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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 7

Eins, zwei... viele Pässe

- ANGELA KLEIN -

Mein Bekannter ist Niederländer. Er hat eine deutsche Frau und mit ihr eine Tochter, die jetzt 8 Jahre alt ist. Er betreibt ein kleines Gastronomieprojekt in Roermond, hinter der deutsch-niederländischen Grenze. Sie ist Lehrerin in Köln, und weil sie die Seßhaftere von beiden ist, lebt die Tochter hauptsächlich bei ihr. Die kleine Miriam hat zwei Staatsbürgerschaften, die niederländische und die deutsche. Darauf ist sie mächtig stolz, sie findet es toll, in beiden Ländern zu Hause zu sein, und der niederländische Kinderpaß ist ihr ständig ein Ansporn, auch diese Sprache zu lernen, obwohl der Vater fließend deutsch spricht. Identitätsprobleme hat sie keine, und bisher ist auch niemand auf die Idee gekommen, ihr vorzuhalten, sie sei eine "Gefährdung für die Sicherheitslage", wie sich Bayerns Ministerpräsident Stoiber auszudrücken beliebt.
  Dank der Stärke der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt kommt man mit einem deutschen Paß sehr weit. Aber die Nützlichkeit dieses Dokuments sagt nichts über die persönliche Bindung seiner InhaberInnen an die deutsche Staatsbürgerschaft aus. Stoiber soll nicht so tun, als sei die deutsche Vergangenheit vergessen. Im Nationalsozialismus wäre es für viele deutsche Staatsbürger nützlich gewesen, außer ihrem eigenen auch einen portugiesischen oder amerikanischen Paß zu haben.
  Die meisten Menschen in Deutschland haben kein völkisches, sondern ein pragmatisches Verhältnis zu ihrem Paß. Daß ihre Lebenswirklichkeit zerrissen ist, daß ihre Familien in der Türkei, ihr ständiger Wohnort aber in Berlin ist, daran ändert kein Paß etwas.
  Mein türkischer Nachbar findet es aber leichter, mit seinem türkischen Paß nach Hause zu fahren, als mit dem deutschen; er kommt dann als Inländer nach Hause zu seinen Verwandten, als der er sich fühlt, nicht als Ausländer. Mein iranischer Freund dürfte ohne iranischen Paß gar nicht mehr nach Hause. Weil er aber mit einer Deutschen verheiratet ist, die obendrein Ungarin ist, hat er auch einen deutschen Paß. Mit dem kann er sich in Europa frei bewegen, das könnte er mit seinem iranischen Paß nicht. Meine deutsche Freundin hingegen, die die angeheiratete Familie kennenlernen wollte, fand es einfacher, auch noch die iranische Staatsbürgerschaft anzunehmen, statt auf Schritt und Tritt im Iran wie eine Touristin gegängelt zu werden.
  Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie zeigen: Pässe sind, wie der Name schon sagt, Schlüssel zu freier Reisemöglichkeit, nicht Ausweise einer Gesinnung. Die Identität heutiger Menschen hingegen ist mehrfach gebrochen: Kriege, Flucht, Arbeitsmigration, zerstören die lupenreine "völkische Abstammung"; die Zusammenhänge, in denen Menschen aufwachsen, sind längst nicht mehr stabil und überschaubar, die Familien häufig verstreut. Diktaturen und Kriege haben das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, von dem eine Nation lebt und worauf sie sich ursprünglich einmal gründete, zerbrochen. Das gilt in kaum einem Land so sehr wie in Deutschland.
  Und schließlich die Globalisierung: Unternehmer fordern höchstmögliche Bereitschaft der Arbeitskräfte zu pendeln, in vielen Berufen wird heute Mehrsprachigkeit verlangt, Ausbildung und Berufserfahrung im Ausland gelten als karrierefördernd - wie soll da Identität sich ein Leben lang darauf stützen können, in welchem Dorf einer zufällig aufgewachsen ist? Das ist lebensfremd, auch für Bayern. Sie pflegen im Ausland ihre Traditionen nicht stärker als andere Völker.
  Zwei Millionen Menschen in Deutschland haben zwei Pässe; ihre Mitmenschen stört es nicht und ihnen selber erleichtert es das Leben. Wollte man von ihnen, oder auch von den einbürgerungswilligen Türken, Italienern, Spaniern, verlangen, den Paß zurückzugeben, den auch der Onkel, die Großmutter und die Nichte tragen, würde man entweder die Familie auseinanderreißen, oder man würde ihre Integration erschweren, weil sie zu diesen Bedingungen den deutschen Paß nicht wollen. Für eine Politik der Integration ist das kontraproduktiv.
  Aber Stoibers Position (das bestehende deutsche Staatsbürgerrecht) konstruiert auch nicht Integration, sondern Differenz. Er macht Türken zu Türken, die sich längst als Deutsche fühlen; er zwingt Deutsche in ein Deutschtum, das sie hassen, kurzum: er balkanisiert die bundesdeutsche Gesellschaft. Und wie auf dem Balkan zu sehen, wo die deutsche Außenpolitik maßgeblich dazu beigetragen hat, daß Kroaten, Serben und Bosnier entstanden sind, die gar keine sein wollten, ist das Ergebnis nur Haß.
  Angela Klein