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Der marxistische Philosoph Wolfgang Harich (1923 -
1995) verfaßte 1969 als Sympathisant der Neuen Linken eine Kritik des
Anarchismus, um "den antiautoritär gesinnten Genossen warnend vor
Augen zu führen, daß ihre vermeintlich taufrischen Lieblingsideen und
bevorzugten Praktiken in Wahrheit weder originell sind noch sich jemals
bewährt haben - bewährt im Sinne der herbeigesehnten Revolution"
(S. 139). Der Essay, der im selben Jahr auszugsweise im Kursbuch 19 ("Kritik
des Anarchismus") und zwei Jahre später vollständig als Raubdruck
in der Schweiz erschien, ist nun vom Verlag der linken Tageszeitung junge Welt als
Buch neu herausgegeben worden*.
Der Verlag hat damit einen guten Griff getan. Denn obwohl der Text fast dreißig
Jahre alt ist, ist er nach wie vor aktuell. Zwar ist der Anarchismus als
eigenständige Strömung der Linken nur eine Randerscheinung. Doch
einzelne anarchistische Anschauungen und Haltungen sind vor allem in der
"autonomen" Szene und bisweilen sogar unter erklärten
Marxistinnen und Marxisten anzutreffen.
Das gilt bspw. für die "revolutionäre Ungeduld", die für
Harich das Grundmotiv des Anarchismus und eine "Ausgeburt des
Wunschdenkens" ist, noch mehr aber für die den Anarchismus
kennzeichnende pauschale Ablehnung von Institutionen, das "Mißbehagen
an jeder Art von Apparat".
Besonders gründlich und provokant rechnet Harich in seinem Buch mit der
Vorstellung ab, "Freiheiten des künftigen herrschaftslosen Zustandes in die
Gegenwart hineinzuziehen, nichtautoritäre Verhaltensweisen inmitten der
autoritären Gesellschaft vorzuleben". Er zeigt, daß solche Versuche
"im Kern reformistisch" (S.134) sind.
In Kapitel VIII ("Der Anarchismus als Zwillingsbruder des Anarchimus")
demonstriert der Autor, wie das Versäumnis der Anarchisten (und der sog.
"Rätekommunisten"), in organisierter Form eine dem Reformismus
gegenüber alternative politische Führung aufzubauen, diesem
Reformismus regelrecht in die Hände arbeitet: "Es war schlimm, daß
1918/19 der Apparat der reformistischen SPD konterrevolutionäre Politik
betrieb. Es war jedoch ebenso schlimm, daß der Spartakusbund über gar
keinen Apparat verfügte. Und da halfen auch die schönsten Arbeiter- und
Soldatenräte nichts. Räte haben den großen Vorteil, potentiell das
den Massen naheliegendste, für sie praktikabelste Instrument zur Zerschlagung
des bürgerlichen Staates von unten bis oben zu sein (weshalb es sehr zu
begrüßen ist, daß heute [1969] die Neue Linke dem
Rätegedanken zu einer Renaissance in den westeuropäischen
kapitalistischen Ländern verhelfen will). Räte haben aber auch den
Nachteil, als Produkte eines spontan aufbrechenden revolutionären
Massenenthusiasmus ihrer Natur nach labil zu sein und daher leicht zum Spielball
revolutionsfeindlicher Taktiker des reformistischen Apparats werden zu können,
mit der Endkonsequenz ihrer ‚freiwilligen‘ Selbstauflösung ... Und dagegen gibt
es nur ein Mittel der Rettung: Es müssen einheitlich handelnde, straff
organisierte, von einem generalstabsartigen Zentrum aus geleitete Revolutionäre
in den Räten den reformistischen Einfluß zurückdrängen und
selbst die politische Führung erringen, um Existenz und Aktion der Räte
über den Augenblick des Enthusiasmus hinweg auf Dauer zu stellen."
(S.129f.)
Der Autor zeigt, daß das Ziel einer herrschaftsfreien und staatenlosen
Gesellschaft für den Anarchismus gar nicht kennzeichnend ist - diese
Auffassung teilt er vielmehr mit dem Marxismus. Für den Anarchismus
charakteristisch ist die (letztlich nur abstrakt-moralisch begründete) Ablehnung
politischer Machtausübung zur Erreichung dieses Ziels, d.h. die Ablehnung der
Diktatur des Proletariats in Verbindung mit der Ablehnung jeder Staatsmacht. Das
Abstruse und Widersprüchliche der anarchistischen Auffassungen wird den
Leserinnen und Lesern von Harich auf originelle Weise nahe gebracht. Dabei bietet er
gleichzeitig eine gut lesbare und prägnante Einführung in die marxistische
Staatstheorie.
Durch die Renaissance "antiautoritärer" und anarchistischer
Positionen nach dem Scheitern der maostalinistischen K-Gruppen und der damit
einhergehenden Infragestellung marxistischer Grundpositionen in der Linken seit den
80er Jahren hat Harichs dreißig Jahre alter Essay seine Aktualität bewahrt.
Das Buch sollte auf keinem linken Büchertisch fehlen.
hgm
* Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung
mit dem alten und dem neuen Anarchismus, Berlin (Verlag 8.Mai) 1998, 168 Seiten;
16,80 DM, ISBN 3-931745-06-6.