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National befreite Stadtteile, Taxifahrer, die in den Knast
gehen, weil sie Ausländer als Fahrgäste transportierten,
Sammelabschiebungen durch Innenminister Schily nach Nigeria, Ermittlungen gegen
die Opfer rassistischer Gewalt. Die Zeitungsmeldungen reichen, um das "Man
kann gar nicht soviel fressen, wie man kotzen müßte"
allgegenwärtig sein zu lassen. Wie verarbeitet jemand, der seine Eltern in
Auschwitz verlor, selber 1938 flüchten konnte und später in der DDR als
Journalist und Seemann lebte, diese deutsche Gegenwart?
Walter Kaufmann hat den Prozeß gegen zwei Neonazis besucht. Sie hatten
britische Bauarbeiter provoziert. Als die drei aus Jamaika stammenden Briten im Auto
flüchteten, verfolgten die Rassisten sie und warfen einen schweren Stein in die
Windschutzscheibe des flüchtenden Wagens. Der Fahrer verlor die Gewalt
über den Wagen und prallte gegen einen Baum. Die beiden Beifahrer kamen mit
ein paar Blessuren davon. Der Fahrer jedoch überlebte nur knapp und ist
querschnittsgelähmt an einen Rollstuhl gefesselt.
Soweit eine Geschichte, die nur noch im Lokalteil der örtlichen Zeitung mit
mehr als drei Zeilen erwähnt wird. In Steinwurf erzählt Walter Kaufmann
die Geschichte der Frau, die Brent, den Fahrer, geliebt hatte und sich in den Beifahrer
Curtis verliebt. Um das Geschehen unmittelbar wirken zu lassen, schreibt er in der
ersten Person, kommentiert die Tage vor, während und nach dem Prozeß
mit den Gefühlen der Frau, läßt den Lesenden durch ihre Augen
schauen.
Das Leben, die Liebe, der Alltag gehen weiter, an die Beschimpfungen, von denen
"Negerflittchen" noch eine höflichere ist, kann sich jedoch kein
Mensch gewöhnen. Der Rassismus, seine potenzielle und offen zu Tage
kommende Gewalt, verhärmt auch die Opfer. Sie kämpfen jedoch dagegen
an, während die Täter sich noch in ihrem Stolz suhlen und ihre
Verwandten die Wahrheit nicht verstehen wollen.
Eine Erzählgeschichte, die von Dialogen lebt. Sie erzählen von der
Ohnmacht gegenüber dem Rassismus, von den kleinen Trotzdems, vom
Machismo, der wie der kleine Bruder des Rassismus diesem nacheifert.
Verschrieben werden sollte diese Geschichte vor allem denjenigen, die mit
akzeptierender Sozialarbeit sich um den Nazinachwuchs sorgen. Aber auch denjenigen,
die den Rassismus auf soziale Gründe wie Arbeitslosigkeit oder Wohnungsnot
verkürzen. Genauer als manch eine Analyse kommt hier ein Komplex zum
Ausdruck, der hinter der dreizeiligen Meldung steht, die wir beim
Frühstück nur rasch überfliegen.
Tommy Schroedter
Walter Kaufmann, Steinwurf, Berlin (Dietz) 1998 (edition reiher).