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Daß Propheten im eigenen Land nicht viel gelten, ist
eine altbackene, aber immer wieder zutreffende Feststellung, die auch auf Karl Marx
und Friedrich Engels zutrifft. Wer an spannenden und weiterführenden Debatten
um die marxistische Theorie und Praxis interessiert ist, muß deswegen schon seit
vielen Jahren vor allem eins – Englisch beherrschen. Ausgesprochen verdienstvoll ist
deswegen, daß der Hamburger VSA-Verlag einen Sammelband zu den 150-Jahr-
Feiern des Kommunistischen Manifests herausgebracht hat, in dem vor allem
internationale Beiträge namhafter MarxistInnen und SozialistInnen dokumentiert
werden.*
Neben den Beiträgen für zwei kleine deutsche Konferenzen in Trier und
Frankfurt am Main (u.a. von Joachim Bischoff, Frank Deppe und Michael
Krätke), finden sich hier zahlreiche Beiträge, die für eine
internationale Tagung in Paris im Mai dieses Jahres verfaßt wurden. Samir
Amin, Eric Hobsbawm, Frigga und Wolfgang Fritz Haug, Boris Kagarlitzki, Georges
Labica, Colin Leys/Leo Panitch, Michael Löwy, Harry Magdoff, Paul M.
Sweezy, Ellen Meiksins Wood u.a. – eine illustre Gesellschaft, die zum Besten
gehört, was die marxistisch inspirierte internationale sozialistische Linke
gegenwärtig zu bieten hat.
Getroffen haben sie sich auf einer weltweit beachteten,
strömungsübergreifend organisierten Tagung, die sicherlich nicht
zufällig in Paris stattfand, mausert sich Paris doch nach Jahrzehnten der
Abstinenz zunehmend zu einem neuen Zentrum radikalsozialistischen Denkens.
Offensichtlicher Hintergrund: das Wiederaufleben linkssozialistisch beeinflußter
Sozialbewegungen, die ihresgleichen suchen in Europa.
Die Frage der Aktualität
Die meisten der durchaus kritisch-selbstkritischen Beiträge atmen die frische
Luft dieser Bewegungen und das macht den Band zu einem anregenden Leseerlebnis.
"Die Allgemeingültigkeit des Manifests ist die seines Gegenstandes selbst.
Sie regiert seine Aktualität", schreibt bspw. der französische Marxist
Georges Labica, der die Neuheit des Manifests in die drei schlichten Worte Geschichte,
Kampf und Revolution zusammenfaßt.
Und der Moskauer Linksoppositionelle Boris Kagarlitzki konkretisiert diese
Einschätzung, wenn er schreibt: "Niemand verlangt danach, ‚Hegel zu
begraben‘ oder Voltaire zu widerlegen, da auch so klar ist, daß Hegelianismus
und Voltairianismus der Vergangenheit angehören. Die Ideen der alten
Philosophen haben sich in modernen Theorien aufgelöst. Das ist mit Marx nicht
geschehen. Es kann auch nicht passieren, da die Gesellschaft, die er analysierte,
kritisierte und die zu verändern er sich erträumte, noch immer
weiterlebt."
Keine Frage, viele üben auch zum Teil recht umfassende Kritik an falschen
Einschätzungen im Manifest, an veralteten Elementen desselben oder an blinden
Flecken, die es endlich gilt aufzuarbeiten. Nicht untypisch: gerade die Deutschen tun
sich hier besonders hervor. Doch darin sind sich alle einig, die Aktualität des
Manifests ist die Aktualität einer auf den Grund gehenden Kritik am 150 Jahre
später noch immer – und zwar totaler denn je – herrschenden
Kapitalismus.
Doch neben dieser allgemeinen, fast schon metahistorischen Argumentation gibt es
ganz konkrete Gründe für die aktuelle Renaissance der im Manifest so
meisterlich niedergelegten Kapitalismuskritik. Es ist der aktuelle Stand des in die
latente Krise geratenen Neoliberalismus, der die "postmarxistischen"
Illusionen des Wohlfahrtskapitalismus verfliegen läßt.
"Sozialwissenschaftler und Philosophen aller Arten suchen verzweifelt nach den
Bremsen der globalen kapitalistischen Entwicklung", so der in Amsterdam
lebende Deutsche Michael Krätke.
Die Frage der Bourgeoisie
Fragt man, warum das Kommunistische Manifest gerade auch bei bürgerlichen
Intellektuellen nicht ungern gelesen und gelegentlich ausgiebig zitiert wird, so
stößt man schnell auf Marxens grandiose Darstellung der
revolutionären Rolle der Bourgeoisie bei der permanenten Umwälzung
der althergebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Und selbstverständlich gibt es kaum eine treffendere Beschreibung des Kerns
bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft als jene, daß die Bourgeoisie nicht
existieren kann, "ohne die Produktionsinstrumente, also die
Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen
Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren", und daß sie
"in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und
kolossalere Produktionskräfte geschaffen (hat) als alle vergangenen
Generationen zusammen". So richtig diese Sicht auch sein mag, sie diente und
dient doch oft dazu, den herrschenden Kapitalismus modernisierungstheoretisch zu
idealisieren.
Marxistische Selbstkritik im Sinne einer feineren, differenzierten Analyse ist hier
angebracht, das betont bspw. der Franzose Michael Löwy, wenn er
diesbezügliche Beschränkungen, Verzerrungen und Widersprüche
im Manifest "aus einer zu unkritischen Einstellung zur modern-
bürgerlichen industriellen Zivilisation herrühren" sieht.
Daß hier eine genauere Lektüre weiterhelfen kann, bemerkt Krätke,
wenn er betont, "daß die Bourgeoisie [im Manifest] keineswegs das seiner
selbst und seiner Sache bewußte ‚revolutionäre Subjekt‘ der
kapitalistischen Entwicklung ist, vielmehr ein ‚Träger‘, ein Akteur in vielerlei
Umwälzungen, der keineswegs weiß, was er da in Gang setzt, der nicht
bewußt Revolutionen ‚macht‘ und daher auch nicht weiß, wie ihm und
anderen geschieht."
Die in Kanada lehrende Britin Ellen Meiksins Wood, seit kurzem Herausgeberin der
bedeutenden Monatszeitschrift Monthly Review und z.Z. eine der produktivsten
MarxistInnen weltweit, geht dabei noch ein bißchen tiefer. Sie führt aus,
daß die von Marx und Engels damals so gepriesene revolutionäre
Bourgeoisie nicht zu verwechseln ist mit dem, was wir unter kapitalistischer Klasse
verstehen. Es handelte sich dabei vielmehr um Intellektuelle aus dem Mittelstand, die
im Bündnis mit Handwerkern und "einfachen Leuten" nicht die
Freisetzung des Kapitalismus wollten, sondern bürgerrechtliche Gleichstellung
und "freie Bahn für Tüchtige". "Diese
bürgerlichen Ziele sind nicht diejenigen einer Gesellschaft, die den
kapitalistischen Reichtum als höchsten Zweck setzt."
Gegen zeitgenössische Modernisierungstheoretiker gerade auch von links, sowie
gegen Apologeten kapitalistischer Zivilgesellschaft beharrt sie auf den Erkenntnissen
des alten nachmarxschen Arbeiterbewegungsmarxismus, der scharf zwischen Bourgois
und Citoyen unterschied: "Der Kapitalismus braucht ein diszipliniertes und
gefügiges Herr an Arbeitskräften. Er hat überhaupt keinen Bedarf
an einer kritischen Bürgerschaft."
Die Frage des Proletariats
Komplementär zur Frage der Bourgeoisie stand und steht im Mittelpunkt der
Diskussion um das Erbe des Manifests die Frage nach der weltgeschichtlichen Rolle des
Proletariats. Daß Marx und Engels hier etwas vorschnell urteilten, das ist nicht
nur nicht zu bestreiten, das betonen auch die meisten der hier versammelten
AutorInnen. So haben bspw. Eric Hobsbawm und Wolfgang Fritz Haug sicherlich
recht, wenn sie übereinstimmend darauf hinweisen, daß wir im Manifest
Reste von Geschichtsmetaphysik finden.
Verzerrend wird jedoch ihre Darstellung, wenn sie nicht auch angeben, wie sich die
Marxsche Analyse der modernen Lohnarbeiterschaft nach 1848 weiter entwickelt. Der
anfänglich ‚philosophisch‘ formulierte Kommunismus, der den Schwerpunkt
seiner geschichtsphilosophischen Hoffnung auf den pauperisierten, total entfremdeten
Proletarier legt, macht sehr bald einem ebenfalls bereits im Manifest vorhandenen
‚wissenschaftlichen‘ Kommunismus Platz, der die revolutionäre Rolle der
lohnarbeitenden Klasse aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß, aus ihrer
Stellung in den Produktionsverhältnissen und den damit verbundenen
Qualifikationen (Zentralität, produktive Leitungsmacht, Organisation und
Kollektivität) ableitet.
Diese Koexistenz strukturell verschiedener Analyselogiken im Manifest selbst ist selten
verstanden worden. Marx und Engels betonen mehrfach gerade auch im Manifest,
daß für sie das Proletariat nicht mehr und nicht weniger als die
zeitgenössische Fassung der Lohnarbeiterklasse bezeichnet, daß also
historisch-spezifische Elemente wie die Pauperisierungstendenz nicht den strukturellen
Ausgangspunkt ihrer Analyse ausmachen.
Die typische Konsequenz dieses Mißverständnisses ist die unvermittelte
Koexistenz von Determinismus und Voluntarismus. Am stärksten trifft man sie
bei Eric Hobsbawm, dessen (nicht zufälligerweise auch schon von der
linksliberalen Frankfurter Rundschau veröffentlichter) Text Marx zuerst des
unreifen Determinismus überführt, um anschließend zu betonen,
daß das Manifest trotzdem "kein deterministisches Dokument",
sondern "ein Dokument der Alternativen, der politischen
Möglichkeiten" sei.
Auch bei Wolfgang Fritz Haug läßt sich diese ungeklärte
Dichotomie verfolgen, wenn er einerseits zuspitzt, daß "die Begriffe von
der Arbeiterklasse … ihren Zugriff auf die Wirklichkeit verloren" haben und
andererseits mit den wunderschön-voluntaristischen Worten endet:
"Warum nicht wahrnehmen, daß wir in einer Welt ohne Garantien, aber
mit Möglichkeiten leben, einer Welt voller Widersprüche, in der es auf
unsere Tätigkeit und Fähigkeit zur praktischen Dialektik desto mehr
ankommt?" Das beides zusammenzudenken ist und in der Tat bei Marx und
Engels zusammengedacht wurde, das hätte man als marxistische
Aufklärung zum Thema erwarten dürfen.
Klassen sind eben nicht etwas statisches oder fixiertes. Sie verändern sich
beständig, und es kommt ganz wesentlich auf die einzelnen Menschen an, wie sie
diesen Prozeß interpretieren und wie sie in ihn aktiv intervenieren. Darauf weisen
auch Colin Leys und Leo Panitch, ihres Zeichens Herausgeber des internationalen
Jahrbuches Socialist Register, in ihrem Beitrag zum politischen Vermächtnis des
Manifests hin. Einheit der Klasse, revolutionäres Klassenbewußtsein, das
war schon immer eine explizit politische, um nicht zu sagen voluntaristische, d.h. aktiv
herzustellende Aufgabe. Nicht erst heute, sondern schon im Manifest. Und so ist das
Manifest nicht nur ein Selbstverständigungsdokument einer aufkommenden
sozialen Bewegung, es ist auch das voluntaristische Fanal, dieselbe bewußt zu
konstruieren.
Stichhaltiger ist da schon die an die Substanz gehende Kritik von Frigga Haug,
daß, "sobald wir die Problematik der Geschlechterverhältnisse in den
Blick nehmen, gut erkennen, daß die Vereinheitlichung zu einer Klasse mit
gleichen Bedingungen und Interessen nicht stattfindet, und daß dies
Konsequenzen für die Reproduktion und Stabilisierung kapitalistischer
Produktionsverhältnisse hat. Die Prognosen im Manifest erweisen sich nach
dieser Seite hin als zutiefst illusionär. Und die Weglassung der Problematik der
Geschlechterverhältnisse als grundlegend problematisch für die Analyse
der kapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer Entwicklung."
Daß dies auch politisch von zentraler Bedeutung ist, betont sie zu Recht, denn es
geht dabei schließlich um die Frage der Bündnis- und
Hegemoniefähigkeit. Unklar ist jedoch, ob sie damit eine Aussage wie die von
Michael Löwy, daß die Masse der vom Kapital ausgebeuteten
Lohnabhängigen mittlerweile die Mehrheit der Erdbevölkerung stellt und
"bei weitem die Hauptkraft im Klassenkampf gegen das kapitalistische
Weltsystem und die Achse für den möglichen und notwendigen
Zusammenschluß mit anderen Kämpfen und anderen sozialen
Akteuren" ist, unterstützen kann oder kritisieren muß. Eine
entscheidende Frage, deutet sich doch an diesem Punkt ein möglicher und
strategisch weitreichender Konsens der hier versammelten politischen Linken
an.
Die Frage der politischen Strategie
Die latente Krise des herrschenden Neoliberalismus führt nicht nur zur
Radikalisierung der unter ihm in vielfältigster Form leidenden Menschen. Die
Verschärfung der systemimmanenten Widersprüche erleichtert nicht nur,
daß ökonomische Kämpfe zunehmend politischen Charakter
annehmen. Beides bewirkt auch eine Neuaneignung alter Denktraditionen auf der
Linken.
Höhepunkt dieser Radikalisierung ist der erfrischend mutige Beitrag von Boris
Kagarlitzki, der als essentielle Bedingung effektiver, politischer Praxis vehement ein
undogmatisches Zurück zu den rauhen, einfachen Wahrheiten des klassischen
Marxismus einfordert. Alles andere als altbackenem Dogmatismus verdächtig,
konstatiert er kämpferisch: "Die Gesellschaft bedarf neuer Ideen und
starker Traditionen in gleichem Maße. Der Neoliberalismus vermag es nicht
länger, das eine oder das andere zur Verfügung zu stellen. Die Linke
könnte beides liefern, aber ihr fehlt der Wille, dies auch zu tun. Eine
Rückkehr zum Marxismus bedeutet vor allem, der Klasse wieder eine zentrale
Stellung im politischen Denken der Linken einzuräumen."
Heutige antikapitalistische Politik, so Kagarlitzki, muß vor allem eines sein
muß: defensiver Widerstand gegen die Offensive des Kapitals. Doch die
Defensivität in der politischen Praxis dürfe nicht zur Defensivität in
der theoretischen Praxis führen: "Jeder, der von Reformen träumt,
muß zuerst dafür kämpfen, das Kräfteverhältnis zu
verändern, und das bedeutet, zum Revolutionär und zum Radikalen im
traditionellen Sinne zu werden."
Auch Colin Leys und Leo Panitch gehen davon aus, daß wir in aufregenden
Zeiten leben. Noch herrsche die Reaktion vor, doch zunehmend unsicherer und
schwächer. Noch gebe es keine ausgewiesene politische Alternative, doch
sammele "die Gegenströmung progressiver Vorstellungen und Ideen ihre
Kräfte". Und schließlich: Immer deutlicher sichtbar werden die
Widersprüche des ungezügelten Neoliberalismus "und immer mehr
Menschen erkennen seinen wahren Charakter".
Auf ihrer Suche nach dem politischen Vermächtnis des Kommunistischen
Manifests stoßen sie auf den dort formulierten Grundsatz, daß der erste
Schritt der Revolution die Erkämpfung der Demokratie sei. Sie plädieren
in bester Tradition für eine umfassende Demokratisierung von unten, die die
Imperative von kapitalistischem Markt und bürgerlichem Staat zunehmend in
Frage stellt.
Anders als in der deutschen politischen Theorie vermeiden sie die Fallstricke
linksradikaler Ineinssetzung von Demokratie und Kapitalismus ebenso wie die einer
zivilgesellschaftlichen Apologie des herrschenden Status quo, in der allenfalls graduelle
Demokratisierung bürgerlicher Institutionen vorstellbar ist.
"In der politischen Sphäre mag eine Art von Demokratie vorwalten, aber
in kapitalistischen Gesellschaften verbringen die Menschen die wachen Stunden ihres
Lebens meist mit Tätigkeiten und in Verhältnissen, wo es überhaupt
keine demokratische Rechenschaftspflicht gibt. Das gilt nicht nur für den
Arbeitsplatz, wo sie direkte Kontrolle durch andere zu gewärtigen haben,
sondern in allen Lebensbereichen, die den Geboten des ‚Marktes‘ unterliegen",
schreibt Ellen Meiksins Wood. Deutsche Linke täten gut daran, an diesem Punkt
weiterzudenken.
Christoph Jünke
*Eric Hobsbawm u.a., Das Manifest heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg
(VSA-Verlag) 1998; 304 Seiten, 39,80 DM.