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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 4

Bahnprivatisierung

Unerträglicher Personalabbau

von Luc Dardennes

Luc Dardennes ist aktives Mitglied der Gewerkschaft CGT und Lokführer in Marseille.

Alles hat angefangen mit dem Personalmangel. Personal, das heißt Haushalt. Wir haben mal ausgerechnet, wieviel Leute wir mehr bräuchten, um unter denselben Bedingungen wie vor zwei Jahren arbeiten zu können. Wir sind auf 30 Lokführer gekommen. Das bedeutet: Wir müssen die Sechs-Tage-Woche ablehnen und die Fünf-Tage-Woche fordern; wir brauchen eine Verdopplung der Ruhepausen; die Pausen müssen eingehalten werden.
  Die Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert, weil wir von der Gewerkschaft nicht genug aufgepaßt haben, daß sie vor Ort, wo sie häufig besser sind als die Verträge der SNCF allgemein vorsehen, rigoros eingehalten werden.
  Auf den Streikversammlungen erzählen die Leute, was sie im Alltag belastet: sie sammeln Urlaubstage, die sie nicht nehmen dürfen, Ruhepausen werden verschoben, Stellen nicht besetzt, dafür werden Teilzeitkräfte eingesetzt, die Fahrpläne verzögern sich. Die Züge sind veraltet; über 9000 Züge sind ausgefallen wegen Mangel an Personal oder Materialfehlern.
  Bei der SNCF haben sich fast 3 Millionen bezahlte Überstunden angesammelt – das entspricht 1700 Arbeitsplätzen; 1998 wurden nochmal ca. 1000 Stellen abgebaut, obwohl der Verkehr zunimmt.
  Der Personalmangel ist so kritisch, daß die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann. In Bordeaux z.B. hat es seit Beginn des Jahres 18 tätliche Angriffe gegeben. Die Kontrolleure sind oft allein in den Zügen. Wir fordern mindestens zwei. Auf einem TGV zwischen Bordeaux und Paris, in dem 500 Personen sitzen, kann ein einzelner Kontrolleur nicht gleichzeitig auf die Sicherheit der Reisenden achten, Informationen geben und die Fahrkarten kontrollieren.
  Auf den Bahnsteigen gibt es kaum noch Personal, an das Reisende sich wenden können, die Gebäude verfallen, die Öffnungszeiten der Bahnhöfe werden immer kürzer, die Zahl der eingesetzten Züge immer geringer. Der Vorstand der SNCF und die öffentliche Hand haben es im wesentlichen zu verantworten, daß ein Klima der Verunsicherung entstanden ist, das besonders Bahnbenutzer und Bahnpersonal belastet. Die Gewerkschaften schätzen, daß 5000 Neueinstellungen nötig wären.
  Dazu kommt, daß in den Jahren 2000 und 2001 viele Zugführer in Rente gehen werden; die müssen schon im nächsten Jahr eingearbeitet werden.
  Wir haben dem Bahnvorstand einen Katalog mit 30 Forderungen vorgelegt; der Streik ging dann sofort los, am 10.November um 4 Uhr morgens. Er wurde nicht so massiv befolgt wie die Woche davor bei den Kontrolleuren, nur 50 Prozent waren beteiligt.
  Der Vorstand hat sich nicht gerührt. Da haben wir den Bahnhof blockiert und die Abfahrt der Züge. Wir sind auch zur Bezirksdirektion gegangen; die hat sich auch nicht bewegt. Daraufhin haben die Streikenden gesagt: "Wenn ihr eure Meinung nicht ändern wollt, werden wir dafür sorgen, daß ihr in eurem Büro darüber nachdenken könnt, bis ihr bessere Antworten gebt." In der Presse hieß es dann, das sei Freiheitsberaubung. Es dauerte zwei Stunden, von morgens bis mittags.
  Der Streik weitet sich aus, wir haben jetzt 75 Prozent Teilnahme erreicht. Tag und Nacht halten sich etwa 50 Lokführer im Depot auf. Wir sind sehr entschlossen. Den Vorstand haben wir erst freigelassen, als uns zugesichert wurde, daß ein Vermittler benannt wird. Sonntag wurde den ganzen Tag über verhandelt. Aber was uns angeboten wird, ist noch zuwenig. Wir wissen auch, daß der
  SNCF-Vorsitzende Galois die wirklichen Entscheidungen trifft.
  Wenn der Streik eine bestimmte Schwelle erreicht hat, gibt es kein Halten mehr. Dann spielen auch die finanziellen Verluste keine Rolle mehr. Am Anfang rechnen die Leute noch; jetzt haben wir 3500 Francs Lohnverluste erreicht. Allmählich macht ein Tag Streik mehr oder weniger nichts mehr aus. Da zählt nur noch eins: wir lassen uns nicht beugen.


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