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Daß die Verkündung hehrer Ideale und die
schnöde Wirklichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft auseinanderfallen,
kann nicht wundern, wenn man nur zur Kenntnis nimmt, daß die Grundlage
dieser Gesellschaft das egoistische Individuum, nicht der gesellschaftliche Mensch ist.
"Die droits de l’homme", schreibt Marx , "die Menschenrechte
werden als solche unterschieden von den droits du citoyen, von den
Staatsbürgerrechten." Warum? Weil "die sogenannten
Menschenrechte ... nichts anderes sind als die Rechte des... egoistischen Menschen, des
vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen ... Keines der sogenannten
Menschenrechte geht über den egoistischen Menschen hinaus, über den
Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf
sich, auf sein Privateigentum und seine Privatwillkür zurückgezogenes
und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist."
Marx buchstabiert die jakobinische Verfassung von 1793 durch, die am radikalsten die
Menschenrechte formuliert hat:
"Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern
schadet ... Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des
Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen
von dem Menschen ... Es ist das Recht des beschränkten, auf sich
beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts
der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums ... Das Menschenrecht des
Privateigentums ist also das Recht, willkürlich, ohne Beziehung auf andere
Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu
genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des
Eigennutzes."
Bei der Verabschiedung der Menschenrechtserklärung von 1948 gab es eine
heftige Debatte darüber, daß es nicht nur politische, sondern auch soziale
Menschenrechte gibt. Diese wurden auch eingefügt; an dem von Marx
beschriebenen Tatbestand, daß die Deklaration die Rechte des egoistischen und
vereinzelten Menschen beschreibt, deren permanente Verletzung aber gerade durch die
allgemeine Konkurrenz aller gegen alle verursacht wird, hat sich dadurch nichts
geändert.
Zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen gehören jene, die die
menschliche Arbeit betreffen, d.h. die Möglichkeiten, die menschliche Existenz
zu fristen. Nach Marx basiert das kapitalistische Produktionssystem auf der
Einführung der Lohnarbeit, die er als "freie Arbeit" charakterisiert
im Gegensatz bspw. zur Sklaverei oder Leibeigenschaft. "Frei" ist die
Lohnarbeit im doppelten Sinn: sie ist frei (gemacht worden) von den
Produktionsmitteln (in aller Regel der Boden), sie ist aber auch frei im Verkauf der
eigenen Arbeitskraft auf dem (Arbeits-)Markt an den Besitzer von Produktionsmitteln.
Der Lohnarbeiter unterliegt dem ökonomischen Zwang, seine Arbeitskraft zu
verkaufen, aber er ist ihr Besitzer, er kann sie nach Möglichkeit ausbilden, mehr
oder weniger teuer verkaufen usw. Alle Formen der unfreien Arbeit hingegen zeichnen
sich dadurch aus, daß der oder die Arbeitende auch einem direkten
persönlichen oder politischen Zwang unterliegt. Bezogen auf die extremste Form
der unfreien Arbeit, die Sklaverei, läßt es sich so formulieren:
Während der Lohnarbeiter seine Arbeitskraft verkauft, wird der Sklave selbst
verkauft. Er ist selber Ware, nicht seine Arbeitskraft, denn über die kann er nicht
verfügen.
Zwischen Lohnarbeit und Sklaverei liegt eine ganze Palette von Arbeitsformen, die im
Sinne der freien Verfügung über die eigene Arbeitskraft unfrei sind.
Genausowenig wie der Kapitalismus mit der fortschreitenden Einführung und
Verbreitung demokratischer Rechte einhergeht – im Gegenteil, zur Verteidigung seiner
Herrschaft vor den barbarischsten Mitteln der Gewaltausübung und Vernichtung
nicht zurückgeschreckt ist – ebensowenig hat er, trotz der weltweiten
Ausbreitung der Lohnarbeit, die unfreie Arbeit ausgerottet.
Im Gegenteil: der Siegeszug des Kapitalismus war von der ersten Stunde an
geprägt durch den Einsatz von Sklavenarbeit, Zwangsarbeit und unfreier Arbeit
aller Art dort, wo es ihm möglich und geboten schien. Die Sklaverei auf den
Plantagen Westindiens oder den Baumwollfeldern der amerikanischen
Südstaaten war kein Relikt der alten Gesellschaft, sie wurde von den Spaniern,
Franzosen und Briten dort eingeführt. Die Sklaverei hat auch nicht ein Ende
gefunden, weil sie vor 150 Jahren (in den USA später) per Gesetz aufgehoben
wurde. Sie dauert bis heute an. Schließlich ist sie auch kein Markenzeichen von
"Kolonialländern" oder eines vergangenen Jahrhunderts: die
Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen mit dem Ziel ihrer Vernichtung – mitten im
Herzen Europas – ist eine Erfindung des 20.Jahrhunderts.
Daß Sklaverei nichts mit angeblicher wirtschaftlicher
Rückständigkeit zu tun hat, darüber berichtete kürzlich die
Frankfurter Rundschau. Im wirtschaftlich mächtigsten Land der Welt wird sie
betrieben wie in den zwei Jahrhunderten nach der Eroberung Lateinamerikas: als
Sklavenhandel. "In den USA ist ein Menschenhändlerring aufgeflogen, der
systematisch und mit bislang nicht bekannter Brutalität vor allem Inder zur
Sklavenarbeit nach Amerika geschmuggelt hat. Pro Kopf wurden von den
Auftraggebern Prämien bis zu mehr als 20000 US-Dollar gezahlt."
(Frankfurter Rundschau, 23.11.)
Die Frankfurter Rundschau schildert "das Hauptgeschäft" der
Sklavenhändler so: "Agenten suchen in den USA nach Kunden, die an
billigen Arbeitskräften interessiert und bereit waren, dafür eine
fünfstellige Summe zu investieren. Die Organisation besorgte die
gewünschten Arbeitskräfte, meist kräftige und junge Männer,
unter den Ausreisewilligen in Indien und manchmal auch in Pakistan und in Syrien. In
den USA wurden die Männer solange in faktischer Sklaverei gehalten, bis sie die
Investition ihrer ‚Arbeitgeber‘ abgearbeitet hatten."
Man mag, streng wissenschaftlich gesehen, wegen des Moments der
"Freiwilligkeit", das in diesem Vorgang enthalten ist, ein solches
Verhältnis nicht als Sklaverei bezeichnen wollen, doch ist umgekehrt
festzustellen, daß das Ausmaß an unfreier Arbeit weitaus
größer ist, als gemeinhin wahrgenommen, weil sie sich häufig hinter
formaler Entlohnung versteckt. Und sie nimmt zu: erzwungene Kinderarbeit,
Zwangsarbeit, "Ehen", in denen Frauen als Haussklavinnen gehalten
werden, Zwangsprostitution, auch ein Teil des Sextourismus gehört dazu,
Frauen- und Kinderhandel, der Organhandel, in dem nicht der ganze Mensch,
"nur" einzelne Körperteile verkauft werden. All diese
Verhältnisse basieren auf der Einschränkung der Freiheit des Einzelnen,
seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen.
Diese Einschränkung (durch persönliche oder organisierte, staatliche oder
nichtstaatliche Gewalt) wird möglich, weil Menschen entwurzelt werden, aus
ihrer angestammten Umgebung gerissen werden: durch Vertreibung vom Boden, aus
ihren Dörfern und Städten, durch Flucht vor Hunger oder politischer
Verfolgung, vor allem und in wachsendem Maß durch die Schuldknechtschaft.
Denn die seit Beginn der 80er Jahre weltweit astronomisch angestiegene Verschuldung
betrifft nicht nur Staaten und Unternehmen, sondern auch Haushalte und
Privatpersonen.
Auch die "Gastarbeiter" in Deutschland stecken in unfreien
Arbeitsverhältnissen; umso mehr gilt dies für die MigrantInnen und
Flüchtlinge, die nach den neuen Ausländergesetzen kaum eine andere
Chance als die der illegalisierten Arbeit haben.
Der angebliche "Triumph des Kapitalismus", der den "Triumph der
Freiheit" gebracht haben soll, geht sichtbar einher mit der Zunahme von Zwang
und der Wiedereinführung der direktesten, unverhülltesten und
ärgsten Formen menschlicher Unterdrückung. Die Ausbreitung der
unfreien Arbeit ist eine unmittelbare Kehrseite der Deregulierung der Märkte
und der unbegrenzen Kapitalfreiheit.
Die Menschenrechte werden nicht zu retten sein, wenn man sie nur als Individualrechte
verteidigt.
Angela Klein