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Musikpassagen, die Spannung aufbauen, wie sie im Zirkus
unmittelbar vor dem dreifachen Salto von Trapezkünstlern herrscht. Dann
wieder federleichte Sequenzen. "Aufregende Klangfolgen und treibende
Rhythmen", das sind die Elemente moderner Klassik und moderner Rockmusik,
die Barbara Thompson so zusammengefügt hat. Shifting Sands, so der Name,
den sie dieser Musik gibt, ist sicherlich keine große Überraschung oder ein
überragendes Album. Es ist eine Standortbestimmung ihrer Band Paraphernalia.
1975 gegründet, hat diese Gruppe zwischen Jazz und Rock eine stabile, in
diesem Genre kaum bekannte Kontinuität bewahrt. Gleichzeitig spielen ihre
Mitglieder auf allen möglichen anderen Hochzeiten. Allen voran die 1944
geborene Komponistin und Saxophonistin, die sich seit 1996 Jazzbotschafterin des
Vereinigten Königreichs nennen darf. Sie spielt mit im United Jazz und Rock
Ensemble, komponiert Filmmusik, ist Leiterin einer Big Band und und und.
Besonders zu erwähnen wäre noch ihre Umsetzung von Kurt-Weill-
Liedern für Saxofon und Streichinstrumente. "Ich bin schon seit Jahren in
die Musik von Kurt Weill verliebt", sagt Barbara Thompson, "in seine
eindringlichen Melodien, ihre unerwarteten Wendungen, in seine Verwendung
moderner Harmonien und interessante Orchestrierung, die eine Menge von Blech- und
Holzbläsern, gelegentlich auch Saxofone, aber fast niemals Streichinstrumente
allein enthält." Es ist nicht schwer zu erraten, daß sie mit diesem
Werk besonders in den Jazzkreisen der ehemaligen DDR einen großen Erfolg
hatte.
Dennoch bleibt Paraphernalia die Gruppe mit der größten Ausstrahlung.
Das liegt sicherlich auch an den anderen Mitgliedern der Gruppe. Jon Hiseman,
Drummer, der im vorletzten Jahr seine ehemalige Band Colosseum wiederbelebte,
Peter Lemer, der mit seinem Klavierspiel ab und zu an Keith Jarrett erinnert, Paul
Westwood, dessen Baßspiel maßgeblich für die Leichtigkeit der
Musik verantwortlich zeichnet.
Neu auf dieser Platte: Billy Thompson, den Barbara Thompson nicht ohne stolzen
Unterton einen sehr begabten jungen Violinisten nennt. Die Zwiegespräche
zwischen Barbaras Saxofon beziehungsweise Flöte und Billys Geige zeugen
nicht nur von beider Talent, sondern sind vor allem die Passagen auf der Platte, die
auch beim mehrmaligen Hören noch etwas Neues in sich bergen.
Nun ist diese Art Standortbestimmung geradezu das Gegenteil von dem, was in der
allgegenwärtigen Standortdebatte sonst getan wird. Wesentliche Elemente in
letzterer zwingen die Menschen gegeneinander, machen fremde Subjekte für ihre
Misere verantwortlich, halten jedoch die verantwortlichen Verhältnisse für
unabänderlich. Die Musik dieser Platte präsentiert demgegenüber,
wie der Einfluß von Musikerinnen und Musikern nicht nur verschiedener
Herkunft, sondern auch verschiedener Genres den Charakter der eigenen Musik
festigt.
Dabei ist die Musik weit davon entfernt, sich in Konkurrenz zu all diesen
Einflüssen zu setzen. Ihre Identität liegt in der Erkundung jenseits der
eigenen Welt. Diese Produktion, im eigenen Haus aufgenommen, auf dem eigenen
Label produziert, streckt sich nach den eigenen Grenzen, immer bereit, einen Schritt
weiter zu gehen. Das beginnt nahezu unmerklich im Titelsong und wird am
deutlichsten im letzten Stück "Head in the Sand".
DJ Tommy