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Alles hat angefangen mit dem Personalmangel. Personal,
das heißt Haushalt. Wir haben mal ausgerechnet, wieviel Leute wir mehr
bräuchten, um unter denselben Bedingungen wie vor zwei Jahren arbeiten zu
können. Wir sind auf 30 Lokführer gekommen. Das bedeutet: Wir
müssen die Sechs-Tage-Woche ablehnen und die Fünf-Tage-Woche
fordern; wir brauchen eine Verdopplung der Ruhepausen; die Pausen müssen
eingehalten werden.
Die Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert, weil wir von der
Gewerkschaft nicht genug aufgepaßt haben, daß sie vor Ort, wo sie
häufig besser sind als die Verträge der SNCF allgemein vorsehen, rigoros
eingehalten werden.
Auf den Streikversammlungen erzählen die Leute, was sie im Alltag belastet: sie
sammeln Urlaubstage, die sie nicht nehmen dürfen, Ruhepausen werden
verschoben, Stellen nicht besetzt, dafür werden Teilzeitkräfte eingesetzt,
die Fahrpläne verzögern sich. Die Züge sind veraltet; über
9000 Züge sind ausgefallen wegen Mangel an Personal oder
Materialfehlern.
Bei der SNCF haben sich fast 3 Millionen bezahlte Überstunden angesammelt –
das entspricht 1700 Arbeitsplätzen; 1998 wurden nochmal ca. 1000 Stellen
abgebaut, obwohl der Verkehr zunimmt.
Der Personalmangel ist so kritisch, daß die Sicherheit nicht mehr
gewährleistet werden kann. In Bordeaux z.B. hat es seit Beginn des Jahres 18
tätliche Angriffe gegeben. Die Kontrolleure sind oft allein in den Zügen.
Wir fordern mindestens zwei. Auf einem TGV zwischen Bordeaux und Paris, in dem
500 Personen sitzen, kann ein einzelner Kontrolleur nicht gleichzeitig auf die Sicherheit
der Reisenden achten, Informationen geben und die Fahrkarten kontrollieren.
Auf den Bahnsteigen gibt es kaum noch Personal, an das Reisende sich wenden
können, die Gebäude verfallen, die Öffnungszeiten der
Bahnhöfe werden immer kürzer, die Zahl der eingesetzten Züge
immer geringer. Der Vorstand der SNCF und die öffentliche Hand haben es im
wesentlichen zu verantworten, daß ein Klima der Verunsicherung entstanden ist,
das besonders Bahnbenutzer und Bahnpersonal belastet. Die Gewerkschaften
schätzen, daß 5000 Neueinstellungen nötig wären.
Dazu kommt, daß in den Jahren 2000 und 2001 viele Zugführer in Rente
gehen werden; die müssen schon im nächsten Jahr eingearbeitet
werden.
Wir haben dem Bahnvorstand einen Katalog mit 30 Forderungen vorgelegt; der Streik
ging dann sofort los, am 10.November um 4 Uhr morgens. Er wurde nicht so massiv
befolgt wie die Woche davor bei den Kontrolleuren, nur 50 Prozent waren
beteiligt.
Der Vorstand hat sich nicht gerührt. Da haben wir den Bahnhof blockiert und die
Abfahrt der Züge. Wir sind auch zur Bezirksdirektion gegangen; die hat sich
auch nicht bewegt. Daraufhin haben die Streikenden gesagt: "Wenn ihr eure
Meinung nicht ändern wollt, werden wir dafür sorgen, daß ihr in
eurem Büro darüber nachdenken könnt, bis ihr bessere Antworten
gebt." In der Presse hieß es dann, das sei Freiheitsberaubung. Es dauerte
zwei Stunden, von morgens bis mittags.
Der Streik weitet sich aus, wir haben jetzt 75 Prozent Teilnahme erreicht. Tag und
Nacht halten sich etwa 50 Lokführer im Depot auf. Wir sind sehr entschlossen.
Den Vorstand haben wir erst freigelassen, als uns zugesichert wurde, daß ein
Vermittler benannt wird. Sonntag wurde den ganzen Tag über verhandelt. Aber
was uns angeboten wird, ist noch zuwenig. Wir wissen auch, daß der
SNCF-Vorsitzende Galois die wirklichen Entscheidungen trifft.
Wenn der Streik eine bestimmte Schwelle erreicht hat, gibt es kein Halten mehr. Dann
spielen auch die finanziellen Verluste keine Rolle mehr. Am Anfang rechnen die Leute
noch; jetzt haben wir 3500 Francs Lohnverluste erreicht. Allmählich macht ein
Tag Streik mehr oder weniger nichts mehr aus. Da zählt nur noch eins: wir
lassen uns nicht beugen.