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Seit der Ankunft des Vorsitzenden der Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in Rom ist die Frage einer politischen
Lösung des Krieges in Kurdistan auf der europäischen Tagesordnung.
Nach einigen Wochen des Tauziehens zwischen der Türkei, Italien, Deutschland
und den USA hat zumindest die Bundesregierung mit ihrem Verzicht auf die
Auslieferung Öcalans ein Zeichen gesetzt, das Anerkennung verdient. Daß
in der öffentlichen Diskussion der Verzicht als Inkonsequenz kritisiert wurde, hat
sie sich jedoch selbst zuzuschreiben.
Zu sehr hatten ihre Repräsentanten sogenannte
"Sicherheitsbedenken" ins Zentrum der Begründung gestellt und
damit dem alten Kriminalisierungsklischee von den gewalttätigen KurdInnen
neue Nahrung verschafft.
Bis ins Unerträgliche steigerte sich die Rhetorik der Kriminalisierung in den
Kommentaren der Süddeutschen Zeitung und der Taz. Dort verhöhnen die
Autoren Joffe und Pickert, die Öcalan wahlweise mit Diktatoren, Tyrannen oder
Kriegsverbrechern wie Pinochet oder Karadzic gleichsetzen, nicht nur die Opfer in
Chile, in Bosnien, in Kurdistan und in der Türkei, sie gießen auch
Öl ins Feuer der Kriegstreiber in Ankara.
Ob wohlgesonnen oder feindselig, die internationale Diskussion kreist vorwiegend um
die Dämonisierung oder Entzauberung der Person Öcalan. Nur schwer
können sich Stimmen, die den sogenannten Fall Öcalan als Fall Kurdistan
thematisieren möchten Gehör verschaffen. Die Chance, die die
Entscheidung für die Initialisierung einer politischen Lösung bietet, tritt
dabei fast völlig in den Hintergrund.
Unterdessen hat die türkische Regierung im Einklang mit den staatstragenden
Medien die Jagd auf die BefürworterInnen eines Friedensprozesses
eröffnet. Ununterbrochen kombiniert die Fernsehpropaganda die Bilder
weinender schreiender Angehöriger auf Begräbnissen von Soldaten, mit
den Hinweisen auf die hohe Anzahl von zivilen UnterstützerInnen der
PKK.
So werden z.B. die Vizevorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin und
Osman Baydemir, systematisch als verlängerter Arm der PKK denunziert, und
laufen ständig Gefahr, ebenfalls Opfer von Übergriffen und
Anschlägen zu werden, ähnlich wie ihr Vorsitzender Akin Birdal, der im
Mai schwer verletzt nur um Haaresbreite ein Attentat überlebte.
Seit sich abzeichnet, daß Öcalan nicht an die Türkei ausgeliefert
wird, erfassen Ausschreitungen das gesamte Land. Gruppen von über tausend
Zivilfaschisten ziehen vor kurdischen Einrichtungen auf, dringen dort ein,
verprügeln die Anwesenden, zerstören die Einrichtungen und lassen die
Büros zuweilen in Flammen aufgehen.
"Wie auf ein Zeichen stürzten sich Unmengen von Leuten auf die kleine
Gruppe und begannen alle, die sie in die Hände bekamen, brutal zu
verprügeln. Viele wurden blutig geschlagen und lagen verletzt auf der
Straße – erst dann kam auf einmal Polizei. Doch statt die Angreifer
festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden fest und führten sie zu
Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten schon in den Händen der Polizei
befanden, wurde die Menge nicht daran gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den
Polizeifahrzeugen schlug auch die Polizei auf die Festgenommenen ein … In
sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes begannen Personalkontrollen.
Ich konnte beobachten, daß sie Menschen unter Schlägen abführten,
die nichts mit der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis ein
kurdischer ist. Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen … Sie
führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen von außen an die
Gitter des Passageneinganges. So übe! rließen sie sie der weiter tobenden
Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen wie ‚Die Türkei ist
groß, es lebe Atatürk‘, zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und
baten die Polizei, sie zu den Polizeibussen zu bringen", heißt es in einem
Augenzeugenbericht.
Während in den Straßen der größeren Städte
Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe italienische Fahnen und Waren
in Flammen aufgehen lassen, italienische Einrichtungen belagern und zerstören,
so daß Angestellte der Botschaft das Gebäude nur noch durch den
Hintereingang verlassen können, werden italienische Geschäfte
geschlossen, italienischer Sprachunterricht vom Stundenplan gestrichen und der
Fernsehsender RAI an der Ausstrahlung gehindert. Die Pogrome werden im Fernsehen
wiederum als "Demonstrationen der nationalen Einheit"
gepriesen.
Gleichzeitig brechen die Verhaftungswellen sämtliche Rekorde seit dem
Militärputsch von 1980. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins war Ende
November die Zahl der festgenommenen Mitglieder der noch immer legalen
Demokratischen Partei des Volkes (HADEP), bereits auf 3064 Personen
angewachsen.
Fast alle HADEP-Büros, ebenso wie die Redaktion der prokurdischen
Tageszeitung Ülkede Gündem, sind heute zerstört oder geschlossen.
Zwei der Inhaftierten, Hamit Cakir und Metin Yurtsever, wurden im Zuge ihrer
Verhaftung von der Polizei totgeschlagen.
Haftbefehl erlassen wurde auch gegen den Vorsitzenden der Partei, Murat Bozlak, der
bereits einen großen Teil dieses Jahres hinter Gittern verbracht hat. Gegen ihn
sind Verfahren anhängig, die ihn bis zu 22 Jahren hinter Gitter bringen
können.
Bozlaks erneute Inhaftierung geht auf einen Aufruf unter dem Titel "Unser Ziel
muß Frieden sein!" zurück, mit dem er Mitte November
öffentlich erklärt hatte:
"Das kurdische Problem ist ein Problem aller, die in der Türkei leben. Es
ist das Problem von uns allen. Eine friedliche und demokratische Lösung dieses
Problems ist eine Notwendigkeit. Wir müssen Anstrengungen unternehmen,
jegliches weitere Leiden zu verhindern, und jene Bedingungen schaffen, die nötig
sind, daß 62 Millionen Menschen gleichberechtigt und frei zusammenleben
können.
Ganz Kurdistan, insbesondere die Provinz Dersim wird von türkischen
Jagdflugzeugen systematisch bombardiert. Allein dort sind mittlerweile mehr Soldaten
stationiert, als der Provinz EinwohnerInnen verblieben sind. Jeden Tag mehren sich die
Meldungen über Tote und Verletzte. Doch die Öffentlichkeit
beschäftigt der sogenannte "Fall Öcalan", als handle es sich
lediglich um einen Gerichtsthriller.
In dieser Situation haben die Außenminister Italiens und der BRD den Auftrag
erhalten, für die EU eine Problemlösung herbeizuführen. Sollte es
nicht gelingen, sie dazu zu bringen, die Kriegssituation, die
Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen der türkischen Machthaber als
das eigentliche Problem wahrzunehmen und dieses einer demokratischen
Verhandlungslösung zuzuführen, wird der "Fall
Öcalan" nichts weiter als eine erneute Bankrotterklärung Europas in
Menschenrechtsfragen charakterisieren.
Knut Rauchfuss