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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 01 vom 05.01.1999, Seite 9

Von der Stagnation in die Depression

Die Weltwirtschaftskrise erfaßt die USA und stellt die neoliberalen Dogmen in Frage

Marxistische Ökonomen sind dafür berühmt, daß sie von der letzten internationalen Wirtschaftskrise sieben genau vorhergesagt haben. Vielleicht war dies der Grund, weshalb viele von ihnen in letzter Zeit ungewöhnlich vorsichtig geworden sind und nicht schon wieder "den Teufel an dieWand malen" wollten - obwohl die Anzeichen für eine weltweite wirtschaftliche Erschütterung um sie herum zunehmen. Heute braucht es keine Vorhersagen mehr: die internationale Ökonomie - mit Ausnahme der USA und Europas betrifft dies 50 Prozent der Weltwirtschaft - steckt bereits tief im Niedergang, schlimmer als alles, was es seit den 30er Jahren gegeben hat.
  In den Monaten zwischen Juli 1997 und Juli 1998 sind die Aktienkurse außerhalb der USA und Europas fast überall um 50-75% gefallen; die Werte der sog. aufstrebenden Märkte fielen allein im August und September dieses Jahres um weitere 33%. In Indonesien ist die Hungersnot zu einer Alltagserscheinung geworden; in Rußland ist die Lebenserwartung um fünf Jahre zurückgegangen und der Lebensstandard um 50% und mehr gefallen; in Ostasien verlieren Millionen Menschen ihre Arbeit und geraten in Armut.
  In Lateinamerika, das gerade anhub, sich von den Verheerungen des "verlorenen Jahrzehnts" der 80er Jahre zu erholen, beginnen sich jetzt dieselben Anzeichen zu zeigen, mit zunehmender Intensität.
  Verschärfend kommt hinzu, daß die US-Wirtschaft, die der hauptsächliche Motor des letzten internationalen konjunkturellen Aufschwungs war, in ernsthaften Schwierigkeiten ist.
  Noch im Juni 1998 setzte Alan Greenspan, der Chef der US-Notenbank Federal Reserve, selbst Wirtschaftsjournalisten in Erstaunen, als er in einer Erklärung vor dem Kongress andeutete, "es ist möglich, daß wir ... ,über die Geschichte hinausgegangen‘ sind", d.h. die Wirtschaftszyklen hinter uns gelassen und immerwährendes Wachstum erreicht haben. Schon Mitte Oktober hatte derselbe Alan Greenspan den Zinssatz zweimal gesenkt, um dem steigenden Druck der internationalen Deflation zu begegnen.
  Unterdessen überraschte die Notenbank Wall Street mit der Koordination einer Auffangaktion für einen Milliarden-Dollar-Hedge Fund. Greenspan erklärte die Aktion damit, der Zusammenbruch des Fonds hätte höchst wahrscheinlich einen Zusammenbruch der Weltfinanzmärkte ausgelöst. Die US-Wirtschaft ist derzeit auf dem Weg in die Rezession, und wenn sich diese nicht aufhalten läßt, wird es eine Katastrophe für die Weltwirtschaft.
  Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Wie kommt es zu den zunehmenden Erschütterungen der Weltwirtschaft? Bis vor kurzem hatten weder die tonangebenden Ökonomen in den USA noch die Journalisten der Wirtschaftspresse noch die Massenmedien eine Antwort auf diese Frage. Sie wollten schlicht nicht anerkennen, daß die US-Wirtschaft in ernste Schwierigkeiten geraten war. Und dies obwohl der Zustand der US-Wirtschaft - ganz im Gegensatz zur Medienpropaganda - über einen langen Zeitraum wirklich schlecht gewesen ist. Im letzten Vierteljahrhundert hat das durchschnittliche jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität in den USA (das Bruttosozialprodukt je Stunde) bei weniger als 1% pro Jahr gelegen - das ist gut weniger als die Hälfte des Durchschnitts des vergleichbaren Zeitraums im vergangenen Jahrhundert.
  Zwischen 1973 und 1998 ist der Anstieg der Reallöhne niedriger gewesen als zu jedem anderen Zeitpunkt der US-Geschichte seit dem Bürgerkrieg, die Große Depression miteingeschlossen. 1997 lag der reale Stundenlohn für Produktionsarbeiter (ausschließlich des Soziallohns) auf Niveau von 1965.
  Das Überraschendste ist vielleicht: Während des konjunkturellen Aufschwungs der 90er Jahre - als die US-Wirtschaft vermeintlich in eine "Neue Ära" trat und über jeden Zweifel erhaben die Überlegenheit des "angelsächsischen Modells" über alle anderen demonstrierte - waren die Leistungen der US-Wirtschaft, gemessen an fast jedem makroökonomischen Standardindikator: Wachstum der Produktion, der Investitionen, der Produktivität, der Löhne, schlechter als in jeder anderen konjunkturellen Aufschwungphase der Nachkriegszeit.
  Ökonomen, die Fachpresse und die Medien konnten ihren Blick vom tatsächlichen schlechten Zustand der US-Wirtschaft jedoch abwenden, weil die Inflation auf das Niveau gesenkt worden war, das den Erfordernissen des Finanzsektors entgegenkam und weil die Profitrate sich nach einer langen Periode des Niedergangs wieder spürbar erholte; vor allem aber weil die Aktienmärkte alle Rekorde brachen.
 
  Bruch im Konsens
  Im Verlauf der letzten Monate hat es in der Beurteilung der Wirtschaftslage in den USA jedoch einen erheblichen Bruch gegeben. Während die Asienkrise den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft beschleunigte und drohte, die Weltwirtschaft mit in den Strudel zu ziehen, suchten führende Ökonomen im wirtschaftlichen und politischen Establishment der USA - darunter auch solche wie Jeffrey Sachs, der mit am schärfsten für die "Schocktherapie" und eine grenzenlose Liberalisierung eingetreten war - nach Deckung.
  Erstaunlicherweise machen diese Ökonomen den sog. Komplex von US- Finanzministerium, Wall Street und Internationalem Währungsfonds (IWF) für diesen Brand verantwortlich, der außer Kontrolle zu geraten droht. Dafür führen sie zwei miteinander zusammenhängende Argumente an. Erstens die IWF-Intervention in Ostasien, die verheerend konterproduktiv war. Ihrer Meinung nach wäre angesichts der massiven Kapitalflucht, die die Asienkrise beschleunigt hat, eine massive Kapitalzufuhr nötig gewesen, um die Liquiditätskrise zu verhindern, die die asiatischen Ökonomien zerstört hat.
  Dies wäre auf eine ähnliche Aktion hinausgelaufen, wie sie die US- Notenbank und die Japaner zur Zeit des Börsenkrachs von 1987 praktiziert haben: massiv billiges Geld in das Krisengebiet hineinzupumpen. Diesmal tat der IWF jedoch das Gegenteil. Wie Herbert Hoover 1929, der mitten im Börsenkrach einen ausgeglichenen Haushalt forderte, setzte der IWF gewohnheitsgemäß hohe Zinssätze und eine restriktive Wirtschaftspolitik durch.
  Das Ergebnis war, daß die internationalen Investoren noch stärker in Panik gerieten, die Kapitalflucht zunahm, und alle Voraussetzungen für eine Kettenreaktion von Unternehmenszusammenbrüchen, ausbleibenden Lohnzahlungen, steigender Arbeitslosigkeit, noch mehr Konkursen usw. geschaffen wurden.
  Die besagten Ökonomen argumentieren auch, die Deregulierung kurzfristiger Kapitalbewegungen sei eine Ursache für die internationale Krise. Geld floß nach Ostasien, solange die Aussichten gut schienen, aber es wurde blitzartig zurückgezogen, als sich das Geschäftsklima verschlechterte. Dies führte in den betroffenen Ökonomien zu einer Depression, die nun droht auf den Rest der Weltwirtschaft überzugreifen.
  Es wird jetzt deutlich, daß auf längere Sicht gesehen die sich entwickelnde Krise selbst das meiste dazu beitragen wird, die herrschende neoliberale Weltsicht – der Intellektuellen wie der Bevölkerungen im allgemeinen - zu verändern. Es ist auch offenkundig, daß die besagten Ökonomen nur die Spitze des Eisbergs sehen. Dennoch sollte selbst ihre sehr partielle und oberflächliche Analyse m.E. von der Linken nicht ignoriert werden.
  Erstens ist ihre Kritik am freien Markt bei kurzfristigen Anleihen soweit korrekt. Massive, unregulierte kurzfristige Kapitalströme haben die ostasiatische Krise radikal verschärft, obgleich sie nicht ihre Ursache waren.
  Zweitens lenkt die Kritik dieser Ökonomen an den Kreditkonditionen, die der IWF in Ostasien durchgesetzt hat, die Aufmerksamkeit auf den unverhüllt imperialistischen Charakter der IWF-Intervention in dieser Region. Deren Ziel war nicht allein die Durchsetzung hoher Zinssätze und einer restriktiven Wirtschaftspolitik. Ihr Ziel war, vor allem in Korea, die Zerstörung eines Systems wirtschaftlicher Regulierung und Protektion, das einen der spektakulärsten Wachstumserfolge der Weltgeschichte ermöglichte.
  Aber gerade weil die ostasiatischen Ökonomien selbst nach Maßgabe der IWF-eigenen Kriterien so erfolgreich waren, hat das sog. Reformprogramm des IWF diesen - deutlicher vielleicht als je zuvor - als ein Instrument des internationalen Kapitals ausgewiesen, das gewaltsam neoliberale Marktregeln aufgezwungen hat, um die ostasiatischen Ökonomien dem Einfluß der multinationalen Konzerne und Großbanken zu öffnen.
  Drittens - das ist vielleicht am wichtigsten - hat die Kritik der besagten Ökonomen eine große ideologische Bedeutung. Denn implizit, und sicher auch ohne Absicht, stellt sie in Frage, was zum zentralen Dogma unserer Zeit geworden ist: daß der freie Markt im allgemeinen das bestmögliche Ergebnis bringt. Natürlich beschränken die Ökonomen ihre Kritik am freien Markt auf die Kritik des Markts an kurzfristigen Investitionen. Dennoch, wenn nicht mehr ohne weiteres und grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, daß der Markt per se immer das beste Ergebnis hervorbringt, ist der Weg offen für die Infragestellung der Angemessenheit von Marktmechanismen in Bereichen des wirtschaftlichen Lebens: auch bei langfristigen Investitionen, auch bei der Warenproduktion, vor allem auch auf dem Arbeitsmarkt.
  Anders ausgedrückt: für die Linke hat sich eine kleine, aber bedeutende intellektuelle Öffnung aufgetan, ihr zentrales Anliegen zu verteidigen, ein Anliegen, in das viele im Gefolge des Zusammenbruchs des "Kommunismus" und des Aufstiegs des Neoliberalismus das Vertrauen verloren haben. Dieses Anliegen ist die Vorstellung, daß der Sozialismus für jedwede menschliche Gesellschaftsverfassung unerläßlich ist – das ist eine demokratische, soziale Kontrolle über die Wirtschaft von unten nach oben durch die ProduzentInnen selbst.
 
  Kritik der Linken
  Die einhellige Antwort der Linken auf die Kritik der besagten Ökonomen ist, daß diese die internationale Wirtschaftskrise nur sehr partiell und oberflächlich analysieren, wenn sie sie ausschließlich auf die Zügellosigkeit und Unverantwortlichkeit kurzfristiger Kapitalanlagen zurückführen.
  Die Ungeregeltheit kurzfristiger Kapitalbewegungen ist natürlich integraler Bestandteil eines viel breiter angelegten neoliberalen Programms, das seit dem Ende der 70er Jahre an Macht zugenommen hat. Ziel dieses Programms war, die Welt soweit wie möglich für die Bewegungen von Kapital und Waren zu öffnen und dabei den hart erstrittenen Schutz der arbeitenden Bevölkerung vor Marktmechanismen durch den Wohlfahrtsstaat zu zerstören.
  Konsens unter Linken ist auch, daß das neoliberale Programm die Verantwortung für viele Probleme trägt, die heute die Weltwirtschaft plagen, und daß seine Durchsetzung zu einem guten Teil Ursache der gegenwärtigen Krise ist. Die linke Argumentation läßt sich wie folgt zusammenfassen:
  Der zentrale Trend, den wir besonders seit dem Ende der 70er Jahre erlebt haben, ist die zunehmende Dominanz des Finanzkapitals. Das zentrale Anliegen neoliberaler Politik war, die gewinnträchtigen Anlagebereiche für das Finanzkapital und die Multis abzusichern, zu schützen und auszudehnen. Die im Interesse des Finanzkapitals notwendige Politik hat aber die Wirtschaft im allgemeinen und die Arbeiterklasse im besonderen belastet.
  Um die Erträge aus Krediten vor den Folgen der Inflation zu schützen, haben die kapitalistischen Staaten eine ständige restriktive makroökonomische Politik durchgesetzt, straffe Kreditkonditionen und ausgeglichene Staatshaushalte. Aber eben diese Politik war die zentrale Ursache für das langsame Wachstum und die hohe Arbeitslosigkeit seit dem Ende der 70er Jahre.
  Um dem Finanzkapital die höchsten Erträge zu sichern, wurden Barrieren für die Mobilität des Kapitals abgebaut, so daß es rasch in Märkte eindringen und von ihnen wieder abgezogen werden konnte. Diese Kapitalmobilität hat die Durchsetzung einer nationalen, auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik sehr erschwert, vor allem eine Politik des deficit spending und der großzügigen Kreditgewährung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
  Drittens, und das erkennen jetzt auch Leute wie Jeffrey Sachs an: indem es möglich wurde, daß Kapital rasch irgendwo eindringen kann, wenn die Aussichten gut sind, sich beim leisesten Anzeichen von Schwierigkeiten aber ebenso rasch zurückziehen kann, ist es sehr schwer geworden, einen langfristigen Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang zu setzen, insbesondere in der Dritten Welt. Wirtschaftliche Entwicklung hängt ab von der langfristigen Bindung produktiver Ressourcen an bestimmte Produktionslinien; sie hält den plötzlichen Abzug von Kapital, der in der neoliberalen Ordnung an der Tagesordnung ist, nicht aus.
 
  Überproduktion und
  Überkapazität
  Diese Betrachtung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage macht soweit Sinn. Dennoch scheint mir, kann sie in die Irre führen, wenn sie nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt wird.
  Um es rundheraus zu sagen: Der Aufschwung des Finanzkapitals und des Neoliberalismus ist viel mehr ein Ergebnis der internationalen Wirtschaftskrise als eine ihrer Ursachen, wenn er auch bedeutend zu ihrer Verschärfung beigetragen hat. Ihre tieferen Ursachen hat die internationale Wirtschaftskrise vielmehr in der säkularen (langfristigen) Krise der Profitrate, die ein Ergebnis der weltweiten Überkapazität und der Überproduktion an Waren ist.
  Die Verlagerung bedeutender Mengen an Kapital in den Finanzsektor war eine Folge der Unfähigkeit, im Produktionsbereich, vor allem im verarbeitenden Gewerbe, eine angemessene Gewinnrate zu erzielen. Der Anstieg an Überkapazität und Überproduktion, der von den späten 60er Jahren an zu sinkenden Profiten in der verarbeitenden Industrie führte, war die Ursache für den Aufschwung des Finanzkapitals von den späten 70er Jahren an.
  Die Wende zum Neoliberalismus, die ebenfalls mit dem Ende der 70er Jahre einsetzte, begann erst nachdem die keynesianische Politik der Nachfragesteuerung nicht in der Lage gewesen war, die Profite wiederherzustellen und den Prozeß der Kapitalakkumulation wiederanzufachen.Vom Standpunkt des Kapitals waren Monetarismus und Neoliberalismus eine Antwort auf das Scheitern der ersten Option, die keynesianische Ausgabenpolitik.
  Drittens waren die straffen Kreditkonditionen und restriktiven Haushaltsführungen zwar teilweise vom Wunsch motiviert, die Profite des Finanzkapitals zu schützen, ihr anfängliches und erstes Ziel war jedoch, durch Drosselung der Nachfrage die Gewinnaussichten insgesamt zu verbessern, und zwar auf zweifache Weise: 1. durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die die Arbeiterklasse schwächte und den Anstieg der Löhne bremste; 2. durch den Zwang zu einer Wende von Unternehmen mit hohen Kosten und niedrigen Profiten zu Unternehmen mit niedrigen Kosten und hohen Profiten, mit ansteigender durchschnittlicher Profitrate.
  Dennoch, wenn man den Aufschwung des Finanzkapitals und des Neoliberalismus auch eher als eine Folge denn als Ursache der langfristigen wirtschaftlichen Stagnation und Instabilität sehen muß, hat die volle, flächendeckende Durchsetzung des neoliberalen Programms doch eine fundamentale Rolle beim Übergang von langfristigen Profitproblemen und einer säkularen Stagnation zur gegenwärtigen tiefen Krise gespielt. Dieser Übergang kam erst in den 90er Jahren, als Reagans Politik des Rekorddefizits von Clintons ausgewogenem Haushalt abgelöst wurde - damit aber der Weg für weit größere Probleme der Instabilität und des Wachstums frei wurde.
 
  Die tieferen Wurzeln
  der Stagnation
  Im folgenden soll ein schematischer Abriß des Aufbaus und der Verschärfung der weltweiten Überkapazität und Überproduktion an Gütern der verarbeitenden Industrie gegeben und ihre Rolle in der gegenwärtigen Krise skizziert werden.
  Die Wurzeln der anhaltenden Stagnation wie auch der aktuellen Krise liegen im Niedergang der Profite in der verarbeitenden Industrie, der seinerseits ein Ergebnis der steigenden Überproduktion und Überkapazität in diesem Bereich ist - ein Ausdruck der verschärften internationalen Konkurrenz.
  In der zweiten Hälfte der 60er Jahre konnten später entwickelte, billigere Produzenten in Deutschland und besonders in Japan ihre Produktion rasch ausweiten. Sie zwangen ihre niedrigeren Preise den zu höheren Kosten produzierenden Konkurrenten auf. Damit konnten deutsche und japanische Firmen sowohl ihren Anteil auf den internationalen Märkten steigern als auch ihre Profitraten halten, während die Marktanteile und Profitraten ihrer Konkurrenten sanken.
  Das Ergebnis war Überkapazität und Überproduktion im verarbeitenden Gewerbe, was sich in einer reduzierten Gewinnträchtigkeit der gesamten verarbeitenden Produktion in allen G7-Ländern zusammengenommen ausdrückte. Die Hauptlast dieses Niedergangs trugen zunächst die zu hohen Kosten produzierenden Unternehmen in den USA, deren Profite zwischen 1965 und 1973 in der verarbeitenden Industrie um 40%, in der Gesamtwirtschaft um 25– 30% zurückgingen.
  Ab 1973 jedoch waren japanische und deutsche Unternehmen gezwungen, ebenfalls einen Teil der Profitkrise zu tragen. Ihre Kosten stiegen nämlich rasant, weil ihre Währungen gegenüber dem Dollar stark aufgewertet wurden, zeitgleich zwischen 1971 und 1973 das internationale Währungssystem in die Krise geriet und die Ordnung von BrettonWoods zusammenbrach.
  Es war der massive Fall der Profitrate in den USA, Deutschland und Japan und in der gesamten kapitalistischen Welt, von dem sie sich nicht erholen konnte, der verantwortlich war für die in diesem Jahrhundert einmalig reduzierten Raten der Kapitalakkumulation in der verarbeitenden Industrie und damit der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation im letzten Vierteljahrhundert.
  Niedrige Raten der Kapitalakkumulation haben zu niedrigen Wachstumsraten der Produktion und der Produktivität geführt; niedrige Produktivitätsraten bedeuteten niedriges Wachstum der Löhne. Steigende Arbeitslosigkeit war die Folge des niedrigen Wachstums von Produktion und Investition.
  Die zentrale Frage, die sich an dieser Stelle jedoch sofort stellt, ist: Was war verantwortlich für das Anhalten der Überkapazität und der Überproduktion, die den massiven Rückgang der Profite bedingten? Anders ausgedrückt: warum haben Unternehmen mit sinkenden Profiten in ihren Produktionsbereichen nicht in dem Maß in andere Produktionslinien investiert, daß sie ihre Überkapazitäten abbauen konnten? Auf diese Frage, scheint mir, gibt es drei Antworten.
  Erstens hatten die großen Konzerne in den USA, Deutschland und Japan, die die Industrieproduktion der Welt dominierten, weitaus bessere Aussichten, ihre Profite zu verbessern, wenn sie ihre Konkurrenzfähigkeit in den bestehenden Produktlinien steigerten, als wenn sie in neue investierten.
  Sie verfügten über ein großes Anlagekapital, das sie bereits abgeschrieben hatten; sie hatten von langer Hand errichtete Beziehungen zu Lieferanten und Kunden, die nicht so leicht in neuen Produktlinien zu ersetzen waren; und sie hatten sich über einen langen Zeitraum ein spezialisiertes technologisches Wissen hart erarbeitet, das sie nur in den bestehenden Produktlinien nutzen konnten. In den 70er Jahren und auch später haben US-Firmen, deutsche und japanische Firmen im allgemeinen ihre Produktionen nicht aufgegeben, wenn sie nicht dazu gezwungen wurden, mit dem Ergebnis, daß nur wenig Kapital für neue Linien freigesetzt und die bestehende Überkapazität nur wenig abgebaut wurde.
  Zweitens fanden es Unternehmen, die zu niedrigen Kosten produzierten, vor allem in Ostasien, trotz der weltweit reduzierten Gewinnspanne in der verarbeitenden Industrie profitabler, just in diese Industrien zu investieren, ganz wie ihre japanischen Vorläufer es getan hatten. Es floß als zuviel Kapital in diese Bereiche, und die Überkapazität stieg.
  Schließlich hat die keynesianische Politik, die sich in den 70er Jahren überall durchsetzte und in den USA bis in die 90er Jahre anhielt, zur anhaltenden Überkapazität und Überproduktion beigetragen und somit dazu, die Gesamtprofitrate niedrig zu halten.
  Durch Ankurbelung der Nachfrage, deficit spending und eine Politik der leichten Kredite konnten viele Firmen, die zu hohen Kosten produzierten und niedrige Gewinne einfuhren, und die ansonsten bankrott gegangen wären, die Produktion aufrecht und Positionen besetzt halten, die ansonsten von Unternehmen mit niedrigen Kosten und hohen Gewinnen besetzt worden wären. Der Keynesianismus hat somit fraglos den wirtschaftlichen Niedergang abgefedert, ihn aber auch verlängert; er hat eine Depression vom Typ der 30er Jahre abgewehrt, aber um den Preis, die Dynamik des Systems zu schwächen und Unternehmen am Leben zu halten, die niedrige Gewinne machten und kaum investierten.
 
  Von der Stagnation zur Krise
  Der schlußendliche Bruch mit dem Keynesianismus, das muß man hervorheben, fand erst in den 90er Jahren statt. Er hat aber zugleich die Voraussetzungen für die heutige wirtschaftliche Zerrüttung geschaffen und den Weg geöffnet von einer anhaltenden Stagnation der internationalen Wirtschaft zu ihrer tiefen Krise.
  Reduzierte Gewinnaussichten, ein Ergebnis der Überkapazität und der Überproduktion, führte natürlich zu reduzierter Kapitalakkumulation - daher das sinkende Wachstum der Nachfrage nach Investitionen von 1973 an. Etwa von derselben Zeit an begannen Unternehmer in Reaktion auf sinkende Profite, die Steigerung der Löhne massiv zu drosseln, damit auch die Nachfrage der Konsumenten.
  Als der Chef der US-Notenbank, Volcker, und Margaret Thatcher Ende der 70er Jahre eine Politik der knappen Geldes durchsetzten, waren die realen Zinssätze auf einem Höhepunkt angelangt, das wirkte sich zusätzlich hemmend auf die Wirtschaft aus. Ohne die Steigerung der staatlichen Nachfrage durch massives Aufstocken der Militärausgaben in der Regierungszeit Ronald Reagans ist zweifelhaft, ob in den 80er Jahren eine wirtschaftliche Depression hätte verhindert werden können, insbesondere während der internatioalen Schuldenkrise 1981/82 und danach.
  Mit dem Regierungsantritt Bill Clintons jedoch wandten sich die USA einer Politik des ausgeglichenen Haushalts zu; das war - neben der Politik des knappen Gelds - die definitive Wende zum Neoliberalismus. Sie kennzeichnete zugleich das Ende der Rolle der USA als stabilisierender Faktor der Weltwirtschaft durch Steigerung der Nachfrage mittels wachsender Haushaltsdefizite - eine Rolle, die sie lange gespielt haben.
  Das verlangsamte Wachstum der staatlichen Nachfrage gesellte sich nun zum bereits verlangsamten Wachstum des Konsums und der Nachfrage nach Investitionen. Während die Regieurngsausgaben der USA zwischen 1960 und 1990 jährlich um durchschnittlich 2,4% gestiegen waren, stiegen sie in den 90er Jahren nur noch um durchschnittlich 0,1%.
  Da die europäischen Regierungen im Wettlauf um die Wirtschafts- und Währungsunion eine noch schärfere Ausgabendisziplin durchgesetzt haben, hat sich das Wachstum der Binnenmärkte in der gesamten "fortgeschrittenen" kapitalistischen Welt auf ein Schneckentempo verlangsamt. Um dies zu kompensieren, hatten die Unternehmen übrall keine andere Wahl als sich radikal auf den Export hin zu orientieren. Da Exporte sich aber meist auf verarbeitete Güter beziehen, war das Ergebnis wiederum eine Verschärfung des Jahrhundertproblems der Überkapazität in diesem Bereich.
 
  Die aktuelle Krise
  Es ist die Verschärfung der Überkapazität in der verarbeitenden Industrie, die den Boden bereitet hat für die Kette von Ereignissen, die die aktuelle Krise hervorgebracht haben.
  Fast die gesamten 90er Jahre hindurch ist die US-Wirtschaft gewachsen und hat dabei eine starke, wenn auch nicht vollständige Erholung der Profitrate erlebt, insbesondere in der verarbeitenden Industrie. Darin steht sie unter den führenden kapitalistischen Wirtschaftsmächten fast einzigartig da.
  Aber die Erholung der US-Wirtschaft hat der Weltwirtschaft einen hohen Preis abverlangt. Das liegt daran, daß sie im wesentlichen durch eine massive Steigerung der Exporte zustandegekommen ist, die wiederum möglich war, weil ihre Wettbewerbsfähigkeit drastisch gestiegen ist. Die Gewinne der US- Produzenten – unter Bedingungen einer nur langsam wachsenden internationalen Nachfrage und einem Überangebot an Gütern der verarbeitenden Industrie – wurden deshalb weitgehend auf Kosten der führenden Konkurrenten erzielt; der Kampf um die Märkte ist weitgehend ein Nullsummenspiel geworden.
  Vor allem verdankt sich die Wiederbelebung der verarbeitenden Industrie in den USA weitgehend einer Abwertung des Dollar um 40–60% gegenüber der DM und dem Yen in den letzten zehn Jahren.Während die US-Wirtschaft in der ersten Hälfte der 90er Jahre somit einen Aufschwung erlebte, hatten die deutschen und vor allem die japanischen Hersteller aus demselben Grund Exportschwierigkeiten und erlebten ihre schwerste Krise der Nachrkriegszeit.
  1995, als der Yen bei 80:1 gegenüber dem Dollar stand (zehn Jahre zuvor waren es noch 240:1 gewesen), stand die japanische Wirtschaft kurz vor dem Kollaps. Nur durch ein Abkommen der Regierungen der USA, Deutschlands und Japans im Frühjahr 1995, das eine Aufwertung des Dollar und eine scharfe Abwertung des Yen brachte, konnte die japanische Wirtschaft gerettet werden.
  Die Rettung der japanischen Wirtschaft hatte jedoch unvorhergesehene Folgen - vor allem die Krise in Asien. Dies hängt damit zusammen, daß Gewinne für Unternehmen aus einer Ökonomie - vor allem wenn sie so groß und mächtig ist wie die Japans - wieder einmal nur möglich waren durch Verluste für andere.
  Die ostasiatischen Ökonomien haben ihren spektakulären Boom in der ersten Hälfte der 90er Jahre (im Verbund mit dem der USA und auf Kosten der japanischen Hersteller) nur deshalb erlebt, weil ihre Währungen an den Dollar gebunden war und deshalb mit ihm zusammen gegenüber dem Yen fiel. Vor allem Korea hat mit dem Fall des Dollar und damit auch des koreanischen Won seine Wettbewerbsfähigkeit ständig verbessert; die Investitionen in Korea stiegen in einem Maße, als gäbe es keine Grenzen für den Markt.
  Als jedoch der Yen ab 1995 gegen den Won und andere ostasiatische Währungen zu fallen begann, zeigte sich, daß die koreanische Wirtschaft und auch die anderen südostasiatischen Ökonomien massiv überinvestiert hatten. Sie saßen auf einem hohen Berg an Überkapazitäten, und weil ihre Kosten aufgrund der Aufwertung ihrer Währungen gestiegen waren, fiel es ihnen zunehmend schwer, gewinnbringend zu verkaufen.
  Als in der ersten Hälfte 1997 internationale Kreditgeber merkten, daß die Profitrate osiasiatischer Hersteller zurückging und daß das Wachstum ihrer Exporte zurückblieb im Verhältnis zu steigenden Importen, begannen sie schnell, ihr Kapital zurückzuziehen. Im Ergebnis verloren die ostasiatischen Währungen massiv an Wert, eine Entwicklung, die deswegen besonders katastrophal war, weil die ostasiatischen Hersteller sich bei den internationalen Kreditgebern stark verschuldet hatten.
  Die Politik des IWF machte nun alles noch viel schlimmer. Er setzte eine scharfe Anhebung der Zinssätze und damit eine plötzliche und drastische Steigerung der Verschuldung der Unternehmen durch; Bankrotte und Massenentlassungen waren die Folge, die Schulden konnten nicht bedient werden, die Spirale nach unten war in Gang gesetzt. Somit wurde aus der ostasiatischen Krise die ostasiatische Depression.
  Der Rest der Geschichte ist leidlich bekannt. 1996 wurde in Ostasien soviel investiert wie in den viel größeren USA. Als die Region in die Depression geriet, konnte das Ergebnis deshalb nur folgenschwer sein. Die ostasiatischen Märkte brachen zusammen, sie konnten auf eine Erholung nur hoffen, wenn es ihnen gelang, ihre Exporte in andere Regionen zu steigern. Auch Deutschland und Europa haben ihren Weg aus der Rezession exportiert.
  Ziel all dieser Exporte konnte nur die eine Wirtschaft sein, deren Binnenmarkt gewachsen war, also die US-Wirtschaft. 1997 setzte in den USA endlich ein beschleunigtes Binnenwachstum ein, selbst die Reallöhne stiegen; aber die Grundlage dieses Wachstums war ein Wachstum der Exportgüter. Als der Dollar infolge dieses wirtschaftlichen Erfolgs unvermeidlich anstieg, wurde diese Dynamik daher auch sofort wieder in Frage gestellt.
  Als in der ersten Hälfte von 1998, gestützt auf den hoch bewerteten Dollar, die Importe in die USA flossen, setzte gleichzeitig aus demselben Grund und in Anbetracht der schrumpfenden ostasiatischen Märkte das Wachstum der Exporte aus; die Profite in der verarbeitenden Industrie sanken wieder und der US-Boom war zu Ende.
  Das Ende des Booms der US-Industrie ist das Ergebnis der verschärften internationalen Konkurrenz unter den Bedingungen von Überkapazitäten und Überproduktion; es war zugleich die unmittelbare Ursache für die Drift in die Rezession. Im ersten Halbjahr 1998 sind die Profite in der verarbeitenden Industrie, nachdem sie mehrere Jahre hindurch erheblich gestiegen sind und den Wirtschaftsboom genährt haben. Die Folgen sind weitreichend, darunter das Platzen der Börsenblase.
  Steigende Aktien, gestützt durch steigende Gewinne in der Industrieproduktion, haben zusammen mit schnell wachsenden Exporten, den Aufschwung der US- Wirtschaft durch steigende konsumtive Ausgaben und durch steigende Investitionen genährt. Bei derartig hoch bewerteten Aktien meinten die Konsumenten, ihr Reichtum sei in einem Maße gestiegen, daß sie nicht sparen mußten; die Sparrate ist in den letzten Jahren massiv gesunken, der Konsum dafür erheblich gestiegen. Bei derartig hoch bewerteten Aktien konnten Unternehmen viel leichter Geld machen, indem sie Anteile verkauften; damit nahmen die Investitionen zu. Aber mit fallenden Aktienkursen hat sich dieser sog. "Wohlstandseffekt" ins Gegenteil verkehrt.
  Die US-Notenbank schätzt, daß sich der Nettoverlust an allen US- Finanzwerten seit dem Börsenhöchststand im Juli 1998 auf etwa 1,5 Billionen Dollar beläuft. Da die Menschen einen erheblichen Rückgang ihres Reichtums erleben, sparen sie mehr und geben weniger aus. Da die Unternehmensaktien fallen, wird Geld teurer und ihre Investitionen gehen zurück.
  Das Platzen der Börsenblase hat zudem zu einem enormen Vertrauensverlust der Geschäftswelt geführt, Gläubiger zweifeln an der Zahlungsfähigkeit ihrer Kreditnehmer und fordern ihre Anleihen in panikartiger Suche nach Liquidität zurück, d.h. sie suchen ein geringeres Risiko und solideren Geldwert. Eine Kreditklemme droht; für Unternehmen und Private wird es schwerer, Kredite zu bekommen; neue Produktion und neuer Konsum werden damit unterminiert.
  Es gibt auch nicht viel Hoffnung, daß die Krise des Exports - und der verarbeitenden Industrie im allgemeinen - also der letztlichen Ursache des wirtschaftlichen Niedergangs der USA, überwunden werden kann. Im Gegenteil, in den meisten Regionen der Welt geht die Produktion weiter zurück, die Märkte schrumpfen, Kredite sind schwerer zu bekommen, lokale Produzenten hängen für ihr Überleben selber immer mehr von Exporten ab.
  Eine geraume Zeit lang hat die Weltwirtschaft die US-Wirtschaft als ihre Lokomotive betrachtet. Da der Aufschwung in den USA unter dem Druck der weltweiten Exportflut gestoppt wird, ist kaum zu erkennen, wo die Kräfte herkommen sollen, die eine scharfe Rezession aufhalten können.
  Robert Brenner
  Robert Brenner ist Herausgeber der sozialistischen US-amerikanischen Zeitschrift Against the Current. Der Artikel datiert vom 15.Oktober 1998. (Übersetzung: ak.)  


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