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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 7

Sklaverei und Menschenrechte

Vor 150 Jahren wurde in den französischen Kolonien die Sklaverei abgeschafft; vor 50 Jahren verabschiedeten die Vereinten Nationen unter dem Eindruck von Faschismus und Zweitem Weltkrieg eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Trotzdem gibt es – so belegen es internationale Menschenrechtsorganisationen – heute soviele Menschenrechtsverletzungen wie nie zuvor auf der Welt.

Daß die Verkündung hehrer Ideale und die schnöde Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft auseinanderfallen, kann nicht wundern, wenn man nur zur Kenntnis nimmt, daß die Grundlage dieser Gesellschaft das egoistische Individuum, nicht der gesellschaftliche Mensch ist. "Die droits de l’homme", schreibt Marx , "die Menschenrechte werden als solche unterschieden von den droits du citoyen, von den Staatsbürgerrechten." Warum? Weil "die sogenannten Menschenrechte ... nichts anderes sind als die Rechte des... egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen ... Keines der sogenannten Menschenrechte geht über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privateigentum und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist."
  Marx buchstabiert die jakobinische Verfassung von 1793 durch, die am radikalsten die Menschenrechte formuliert hat:
  "Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet ... Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen ... Es ist das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums ... Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkürlich, ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes."
  Bei der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung von 1948 gab es eine heftige Debatte darüber, daß es nicht nur politische, sondern auch soziale Menschenrechte gibt. Diese wurden auch eingefügt; an dem von Marx beschriebenen Tatbestand, daß die Deklaration die Rechte des egoistischen und vereinzelten Menschen beschreibt, deren permanente Verletzung aber gerade durch die allgemeine Konkurrenz aller gegen alle verursacht wird, hat sich dadurch nichts geändert.
  Zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen gehören jene, die die menschliche Arbeit betreffen, d.h. die Möglichkeiten, die menschliche Existenz zu fristen. Nach Marx basiert das kapitalistische Produktionssystem auf der Einführung der Lohnarbeit, die er als "freie Arbeit" charakterisiert im Gegensatz bspw. zur Sklaverei oder Leibeigenschaft. "Frei" ist die Lohnarbeit im doppelten Sinn: sie ist frei (gemacht worden) von den Produktionsmitteln (in aller Regel der Boden), sie ist aber auch frei im Verkauf der eigenen Arbeitskraft auf dem (Arbeits-)Markt an den Besitzer von Produktionsmitteln. Der Lohnarbeiter unterliegt dem ökonomischen Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, aber er ist ihr Besitzer, er kann sie nach Möglichkeit ausbilden, mehr oder weniger teuer verkaufen usw. Alle Formen der unfreien Arbeit hingegen zeichnen sich dadurch aus, daß der oder die Arbeitende auch einem direkten persönlichen oder politischen Zwang unterliegt. Bezogen auf die extremste Form der unfreien Arbeit, die Sklaverei, läßt es sich so formulieren: Während der Lohnarbeiter seine Arbeitskraft verkauft, wird der Sklave selbst verkauft. Er ist selber Ware, nicht seine Arbeitskraft, denn über die kann er nicht verfügen.
  Zwischen Lohnarbeit und Sklaverei liegt eine ganze Palette von Arbeitsformen, die im Sinne der freien Verfügung über die eigene Arbeitskraft unfrei sind. Genausowenig wie der Kapitalismus mit der fortschreitenden Einführung und Verbreitung demokratischer Rechte einhergeht – im Gegenteil, zur Verteidigung seiner Herrschaft vor den barbarischsten Mitteln der Gewaltausübung und Vernichtung nicht zurückgeschreckt ist – ebensowenig hat er, trotz der weltweiten Ausbreitung der Lohnarbeit, die unfreie Arbeit ausgerottet.
  Im Gegenteil: der Siegeszug des Kapitalismus war von der ersten Stunde an geprägt durch den Einsatz von Sklavenarbeit, Zwangsarbeit und unfreier Arbeit aller Art dort, wo es ihm möglich und geboten schien. Die Sklaverei auf den Plantagen Westindiens oder den Baumwollfeldern der amerikanischen Südstaaten war kein Relikt der alten Gesellschaft, sie wurde von den Spaniern, Franzosen und Briten dort eingeführt. Die Sklaverei hat auch nicht ein Ende gefunden, weil sie vor 150 Jahren (in den USA später) per Gesetz aufgehoben wurde. Sie dauert bis heute an. Schließlich ist sie auch kein Markenzeichen von "Kolonialländern" oder eines vergangenen Jahrhunderts: die Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen mit dem Ziel ihrer Vernichtung – mitten im Herzen Europas – ist eine Erfindung des 20.Jahrhunderts.
  Daß Sklaverei nichts mit angeblicher wirtschaftlicher Rückständigkeit zu tun hat, darüber berichtete kürzlich die Frankfurter Rundschau. Im wirtschaftlich mächtigsten Land der Welt wird sie betrieben wie in den zwei Jahrhunderten nach der Eroberung Lateinamerikas: als Sklavenhandel. "In den USA ist ein Menschenhändlerring aufgeflogen, der systematisch und mit bislang nicht bekannter Brutalität vor allem Inder zur Sklavenarbeit nach Amerika geschmuggelt hat. Pro Kopf wurden von den Auftraggebern Prämien bis zu mehr als 20000 US-Dollar gezahlt." (Frankfurter Rundschau, 23.11.)
  Die Frankfurter Rundschau schildert "das Hauptgeschäft" der Sklavenhändler so: "Agenten suchen in den USA nach Kunden, die an billigen Arbeitskräften interessiert und bereit waren, dafür eine fünfstellige Summe zu investieren. Die Organisation besorgte die gewünschten Arbeitskräfte, meist kräftige und junge Männer, unter den Ausreisewilligen in Indien und manchmal auch in Pakistan und in Syrien. In den USA wurden die Männer solange in faktischer Sklaverei gehalten, bis sie die Investition ihrer ‚Arbeitgeber‘ abgearbeitet hatten."
  Man mag, streng wissenschaftlich gesehen, wegen des Moments der "Freiwilligkeit", das in diesem Vorgang enthalten ist, ein solches Verhältnis nicht als Sklaverei bezeichnen wollen, doch ist umgekehrt festzustellen, daß das Ausmaß an unfreier Arbeit weitaus größer ist, als gemeinhin wahrgenommen, weil sie sich häufig hinter formaler Entlohnung versteckt. Und sie nimmt zu: erzwungene Kinderarbeit, Zwangsarbeit, "Ehen", in denen Frauen als Haussklavinnen gehalten werden, Zwangsprostitution, auch ein Teil des Sextourismus gehört dazu, Frauen- und Kinderhandel, der Organhandel, in dem nicht der ganze Mensch, "nur" einzelne Körperteile verkauft werden. All diese Verhältnisse basieren auf der Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen.
  Diese Einschränkung (durch persönliche oder organisierte, staatliche oder nichtstaatliche Gewalt) wird möglich, weil Menschen entwurzelt werden, aus ihrer angestammten Umgebung gerissen werden: durch Vertreibung vom Boden, aus ihren Dörfern und Städten, durch Flucht vor Hunger oder politischer Verfolgung, vor allem und in wachsendem Maß durch die Schuldknechtschaft. Denn die seit Beginn der 80er Jahre weltweit astronomisch angestiegene Verschuldung betrifft nicht nur Staaten und Unternehmen, sondern auch Haushalte und Privatpersonen.
  Auch die "Gastarbeiter" in Deutschland stecken in unfreien Arbeitsverhältnissen; umso mehr gilt dies für die MigrantInnen und Flüchtlinge, die nach den neuen Ausländergesetzen kaum eine andere Chance als die der illegalisierten Arbeit haben.
  Der angebliche "Triumph des Kapitalismus", der den "Triumph der Freiheit" gebracht haben soll, geht sichtbar einher mit der Zunahme von Zwang und der Wiedereinführung der direktesten, unverhülltesten und ärgsten Formen menschlicher Unterdrückung. Die Ausbreitung der unfreien Arbeit ist eine unmittelbare Kehrseite der Deregulierung der Märkte und der unbegrenzen Kapitalfreiheit.
  Die Menschenrechte werden nicht zu retten sein, wenn man sie nur als Individualrechte verteidigt.
  Angela Klein
 


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