeit" fortgesetzt
werden. Das "Politische", so FSLN-Chef Orgega, sei von der derzeitigen
Situation zu trennen und "sollte nicht vermischt werden".
Daá das Politische nicht von der derzeitigen Situation zu trennen ist, zeigt Alem ns
Umgang mit den internationalen Hilfslieferungen. Sein erster Versuch, alle Lieferungen
über das von ihm gesteuerte Nationale Notstandskomitee zu kanalisieren,
scheiterte am nationalen wie internationalen Druck. Seitdem können die
Lieferungen direkt an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) weitergeleitet
werden.
Die Hilfsleistungen, die an die Regierung flieáen, werden - so sie nicht auf den
Märkten auftauchen, was auch schon vorgekommen ist - unter der Flagge der
liberal-konstitutionellen Partei Alem ns verteilt. Da, wo diese nicht präsent ist,
es jedoch für Alem n darum geht, sandinistische Basisstrukturen und
Gemeindevertretungen zu umgehen, eilt die katholische Amtskirche zum
Schulterschluá herbei - ein Vorgehen, das an die massive Wahlkampfhilfe, die Alem n
1997 vom katholischen Kardinal Obando y Bravo erfuhr, anknüpft.
Auf der Strecke bleiben die Menschen. Über 60 Prozent der Ernten sind
zerstört, in den am härtesten betroffenen Regionen Chinandega, Le¢n,
Esteli, Jinotega, Matagalpa und der Costa Atl ntica ist das Wasser von nicht
geborgenen Leichen und Tierkadavern verseucht. Cholera breitet sich aus. Die
Menschen brauchen neben der Nothilfe langfristige Unterstützung, die effizient
über dezentrale NGOs kanalisiert wird. Um den Wiederaufbau des Landes
vorantreiben zu können, müssen langfristig Basisorganisationen
gestärkt werden.
Annette Massmann