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Marxistische Ökonomen sind dafür
berühmt, daß sie von der letzten internationalen Wirtschaftskrise sieben
genau vorhergesagt haben. Vielleicht war dies der Grund, weshalb viele von ihnen in
letzter Zeit ungewöhnlich vorsichtig geworden sind und nicht schon wieder
"den Teufel an dieWand malen" wollten - obwohl die Anzeichen für
eine weltweite wirtschaftliche Erschütterung um sie herum zunehmen. Heute
braucht es keine Vorhersagen mehr: die internationale Ökonomie - mit
Ausnahme der USA und Europas betrifft dies 50 Prozent der Weltwirtschaft - steckt
bereits tief im Niedergang, schlimmer als alles, was es seit den 30er Jahren gegeben
hat.
In den Monaten zwischen Juli 1997 und Juli 1998 sind die Aktienkurse
außerhalb der USA und Europas fast überall um 50-75% gefallen; die
Werte der sog. aufstrebenden Märkte fielen allein im August und September
dieses Jahres um weitere 33%. In Indonesien ist die Hungersnot zu einer
Alltagserscheinung geworden; in Rußland ist die Lebenserwartung um fünf
Jahre zurückgegangen und der Lebensstandard um 50% und mehr gefallen; in
Ostasien verlieren Millionen Menschen ihre Arbeit und geraten in Armut.
In Lateinamerika, das gerade anhub, sich von den Verheerungen des "verlorenen
Jahrzehnts" der 80er Jahre zu erholen, beginnen sich jetzt dieselben Anzeichen zu
zeigen, mit zunehmender Intensität.
Verschärfend kommt hinzu, daß die US-Wirtschaft, die der
hauptsächliche Motor des letzten internationalen konjunkturellen Aufschwungs
war, in ernsthaften Schwierigkeiten ist.
Noch im Juni 1998 setzte Alan Greenspan, der Chef der US-Notenbank Federal
Reserve, selbst Wirtschaftsjournalisten in Erstaunen, als er in einer Erklärung
vor dem Kongress andeutete, "es ist möglich, daß wir ... ,über
die Geschichte hinausgegangen‘ sind", d.h. die Wirtschaftszyklen hinter uns
gelassen und immerwährendes Wachstum erreicht haben. Schon Mitte Oktober
hatte derselbe Alan Greenspan den Zinssatz zweimal gesenkt, um dem steigenden
Druck der internationalen Deflation zu begegnen.
Unterdessen überraschte die Notenbank Wall Street mit der Koordination einer
Auffangaktion für einen Milliarden-Dollar-Hedge Fund. Greenspan
erklärte die Aktion damit, der Zusammenbruch des Fonds hätte
höchst wahrscheinlich einen Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte
ausgelöst. Die US-Wirtschaft ist derzeit auf dem Weg in die Rezession, und
wenn sich diese nicht aufhalten läßt, wird es eine Katastrophe für die
Weltwirtschaft.
Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Wie kommt es zu den zunehmenden
Erschütterungen der Weltwirtschaft? Bis vor kurzem hatten weder die
tonangebenden Ökonomen in den USA noch die Journalisten der
Wirtschaftspresse noch die Massenmedien eine Antwort auf diese Frage. Sie wollten
schlicht nicht anerkennen, daß die US-Wirtschaft in ernste Schwierigkeiten
geraten war. Und dies obwohl der Zustand der US-Wirtschaft - ganz im Gegensatz zur
Medienpropaganda - über einen langen Zeitraum wirklich schlecht gewesen ist.
Im letzten Vierteljahrhundert hat das durchschnittliche jährliche Wachstum der
Arbeitsproduktivität in den USA (das Bruttosozialprodukt je Stunde) bei
weniger als 1% pro Jahr gelegen - das ist gut weniger als die Hälfte des
Durchschnitts des vergleichbaren Zeitraums im vergangenen Jahrhundert.
Zwischen 1973 und 1998 ist der Anstieg der Reallöhne niedriger gewesen als zu
jedem anderen Zeitpunkt der US-Geschichte seit dem Bürgerkrieg, die
Große Depression miteingeschlossen. 1997 lag der reale Stundenlohn für
Produktionsarbeiter (ausschließlich des Soziallohns) auf Niveau von
1965.
Das Überraschendste ist vielleicht: Während des konjunkturellen
Aufschwungs der 90er Jahre - als die US-Wirtschaft vermeintlich in eine "Neue
Ära" trat und über jeden Zweifel erhaben die Überlegenheit
des "angelsächsischen Modells" über alle anderen
demonstrierte - waren die Leistungen der US-Wirtschaft, gemessen an fast jedem
makroökonomischen Standardindikator: Wachstum der Produktion, der
Investitionen, der Produktivität, der Löhne, schlechter als in jeder anderen
konjunkturellen Aufschwungphase der Nachkriegszeit.
Ökonomen, die Fachpresse und die Medien konnten ihren Blick vom
tatsächlichen schlechten Zustand der US-Wirtschaft jedoch abwenden, weil die
Inflation auf das Niveau gesenkt worden war, das den Erfordernissen des Finanzsektors
entgegenkam und weil die Profitrate sich nach einer langen Periode des Niedergangs
wieder spürbar erholte; vor allem aber weil die Aktienmärkte alle Rekorde
brachen.
Bruch im Konsens
Im Verlauf der letzten Monate hat es in der Beurteilung der Wirtschaftslage in den
USA jedoch einen erheblichen Bruch gegeben. Während die Asienkrise den
Zusammenbruch der russischen Wirtschaft beschleunigte und drohte, die
Weltwirtschaft mit in den Strudel zu ziehen, suchten führende Ökonomen
im wirtschaftlichen und politischen Establishment der USA - darunter auch solche wie
Jeffrey Sachs, der mit am schärfsten für die "Schocktherapie"
und eine grenzenlose Liberalisierung eingetreten war - nach Deckung.
Erstaunlicherweise machen diese Ökonomen den sog. Komplex von US-
Finanzministerium, Wall Street und Internationalem Währungsfonds (IWF)
für diesen Brand verantwortlich, der außer Kontrolle zu geraten droht.
Dafür führen sie zwei miteinander zusammenhängende Argumente
an. Erstens die IWF-Intervention in Ostasien, die verheerend konterproduktiv war. Ihrer
Meinung nach wäre angesichts der massiven Kapitalflucht, die die Asienkrise
beschleunigt hat, eine massive Kapitalzufuhr nötig gewesen, um die
Liquiditätskrise zu verhindern, die die asiatischen Ökonomien
zerstört hat.
Dies wäre auf eine ähnliche Aktion hinausgelaufen, wie sie die US-
Notenbank und die Japaner zur Zeit des Börsenkrachs von 1987 praktiziert
haben: massiv billiges Geld in das Krisengebiet hineinzupumpen. Diesmal tat der IWF
jedoch das Gegenteil. Wie Herbert Hoover 1929, der mitten im Börsenkrach
einen ausgeglichenen Haushalt forderte, setzte der IWF gewohnheitsgemäß
hohe Zinssätze und eine restriktive Wirtschaftspolitik durch.
Das Ergebnis war, daß die internationalen Investoren noch stärker in Panik
gerieten, die Kapitalflucht zunahm, und alle Voraussetzungen für eine
Kettenreaktion von Unternehmenszusammenbrüchen, ausbleibenden
Lohnzahlungen, steigender Arbeitslosigkeit, noch mehr Konkursen usw. geschaffen
wurden.
Die besagten Ökonomen argumentieren auch, die Deregulierung kurzfristiger
Kapitalbewegungen sei eine Ursache für die internationale Krise. Geld floß
nach Ostasien, solange die Aussichten gut schienen, aber es wurde blitzartig
zurückgezogen, als sich das Geschäftsklima verschlechterte. Dies
führte in den betroffenen Ökonomien zu einer Depression, die nun droht
auf den Rest der Weltwirtschaft überzugreifen.
Es wird jetzt deutlich, daß auf längere Sicht gesehen die sich entwickelnde
Krise selbst das meiste dazu beitragen wird, die herrschende neoliberale Weltsicht – der
Intellektuellen wie der Bevölkerungen im allgemeinen - zu verändern. Es
ist auch offenkundig, daß die besagten Ökonomen nur die Spitze des
Eisbergs sehen. Dennoch sollte selbst ihre sehr partielle und oberflächliche
Analyse m.E. von der Linken nicht ignoriert werden.
Erstens ist ihre Kritik am freien Markt bei kurzfristigen Anleihen soweit korrekt.
Massive, unregulierte kurzfristige Kapitalströme haben die ostasiatische Krise
radikal verschärft, obgleich sie nicht ihre Ursache waren.
Zweitens lenkt die Kritik dieser Ökonomen an den Kreditkonditionen, die der
IWF in Ostasien durchgesetzt hat, die Aufmerksamkeit auf den unverhüllt
imperialistischen Charakter der IWF-Intervention in dieser Region. Deren Ziel war
nicht allein die Durchsetzung hoher Zinssätze und einer restriktiven
Wirtschaftspolitik. Ihr Ziel war, vor allem in Korea, die Zerstörung eines
Systems wirtschaftlicher Regulierung und Protektion, das einen der
spektakulärsten Wachstumserfolge der Weltgeschichte
ermöglichte.
Aber gerade weil die ostasiatischen Ökonomien selbst nach Maßgabe der
IWF-eigenen Kriterien so erfolgreich waren, hat das sog. Reformprogramm des IWF
diesen - deutlicher vielleicht als je zuvor - als ein Instrument des internationalen
Kapitals ausgewiesen, das gewaltsam neoliberale Marktregeln aufgezwungen hat, um
die ostasiatischen Ökonomien dem Einfluß der multinationalen Konzerne
und Großbanken zu öffnen.
Drittens - das ist vielleicht am wichtigsten - hat die Kritik der besagten
Ökonomen eine große ideologische Bedeutung. Denn implizit, und sicher
auch ohne Absicht, stellt sie in Frage, was zum zentralen Dogma unserer Zeit geworden
ist: daß der freie Markt im allgemeinen das bestmögliche Ergebnis bringt.
Natürlich beschränken die Ökonomen ihre Kritik am freien Markt
auf die Kritik des Markts an kurzfristigen Investitionen. Dennoch, wenn nicht mehr
ohne weiteres und grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, daß der
Markt per se immer das beste Ergebnis hervorbringt, ist der Weg offen für die
Infragestellung der Angemessenheit von Marktmechanismen in Bereichen des
wirtschaftlichen Lebens: auch bei langfristigen Investitionen, auch bei der
Warenproduktion, vor allem auch auf dem Arbeitsmarkt.
Anders ausgedrückt: für die Linke hat sich eine kleine, aber bedeutende
intellektuelle Öffnung aufgetan, ihr zentrales Anliegen zu verteidigen, ein
Anliegen, in das viele im Gefolge des Zusammenbruchs des
"Kommunismus" und des Aufstiegs des Neoliberalismus das Vertrauen
verloren haben. Dieses Anliegen ist die Vorstellung, daß der Sozialismus
für jedwede menschliche Gesellschaftsverfassung unerläßlich ist –
das ist eine demokratische, soziale Kontrolle über die Wirtschaft von unten nach
oben durch die ProduzentInnen selbst.
Kritik der Linken
Die einhellige Antwort der Linken auf die Kritik der besagten Ökonomen ist,
daß diese die internationale Wirtschaftskrise nur sehr partiell und
oberflächlich analysieren, wenn sie sie ausschließlich auf die
Zügellosigkeit und Unverantwortlichkeit kurzfristiger Kapitalanlagen
zurückführen.
Die Ungeregeltheit kurzfristiger Kapitalbewegungen ist natürlich integraler
Bestandteil eines viel breiter angelegten neoliberalen Programms, das seit dem Ende der
70er Jahre an Macht zugenommen hat. Ziel dieses Programms war, die Welt soweit wie
möglich für die Bewegungen von Kapital und Waren zu öffnen und
dabei den hart erstrittenen Schutz der arbeitenden Bevölkerung vor
Marktmechanismen durch den Wohlfahrtsstaat zu zerstören.
Konsens unter Linken ist auch, daß das neoliberale Programm die Verantwortung
für viele Probleme trägt, die heute die Weltwirtschaft plagen, und
daß seine Durchsetzung zu einem guten Teil Ursache der gegenwärtigen
Krise ist. Die linke Argumentation läßt sich wie folgt
zusammenfassen:
Der zentrale Trend, den wir besonders seit dem Ende der 70er Jahre erlebt haben, ist die
zunehmende Dominanz des Finanzkapitals. Das zentrale Anliegen neoliberaler Politik
war, die gewinnträchtigen Anlagebereiche für das Finanzkapital und die
Multis abzusichern, zu schützen und auszudehnen. Die im Interesse des
Finanzkapitals notwendige Politik hat aber die Wirtschaft im allgemeinen und die
Arbeiterklasse im besonderen belastet.
Um die Erträge aus Krediten vor den Folgen der Inflation zu schützen,
haben die kapitalistischen Staaten eine ständige restriktive
makroökonomische Politik durchgesetzt, straffe Kreditkonditionen und
ausgeglichene Staatshaushalte. Aber eben diese Politik war die zentrale Ursache
für das langsame Wachstum und die hohe Arbeitslosigkeit seit dem Ende der
70er Jahre.
Um dem Finanzkapital die höchsten Erträge zu sichern, wurden Barrieren
für die Mobilität des Kapitals abgebaut, so daß es rasch in
Märkte eindringen und von ihnen wieder abgezogen werden konnte. Diese
Kapitalmobilität hat die Durchsetzung einer nationalen, auf
Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik sehr erschwert, vor allem eine Politik des
deficit spending und der großzügigen Kreditgewährung zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Drittens, und das erkennen jetzt auch Leute wie Jeffrey Sachs an: indem es
möglich wurde, daß Kapital rasch irgendwo eindringen kann, wenn die
Aussichten gut sind, sich beim leisesten Anzeichen von Schwierigkeiten aber ebenso
rasch zurückziehen kann, ist es sehr schwer geworden, einen langfristigen
Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang zu setzen, insbesondere in der
Dritten Welt. Wirtschaftliche Entwicklung hängt ab von der langfristigen
Bindung produktiver Ressourcen an bestimmte Produktionslinien; sie hält den
plötzlichen Abzug von Kapital, der in der neoliberalen Ordnung an der
Tagesordnung ist, nicht aus.
Überproduktion und
Überkapazität
Diese Betrachtung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage macht soweit Sinn.
Dennoch scheint mir, kann sie in die Irre führen, wenn sie nicht in einen
größeren Zusammenhang gestellt wird.
Um es rundheraus zu sagen: Der Aufschwung des Finanzkapitals und des
Neoliberalismus ist viel mehr ein Ergebnis der internationalen Wirtschaftskrise als eine
ihrer Ursachen, wenn er auch bedeutend zu ihrer Verschärfung beigetragen hat.
Ihre tieferen Ursachen hat die internationale Wirtschaftskrise vielmehr in der
säkularen (langfristigen) Krise der Profitrate, die ein Ergebnis der weltweiten
Überkapazität und der Überproduktion an Waren ist.
Die Verlagerung bedeutender Mengen an Kapital in den Finanzsektor war eine Folge
der Unfähigkeit, im Produktionsbereich, vor allem im verarbeitenden Gewerbe,
eine angemessene Gewinnrate zu erzielen. Der Anstieg an Überkapazität
und Überproduktion, der von den späten 60er Jahren an zu sinkenden
Profiten in der verarbeitenden Industrie führte, war die Ursache für den
Aufschwung des Finanzkapitals von den späten 70er Jahren an.
Die Wende zum Neoliberalismus, die ebenfalls mit dem Ende der 70er Jahre einsetzte,
begann erst nachdem die keynesianische Politik der Nachfragesteuerung nicht in der
Lage gewesen war, die Profite wiederherzustellen und den Prozeß der
Kapitalakkumulation wiederanzufachen.Vom Standpunkt des Kapitals waren
Monetarismus und Neoliberalismus eine Antwort auf das Scheitern der ersten Option,
die keynesianische Ausgabenpolitik.
Drittens waren die straffen Kreditkonditionen und restriktiven
Haushaltsführungen zwar teilweise vom Wunsch motiviert, die Profite des
Finanzkapitals zu schützen, ihr anfängliches und erstes Ziel war jedoch,
durch Drosselung der Nachfrage die Gewinnaussichten insgesamt zu verbessern, und
zwar auf zweifache Weise: 1. durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die die
Arbeiterklasse schwächte und den Anstieg der Löhne bremste; 2. durch
den Zwang zu einer Wende von Unternehmen mit hohen Kosten und niedrigen Profiten
zu Unternehmen mit niedrigen Kosten und hohen Profiten, mit ansteigender
durchschnittlicher Profitrate.
Dennoch, wenn man den Aufschwung des Finanzkapitals und des Neoliberalismus
auch eher als eine Folge denn als Ursache der langfristigen wirtschaftlichen Stagnation
und Instabilität sehen muß, hat die volle, flächendeckende
Durchsetzung des neoliberalen Programms doch eine fundamentale Rolle beim
Übergang von langfristigen Profitproblemen und einer säkularen
Stagnation zur gegenwärtigen tiefen Krise gespielt. Dieser Übergang kam
erst in den 90er Jahren, als Reagans Politik des Rekorddefizits von Clintons
ausgewogenem Haushalt abgelöst wurde - damit aber der Weg für weit
größere Probleme der Instabilität und des Wachstums frei
wurde.
Die tieferen Wurzeln
der Stagnation
Im folgenden soll ein schematischer Abriß des Aufbaus und der
Verschärfung der weltweiten Überkapazität und
Überproduktion an Gütern der verarbeitenden Industrie gegeben und ihre
Rolle in der gegenwärtigen Krise skizziert werden.
Die Wurzeln der anhaltenden Stagnation wie auch der aktuellen Krise liegen im
Niedergang der Profite in der verarbeitenden Industrie, der seinerseits ein Ergebnis der
steigenden Überproduktion und Überkapazität in diesem Bereich ist
- ein Ausdruck der verschärften internationalen Konkurrenz.
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre konnten später entwickelte, billigere
Produzenten in Deutschland und besonders in Japan ihre Produktion rasch ausweiten.
Sie zwangen ihre niedrigeren Preise den zu höheren Kosten produzierenden
Konkurrenten auf. Damit konnten deutsche und japanische Firmen sowohl ihren Anteil
auf den internationalen Märkten steigern als auch ihre Profitraten halten,
während die Marktanteile und Profitraten ihrer Konkurrenten sanken.
Das Ergebnis war Überkapazität und Überproduktion im
verarbeitenden Gewerbe, was sich in einer reduzierten Gewinnträchtigkeit der
gesamten verarbeitenden Produktion in allen G7-Ländern zusammengenommen
ausdrückte. Die Hauptlast dieses Niedergangs trugen zunächst die zu
hohen Kosten produzierenden Unternehmen in den USA, deren Profite zwischen 1965
und 1973 in der verarbeitenden Industrie um 40%, in der Gesamtwirtschaft um 25–
30% zurückgingen.
Ab 1973 jedoch waren japanische und deutsche Unternehmen gezwungen, ebenfalls
einen Teil der Profitkrise zu tragen. Ihre Kosten stiegen nämlich rasant, weil ihre
Währungen gegenüber dem Dollar stark aufgewertet wurden, zeitgleich
zwischen 1971 und 1973 das internationale Währungssystem in die Krise geriet
und die Ordnung von BrettonWoods zusammenbrach.
Es war der massive Fall der Profitrate in den USA, Deutschland und Japan und in der
gesamten kapitalistischen Welt, von dem sie sich nicht erholen konnte, der
verantwortlich war für die in diesem Jahrhundert einmalig reduzierten Raten der
Kapitalakkumulation in der verarbeitenden Industrie und damit der anhaltenden
wirtschaftlichen Stagnation im letzten Vierteljahrhundert.
Niedrige Raten der Kapitalakkumulation haben zu niedrigen Wachstumsraten der
Produktion und der Produktivität geführt; niedrige
Produktivitätsraten bedeuteten niedriges Wachstum der Löhne. Steigende
Arbeitslosigkeit war die Folge des niedrigen Wachstums von Produktion und
Investition.
Die zentrale Frage, die sich an dieser Stelle jedoch sofort stellt, ist: Was war
verantwortlich für das Anhalten der Überkapazität und der
Überproduktion, die den massiven Rückgang der Profite bedingten?
Anders ausgedrückt: warum haben Unternehmen mit sinkenden Profiten in ihren
Produktionsbereichen nicht in dem Maß in andere Produktionslinien investiert,
daß sie ihre Überkapazitäten abbauen konnten? Auf diese Frage,
scheint mir, gibt es drei Antworten.
Erstens hatten die großen Konzerne in den USA, Deutschland und Japan, die die
Industrieproduktion der Welt dominierten, weitaus bessere Aussichten, ihre Profite zu
verbessern, wenn sie ihre Konkurrenzfähigkeit in den bestehenden Produktlinien
steigerten, als wenn sie in neue investierten.
Sie verfügten über ein großes Anlagekapital, das sie bereits
abgeschrieben hatten; sie hatten von langer Hand errichtete Beziehungen zu Lieferanten
und Kunden, die nicht so leicht in neuen Produktlinien zu ersetzen waren; und sie
hatten sich über einen langen Zeitraum ein spezialisiertes technologisches
Wissen hart erarbeitet, das sie nur in den bestehenden Produktlinien nutzen konnten. In
den 70er Jahren und auch später haben US-Firmen, deutsche und japanische
Firmen im allgemeinen ihre Produktionen nicht aufgegeben, wenn sie nicht dazu
gezwungen wurden, mit dem Ergebnis, daß nur wenig Kapital für neue
Linien freigesetzt und die bestehende Überkapazität nur wenig abgebaut
wurde.
Zweitens fanden es Unternehmen, die zu niedrigen Kosten produzierten, vor allem in
Ostasien, trotz der weltweit reduzierten Gewinnspanne in der verarbeitenden Industrie
profitabler, just in diese Industrien zu investieren, ganz wie ihre japanischen
Vorläufer es getan hatten. Es floß als zuviel Kapital in diese Bereiche, und
die Überkapazität stieg.
Schließlich hat die keynesianische Politik, die sich in den 70er Jahren
überall durchsetzte und in den USA bis in die 90er Jahre anhielt, zur anhaltenden
Überkapazität und Überproduktion beigetragen und somit dazu, die
Gesamtprofitrate niedrig zu halten.
Durch Ankurbelung der Nachfrage, deficit spending und eine Politik der leichten
Kredite konnten viele Firmen, die zu hohen Kosten produzierten und niedrige Gewinne
einfuhren, und die ansonsten bankrott gegangen wären, die Produktion aufrecht
und Positionen besetzt halten, die ansonsten von Unternehmen mit niedrigen Kosten
und hohen Gewinnen besetzt worden wären. Der Keynesianismus hat somit
fraglos den wirtschaftlichen Niedergang abgefedert, ihn aber auch verlängert; er
hat eine Depression vom Typ der 30er Jahre abgewehrt, aber um den Preis, die
Dynamik des Systems zu schwächen und Unternehmen am Leben zu halten, die
niedrige Gewinne machten und kaum investierten.
Von der Stagnation zur Krise
Der schlußendliche Bruch mit dem Keynesianismus, das muß man
hervorheben, fand erst in den 90er Jahren statt. Er hat aber zugleich die
Voraussetzungen für die heutige wirtschaftliche Zerrüttung geschaffen
und den Weg geöffnet von einer anhaltenden Stagnation der internationalen
Wirtschaft zu ihrer tiefen Krise.
Reduzierte Gewinnaussichten, ein Ergebnis der Überkapazität und der
Überproduktion, führte natürlich zu reduzierter
Kapitalakkumulation - daher das sinkende Wachstum der Nachfrage nach
Investitionen von 1973 an. Etwa von derselben Zeit an begannen Unternehmer in
Reaktion auf sinkende Profite, die Steigerung der Löhne massiv zu drosseln,
damit auch die Nachfrage der Konsumenten.
Als der Chef der US-Notenbank, Volcker, und Margaret Thatcher Ende der 70er Jahre
eine Politik der knappen Geldes durchsetzten, waren die realen Zinssätze auf
einem Höhepunkt angelangt, das wirkte sich zusätzlich hemmend auf die
Wirtschaft aus. Ohne die Steigerung der staatlichen Nachfrage durch massives
Aufstocken der Militärausgaben in der Regierungszeit Ronald Reagans ist
zweifelhaft, ob in den 80er Jahren eine wirtschaftliche Depression hätte
verhindert werden können, insbesondere während der internatioalen
Schuldenkrise 1981/82 und danach.
Mit dem Regierungsantritt Bill Clintons jedoch wandten sich die USA einer Politik des
ausgeglichenen Haushalts zu; das war - neben der Politik des knappen Gelds - die
definitive Wende zum Neoliberalismus. Sie kennzeichnete zugleich das Ende der Rolle
der USA als stabilisierender Faktor der Weltwirtschaft durch Steigerung der Nachfrage
mittels wachsender Haushaltsdefizite - eine Rolle, die sie lange gespielt
haben.
Das verlangsamte Wachstum der staatlichen Nachfrage gesellte sich nun zum bereits
verlangsamten Wachstum des Konsums und der Nachfrage nach Investitionen.
Während die Regieurngsausgaben der USA zwischen 1960 und 1990
jährlich um durchschnittlich 2,4% gestiegen waren, stiegen sie in den 90er
Jahren nur noch um durchschnittlich 0,1%.
Da die europäischen Regierungen im Wettlauf um die Wirtschafts- und
Währungsunion eine noch schärfere Ausgabendisziplin durchgesetzt
haben, hat sich das Wachstum der Binnenmärkte in der gesamten
"fortgeschrittenen" kapitalistischen Welt auf ein Schneckentempo
verlangsamt. Um dies zu kompensieren, hatten die Unternehmen übrall keine
andere Wahl als sich radikal auf den Export hin zu orientieren. Da Exporte sich aber
meist auf verarbeitete Güter beziehen, war das Ergebnis wiederum eine
Verschärfung des Jahrhundertproblems der Überkapazität in diesem
Bereich.
Die aktuelle Krise
Es ist die Verschärfung der Überkapazität in der verarbeitenden
Industrie, die den Boden bereitet hat für die Kette von Ereignissen, die die
aktuelle Krise hervorgebracht haben.
Fast die gesamten 90er Jahre hindurch ist die US-Wirtschaft gewachsen und hat dabei
eine starke, wenn auch nicht vollständige Erholung der Profitrate erlebt,
insbesondere in der verarbeitenden Industrie. Darin steht sie unter den führenden
kapitalistischen Wirtschaftsmächten fast einzigartig da.
Aber die Erholung der US-Wirtschaft hat der Weltwirtschaft einen hohen Preis
abverlangt. Das liegt daran, daß sie im wesentlichen durch eine massive
Steigerung der Exporte zustandegekommen ist, die wiederum möglich war, weil
ihre Wettbewerbsfähigkeit drastisch gestiegen ist. Die Gewinne der US-
Produzenten – unter Bedingungen einer nur langsam wachsenden internationalen
Nachfrage und einem Überangebot an Gütern der verarbeitenden Industrie
– wurden deshalb weitgehend auf Kosten der führenden Konkurrenten erzielt;
der Kampf um die Märkte ist weitgehend ein Nullsummenspiel
geworden.
Vor allem verdankt sich die Wiederbelebung der verarbeitenden Industrie in den USA
weitgehend einer Abwertung des Dollar um 40–60% gegenüber der DM und
dem Yen in den letzten zehn Jahren.Während die US-Wirtschaft in der ersten
Hälfte der 90er Jahre somit einen Aufschwung erlebte, hatten die deutschen und
vor allem die japanischen Hersteller aus demselben Grund Exportschwierigkeiten und
erlebten ihre schwerste Krise der Nachrkriegszeit.
1995, als der Yen bei 80:1 gegenüber dem Dollar stand (zehn Jahre zuvor waren
es noch 240:1 gewesen), stand die japanische Wirtschaft kurz vor dem Kollaps. Nur
durch ein Abkommen der Regierungen der USA, Deutschlands und Japans im
Frühjahr 1995, das eine Aufwertung des Dollar und eine scharfe Abwertung des
Yen brachte, konnte die japanische Wirtschaft gerettet werden.
Die Rettung der japanischen Wirtschaft hatte jedoch unvorhergesehene Folgen - vor
allem die Krise in Asien. Dies hängt damit zusammen, daß Gewinne
für Unternehmen aus einer Ökonomie - vor allem wenn sie so groß
und mächtig ist wie die Japans - wieder einmal nur möglich waren durch
Verluste für andere.
Die ostasiatischen Ökonomien haben ihren spektakulären Boom in der
ersten Hälfte der 90er Jahre (im Verbund mit dem der USA und auf Kosten der
japanischen Hersteller) nur deshalb erlebt, weil ihre Währungen an den Dollar
gebunden war und deshalb mit ihm zusammen gegenüber dem Yen fiel. Vor
allem Korea hat mit dem Fall des Dollar und damit auch des koreanischen Won seine
Wettbewerbsfähigkeit ständig verbessert; die Investitionen in Korea
stiegen in einem Maße, als gäbe es keine Grenzen für den
Markt.
Als jedoch der Yen ab 1995 gegen den Won und andere ostasiatische
Währungen zu fallen begann, zeigte sich, daß die koreanische Wirtschaft
und auch die anderen südostasiatischen Ökonomien massiv
überinvestiert hatten. Sie saßen auf einem hohen Berg an
Überkapazitäten, und weil ihre Kosten aufgrund der Aufwertung ihrer
Währungen gestiegen waren, fiel es ihnen zunehmend schwer, gewinnbringend
zu verkaufen.
Als in der ersten Hälfte 1997 internationale Kreditgeber merkten, daß die
Profitrate osiasiatischer Hersteller zurückging und daß das Wachstum
ihrer Exporte zurückblieb im Verhältnis zu steigenden Importen,
begannen sie schnell, ihr Kapital zurückzuziehen. Im Ergebnis verloren die
ostasiatischen Währungen massiv an Wert, eine Entwicklung, die deswegen
besonders katastrophal war, weil die ostasiatischen Hersteller sich bei den
internationalen Kreditgebern stark verschuldet hatten.
Die Politik des IWF machte nun alles noch viel schlimmer. Er setzte eine scharfe
Anhebung der Zinssätze und damit eine plötzliche und drastische
Steigerung der Verschuldung der Unternehmen durch; Bankrotte und
Massenentlassungen waren die Folge, die Schulden konnten nicht bedient werden, die
Spirale nach unten war in Gang gesetzt. Somit wurde aus der ostasiatischen Krise die
ostasiatische Depression.
Der Rest der Geschichte ist leidlich bekannt. 1996 wurde in Ostasien soviel investiert
wie in den viel größeren USA. Als die Region in die Depression geriet,
konnte das Ergebnis deshalb nur folgenschwer sein. Die ostasiatischen Märkte
brachen zusammen, sie konnten auf eine Erholung nur hoffen, wenn es ihnen gelang,
ihre Exporte in andere Regionen zu steigern. Auch Deutschland und Europa haben
ihren Weg aus der Rezession exportiert.
Ziel all dieser Exporte konnte nur die eine Wirtschaft sein, deren Binnenmarkt
gewachsen war, also die US-Wirtschaft. 1997 setzte in den USA endlich ein
beschleunigtes Binnenwachstum ein, selbst die Reallöhne stiegen; aber die
Grundlage dieses Wachstums war ein Wachstum der Exportgüter. Als der Dollar
infolge dieses wirtschaftlichen Erfolgs unvermeidlich anstieg, wurde diese Dynamik
daher auch sofort wieder in Frage gestellt.
Als in der ersten Hälfte von 1998, gestützt auf den hoch bewerteten
Dollar, die Importe in die USA flossen, setzte gleichzeitig aus demselben Grund und in
Anbetracht der schrumpfenden ostasiatischen Märkte das Wachstum der Exporte
aus; die Profite in der verarbeitenden Industrie sanken wieder und der US-Boom war zu
Ende.
Das Ende des Booms der US-Industrie ist das Ergebnis der verschärften
internationalen Konkurrenz unter den Bedingungen von Überkapazitäten
und Überproduktion; es war zugleich die unmittelbare Ursache für die
Drift in die Rezession. Im ersten Halbjahr 1998 sind die Profite in der verarbeitenden
Industrie, nachdem sie mehrere Jahre hindurch erheblich gestiegen sind und den
Wirtschaftsboom genährt haben. Die Folgen sind weitreichend, darunter das
Platzen der Börsenblase.
Steigende Aktien, gestützt durch steigende Gewinne in der Industrieproduktion,
haben zusammen mit schnell wachsenden Exporten, den Aufschwung der US-
Wirtschaft durch steigende konsumtive Ausgaben und durch steigende Investitionen
genährt. Bei derartig hoch bewerteten Aktien meinten die Konsumenten, ihr
Reichtum sei in einem Maße gestiegen, daß sie nicht sparen mußten;
die Sparrate ist in den letzten Jahren massiv gesunken, der Konsum dafür
erheblich gestiegen. Bei derartig hoch bewerteten Aktien konnten Unternehmen viel
leichter Geld machen, indem sie Anteile verkauften; damit nahmen die Investitionen zu.
Aber mit fallenden Aktienkursen hat sich dieser sog. "Wohlstandseffekt"
ins Gegenteil verkehrt.
Die US-Notenbank schätzt, daß sich der Nettoverlust an allen US-
Finanzwerten seit dem Börsenhöchststand im Juli 1998 auf etwa 1,5
Billionen Dollar beläuft. Da die Menschen einen erheblichen Rückgang
ihres Reichtums erleben, sparen sie mehr und geben weniger aus. Da die
Unternehmensaktien fallen, wird Geld teurer und ihre Investitionen gehen
zurück.
Das Platzen der Börsenblase hat zudem zu einem enormen Vertrauensverlust der
Geschäftswelt geführt, Gläubiger zweifeln an der
Zahlungsfähigkeit ihrer Kreditnehmer und fordern ihre Anleihen in panikartiger
Suche nach Liquidität zurück, d.h. sie suchen ein geringeres Risiko und
solideren Geldwert. Eine Kreditklemme droht; für Unternehmen und Private
wird es schwerer, Kredite zu bekommen; neue Produktion und neuer Konsum werden
damit unterminiert.
Es gibt auch nicht viel Hoffnung, daß die Krise des Exports - und der
verarbeitenden Industrie im allgemeinen - also der letztlichen Ursache des
wirtschaftlichen Niedergangs der USA, überwunden werden kann. Im Gegenteil,
in den meisten Regionen der Welt geht die Produktion weiter zurück, die
Märkte schrumpfen, Kredite sind schwerer zu bekommen, lokale Produzenten
hängen für ihr Überleben selber immer mehr von Exporten
ab.
Eine geraume Zeit lang hat die Weltwirtschaft die US-Wirtschaft als ihre Lokomotive
betrachtet. Da der Aufschwung in den USA unter dem Druck der weltweiten Exportflut
gestoppt wird, ist kaum zu erkennen, wo die Kräfte herkommen sollen, die eine
scharfe Rezession aufhalten können.
Robert Brenner