Artikel |
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen
verabschiedet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die "als das
von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal"
formuliert: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale
Sicherheit ... Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf
angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen
Arbeitslosigkeit ... Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und
befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der emnschlichen
Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere
soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist."
Paris, 10.Dezember 1998: Mehrere zehntausend Erwerbslose demonstrieren auf dem
Platz der Menschenrechte für die Anhebung der sozialen Mindestleistungen; sie
folgen dem Aufruf der vier großen Erwerbslosenorganisationen, der
Gewerkschaften SUD sowie CFDT (Opposition). Das ist die französische Art
daran zu erinnern, daß im triumphierenden Kapitalismus ohne gesellschaftliche
Alternative allein in Frankreich über hundert Menschen während der
jüngsten Kältewelle erfroren sind, die Zahl der Menschen ohne
Einkommen und ohne Dach über dem Kopf zunimmt, die Menschenwürde
Tag für Tag durch Armut, Hunger und Verfolgung mit Füßen
getreten wird.
Und was geschieht auf der rechten Seite des Rheins? Amnesty
International lädt nach Frankfurt am Main zu einer Versammlung in der
Paulskirche ein, auf der ein Vertreter von Siemens sagen darf, sein Unternehmen sei
sich der Verantwortung für die Menschen bewußt und es sei ihm nicht
bekannt, daß Kleinbauern, die gegen den Verlust ihres Landes durch den Bau des
Narmada-Staudamms in Indien protestierten - an dem auch Siemens beteiligt ist - von
der Polizei zusammengeschlagen wurden.
Französisch klingt anders:
Da haben sich die Eisenbahner wieder, wie schon im Winter 1995/96, an die Spitze des
sozialen Protests gestellt und fordern mit Streiks, die bis heute andauern, ein Stop des
Personalabbaus, Neueinstellungen und die Neuordnung des öffentlichen
Transportsystems in Europa: bedarfsgerecht, billig, flächendeckend und sparsam
im Energieverbrauch.
Am 23.November sind sie, zusammen mit den Eisenbahnergewerkschaften aus
sieben anderen europäischen Ländern - Spanien, Italien, Portugal,
Belgien, Luxemburg, Griechenland - in einen eintägigen europaweiten Streik
gegen die weitere Privatisierung der Bahn getreten. Der erste europäische Streik
dieser Art hat im Oktober 1992 stattgefunden; seither haben sich die
europäischen Eisenbahner EU-weit gut koordiniert. Die GdED in Deutschland
hat den Streik nur verbal unterstützt, angeblich war dies ein politischer
Streik, der in Deutschland nicht erlaubt sei.
Am 27.November haben die französischen Eisenbahner den Streik fortgesetzt.
Die Lokführer fahren nicht mehr, die Kontrolleure fertigen nicht mehr ab und an
den Schaltern werden keine Fahrkarten mehr verkauft: Seit 1992 sind 25000 Stellen
bei der Bahn abgebaut worden, obwohl Verkehr wie Umsatz zugenommen
haben. Die Bahn schaut nur darauf, daß ihr Haushalt ausgeglichen ist, und das
geht voll auf die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit (vgl. S.4).
Am 2. und 3.Dezember haben die Angestellten der Post und der Banken
für die 35-Stunden-Woche und für mehr Arbeitsplätze gestreikt. Im
Gesundheitswesen bereiten die Gewerkschaften CGT und SUD Aktionen gegen die
Sparpläne in den Krankenhäusern vor, weil das Parlament
demnächst über den Sozialversicherungshaushalt abstimmen
will.
Und die Erwerbslosen sind wieder volmit von der Partie: Seit
September organisieren die drei Erwerbslosenorganisationen AC!, MNCP und APEIS
an jedem Monatsanfang Aktionstage zu einer bestimmten Forderung: kostenlose
Beförderung, Anhebung der sozialen Mindestleistungen. Ende November hat die
CGT - wie im letzten Jahr - 15000 Erwerbslose in Marseille zusammengetrommelt,
um vor den Arbeitsämtern die alljährliche
"Jahresendprämie" einzufordern. Das sind Überschüsse
im Haushalt "Leistungen an Erwerbslose", die ihnen im vergangenen Jahr
erstmals vorenthalten werden sollten; durch ihre Aktionen zwischen Weihnachten und
Neujahr hatte die CGT damals ihre Ausschüttung erzwungen.
Diesmal haben mehr Erwerbslose die Aktion befolgt als im vergangenen Jahr. In
zahlreichen Städten des Landes besetzten sie die Arbeitsämter; in
Marseille haben 300-400 Erwerbslose der CGT Arbeitsämter gestürmt,
die die Auszahlung verweigern wollten. In Paris wurden die Ämter in der ersten
Dezemberwoche vorsorglich für eine ganze Woche geschlossen.
Die öffentliche Meinung ist auf der Seite der Erwerbslosen: wenn andere
Weihnachtsgeld bekommen, warum nicht auch sie? Vor der Demonstration am 10.12.
in Paris gab es eine Serie von Aktionstagen; spektakuläre Aktionen sind
landesweit für den 21.12. geplant. Und auch nach den Feiertagen geht es
weiter...
Wieder einmal stehen Forderungen gegen die Privatisierung der
öffentlichen Dienste, für Arbeitsplätze und für ein
menschenwürdiges Einkommen im Mittelpunkt.
Die Protestierenden lassen sich nicht davon beeindrucken, daß die
Umweltministerin eine Grüne ist und der Verkehrsminister zur KP gehört,
und auch nicht davon, daß die CGT deswegen zwar den europäischen
Streik und die Aktionen der Erwerbslosen, aber nicht den nationalen Eisenbahnerstreik
unterstützt; die Mobilisierung findet an der Basis statt.
Geschichte wiederholt sich nicht. Diesmal unterstützen die Eisenbahner
die Demonstration der Erwerbslosen am 10.12. nicht. Der Grund: Bei den
Eisenbahnern sind es hauptsächlich die Kontrolleure, die streiken. Aber mit
denen liegen die Erwerbslosen über Kreuz, denn die stellen ihnen immer nach.
Trotzdem stehen die Chancen gut, daß die Proteste sich ausweiten.
Angela Klein