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Kommt sie nun, oder kommt sie nicht, die Weltwirtschaftskrise?
Während die deutsche Öffentlichkeit dieser Frage gerne ausweicht, wird sie andernorts immer
wieder mal gestellt, z.B. in Washington: Anfang Dezember legte die Weltbank ihren Jahresbericht vor. Der
kommt zwar nicht gerade als ein Alarmruf daher, versucht vielmehr Optimismus zu verbreiten,
läßt es allerdings auch nicht an Warnungen fehlen.
Insgesamt werden günstige Prognosen in den Vordergrund gestellt, doch die beschränken sich
auf die Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas. Der Rest, v.a. die sog. Entwicklungsländer,
zu denen die Banker inzwischen auch Rußland zählen, wird auf jeden Fall zu den Verlierern
der Krise gehören. Die Abschwächung der Weltkonjunktur wird sich nach Ansicht der
Washingtoner im Zeitraum 1998 bis 2000 v.a. in dieser Ländergruppe schmerzlich bemerkbar
machen. Die implodierende Nachfrage in den sog. "Newly Industrialised Countries" Ost- und
Südostasiens - nicht zuletzt in Japan und Südkorea, das gerade erst den Sprung in die OECD
geschafft hatte - setzt bereits die Rohstoffpreise unter Druck und verbilligt damit die Hauptexportartikel der
armen Länder.
Zusätzliche Probleme entstehen ihren Volkswirtschaften durch den Abfluß scheu gewordenen
Kapitals. Einige Regierungen wie die brasilianische versuchen, das finanzielle Austrocknen durch drastische
Anhebung der Zinsen zu verhindern, drehen damit aber nur der heimischen Wirtschaft den Kredithahn
zu.
Selbst unter den günstigsten Annahmen wird sich also, so der Bericht, das Wachstum 1999 in diesen
Volkswirtschaften kaum erholen. Im Krisenjahr 1998 war es bereits auf 2% zurückgegangen, was
gegenüber dem Vorjahr mehr als eine Halbierung ist - der größte Rückgang in
über 30 Jahren.
Die positiveren Voraussagen für den reichen Norden (bzw. Nordwesten) fußen zum einen auf
dem Verfall der Rohstoffpreise - nicht zuletzt dem des Erdöls -, zum anderen auf der starken
Binnenkonjunktur der USA und der EU. Doch dahinter verbergen sich viele Unwägbarkeiten. Auf
jeden Fall, so Weltbank-Chefökonom Joseph E. Stiglitz, ist die Lage ernst: "Was in der
Erwartung vieler nicht mehr als eine kurze Irritation war, hat sich zu einer erheblichen Bedrohung für
die Stabilität der Weltwirtschaft entwickelt."
Krisenherde Brasilien und Japan
Sorgen machen den Ökonomen v.a. Brasilien und Japan. Die zweitgrößte
Volkswirtschaft der Welt kämpft mit einer Bankenkrise. Fast 1 Billion US-Dollar an ungedeckten
Krediten haben Nippons Geldinstitute angehäuft, seit Anfang der 90er Jahre der Immobilienmarkt
zusammenbrach. Im November letzten Jahres wurde das offenbar, als viele renommierte Institute in
Zahlungsschwierigkeiten kamen.
Inzwischen befindet sich die Wirtschaft in einer ausgewachsenen Rezession, was um so schwerer wiegt, als
daß damit die übrigen asiatischen Krisenländer Absatzprobleme auf ihrem wichtigsten
Exportmarkt bekommen.
Japans Regierung hat derweil ein milliardenschweres "Rettungspaket" geschnürt. U.a.
soll der Einkommensteuer-Höchstsatz von 65 auf 50% und die Unternehmensteuer von 46,36 auf
40% gesenkt werden. Doch ein Aufschwung ist nicht in Sicht. Taichi Sakiya, Chef der japanischen
Planungsbehörde, geht laut South China Morning Post davon aus, daß "Japan auch im
nächsten Jahr kein Wirtschaftswachstum erleben wird". Im laufenden Geschäftsjahr, das
im März zu Ende geht, werde die Ökonomie um mehr als 0,8% schrumpfen.
Nichts deutet bisher auf eine Trendumkehr hin. Auch in Brasilien, dessen Börse durch die Krise in
Rußland unter Druck gekommen ist und das nun mit Kapitalflucht zu kämpfen hat, strickt man
unter Anleitung des Internationalen Währungsfonds (IWF) an einem "Rettungspaket".
Nach alten IWF-Rezepten wurden im August die Zinsen auf 50% heraufgesetzt. Die Kosten, die
inländischen Kreditnehmern dadurch entstanden, werden auf 5 Mrd. US-Dollar pro Monat
geschätzt. Außerdem legte die Regierung ein Sparprogramm auf, das bis 2002 80 Mrd. US-
Dollar einbringen soll; u.a. wollte man die Beiträge der Staatsangestellten zur Rentenversicherung
von 11 auf 20% erhöhen, was allerdings Anfang Dezember im Parlament scheiterte.
Die New Yorker Aktienhändler reagierten prompt nervös und befürchteten neue
Schockwellen für die Börsen rund um den Globus. US-Banken haben in dem Tropenland
immerhin runde 27 Mrd. Dollar an Außenständen und zeigen daher ein besonderes Interesse
daran, daß die Regierung in Brasília die Bedienung der Schulden garantiert.
Aber auch um den Warenabsatz muß man in Nordamerika fürchten, gleitet der Halbkontinent
weiter in die Krise. 40% der US-amerikanischen Exporte werden in Lateinamerika abgesetzt. Nun ist die
Welthandelsmacht nicht so exportabhängig wie die Exportmacht Nummer Zwei, Deutschland. Nur
8,5% des Bruttoinlandsprodukts wurden 1996 im Außenhandel erwirtschaftet, während es
zwischen Rhein und Oder 22% waren. Doch um die Konjunktur ins Stolpern zu bringen, dürfte es
vielleicht schon reichen, und dann könnte sich erweisen, daß der Boom der letzten Jahre auf
Sand gebaut war.
Am 21.11. warnte der Londoner Economist, daß in den USA "der private Verbrauch in den
letzten vier Jahren fast doppelt so schnell wie das Einkommen gewachsen ist". Die
Verbraucherverschuldung habe Rekordwerte erreicht. "Der beste Beweis dafür, daß das
nicht auf Dauer so weiter gehen kann, ist, daß im September das Vermögen privater Haushalte
zum ersten Mal seit 60 Jahren negativ war."
Krisenherd USA
Einen ersten Dämpfer könnte die boomende Nachfrage bekommen, wenn sich das
"amerikanische Jobwunder" seinem Ende zuneigen sollte. Noch ist die offizielle
Arbeitslosenrate mit unter 5% niedrig. Doch am 18.11. meldete das Wall Street Journal, daß im
Oktober ca. 92.000 Beschäftigte aufgrund von Fusionen und Exportrückgang ihren Job
verloren haben. Das, so das Blatt, war ein 33-Monate-Hoch.
Auch viele Unternehmen haben sich, berichtet der Economist in Erwartung weiter steigenden Absatzes zur
Finanzierung von Investitionen stark verschuldet. Die US-Notenbank hatte bereits Anfang Juli
amerikanische Geldinstitute gewarnt, vorsichtiger mit der Kreditvergabe zu sein, da sich die Kojunktur
abkühle.
Das war vor dem Crash in Rußland und Brasilien. Inzwischen zieht die Krise weitere Kreise, und in
den USA beginnt man zu fürchten, daß die riesigen Summen, die japanische Privatleute und
Unternehmen in US-Staatsanleihen gesteckt haben, ihren Weg zurück nach Japan suchen, denn dort
treibt die Enge auf dem Kreditmarkt tendenziell die Zinsen nach oben. Der US-Wirtschaft könnte das
einen zusätzlichen Stoß versetzen.
Eine weitere dunkle Wolke zieht am Horizont der Profiterwartungen auf. Business Week berichtet in seiner
Ausgabe vom 23.11., daß die Gewinne der 900 führenden amerikanischen Unternehmen im
dritten Quartal gegenüber dem Vorjahr um 4% zurückgegangen sind. Deutschland und den
anderen EU-Staaten sagt man für gewöhnlich Resistenz gegen den asiatischen Virus nach - der
in Wirklichkeit eher nach einer der ganz normalen zyklischen Krisen des Kapitalismus aussieht als nach
einer exotischen Grippe. Nur 3% des Bruttosozialprodukts der Gemeinschaft werden im Handel mit Asien
erwirtschaftet. 11% der deutschen Exporte gehen in die Region, aber darunter ist auch der Handel mit
China, der nach wie vor kräftig expandiert.
Dennoch ziehen auch am deutschen Konjunkturhimmel bereits die ersten Wolken auf: Der Export geht
inzwischen zurück, nachdem er im ersten Halbjahr 1998 noch um über 10% gegenüber
dem Vorjahr zugelegt hatte. Beim Deutschen Industrie- und Handelstag macht man schon einmal
vorsorglich die neue Bundesregierung für die erwartete Flaute verantwortlich, doch die realistischere
Annahme dürfte die sein, daß die Ansteckung den Weg über die USA finden
wird.
Die spielt für die europäische Wirtschaft eine wesentlich größere Rolle als Asien.
Bricht erst einmal die amerikanische Verbrauchernachfrage zusammen, wird man es auch in deutschen
Werkhallen zu spüren bekommen.
D.h. zu spüren werden es Arbeitende und Arbeitslose bekommen. Denn eins ist sicher: Diejenigen,
die hierzulande mit bedenkenloser Kreditvergabe die Spekulationsblase in Thailand aufgeblasen haben, die
seelenruhig zusahen, wie sich südkoreanische Privatunternehmen bis über die Ohren
verschuldeten, werden die Krisenfolgen nicht zu tragen haben.
Mitte 1997 hatten deutsche Banken in Indonesien, Malaysia, Südkorea und Thailand 29,6 Mrd. US-
Dollar an Krediten offen. In Rußland sind deutsche Banken mit ca. 30 Mrd. US-Dollar die mit
Abstand größten Gläubiger. Doch diese Schulden werden bezahlt. Dafür sorgen
die Kredite des IWF, der die Regierungen zwingt, die privaten Verbindlichkeiten zu sozialisieren. Der Preis:
zerrüttete Staatsfinanzen, Streichungen bei Bildung und Sozialem, massenweise Bankrotte kleinerer
Unternehmen wegen Kapitalmangel und hoher Zinsen, Massenarbeitslosigkeit.
Neuer "New Deal"?
Bemerkenswert am Weltbankbericht ist, daß er die IWF-Programme wegen eben dieser Folgen
kritisiert. Die Maßnahmen seien kontraproduktiv gewesen. Die vom Fonds vorgeschlagene Politik der
hohen Zinsen und geringen Staatsausgaben habe in Zeiten einbrechender privater Investitionen
krisenverschärfend gewirkt und hätte es noch weiter, wären einige Länder nicht
wie Malaysia bald mit großen öffentlichen Investitionsprogrammen vom neoliberalen Dogma
abgewichen. Inzwischen seien die Zinsen wieder nahezu auf dem Vorkrisenniveau, doch die
Liquiditätskrise hält an.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, daß im vergangenen Jahr in Indonesien
die Wirtschaft um 15% geschrumpft ist. In Thailand betrug der Rückgang demnach 6,5%, in
Südkorea 5% und in Malaysia und Hongkong 3-4%. Die ILO-Studie hält es für
unrealistisch, daß die Region kurzfristig wieder zur Vollbeschäftigung zurückkehren
wird.
Die Antwort der Weltbank darauf ist eine Abkehr von der Austeritätspolitik. Soziale Sicherungsnetze
müssen her, forderte WB-Präsident Wolfensohn bereits auf einer Sitzung des Instituts im
Oktober. In dramatischen Bildern beschrieb er die Lage der Armen und forderte "Schutz für die
unschuldigen Opfer". Die ILO spricht von einem "New Deal". Wie in der großen
Depression der 30er Jahre müsse die asiatische Krise zu einem neuen Gesellschaftsvertrag und einem
neuen Entwicklungsmodell führen, die die Betonung mehr auf das Soziale und auf Arbeiterrechte
legen.
Die Welt braucht, so Wolfensohn, "eine neue, partnerschaftliche Herangehensweise", die
geführt von den Regierungen und Parlamenten der betroffenen Länder die Zivilgesellschaft mit
einbindet. Entwicklung könne nicht stabil sein, wenn sie Arme, Frauen und indigene Minderheiten
ausgrenze.
Der jüngste Bericht fordert gar, daß "ein substantieller Anteil der Umstrukturierung von
jenen getragen wird, die am meisten profitiert haben, z.B. den Anteilseignern von Banken und den
Managern". Doch daß das bestenfalls indonesische oder südkoreanische
Geschäftsleute meinen wird, dafür werden schon die realen Machtverhältnisse sorgen.
Natürlich stellt der Weltbankchef nicht den Kapitalismus in Frage. Nicht einmal die Liberalisierung
des Welthandels kritisiert er. Einzig den kurzfristigen Kapitalverkehr will der IWF-Kritiker
beschränkt sehen und ein bißchen mehr Kontrolle in den Gläubiger-Staaten bei der
Vergabe von Krediten.
In diesem Licht gesehen übersetzt sich die Forderung nach einer Einbindung der Zivilgesellschaft in
eine neue Variante eines alten Modells: Sozialpartnerschaft. Die Spitzen von Gewerkschaften und
Basisorganisationen sollen eingebunden werden, den Armen soll ein bißchen gegeben werden, damit
sie nicht verhungern oder genauer: damit der Hunger sie nicht zu Verzweiflungstaten treibt.
Bei all dem, so der Bericht, muß die Öffnung weitergehen. Vor allem im Falle der
Direktinvestitionen würden die Vorteile überwiegen. Fragt sich nur, für wen: In
Südkorea führten z.B. Verfall der Aktienkurse, Kapital-Knappheit und vom IWF erzwungene
Öffnung der Börse für Ausländer dazu, daß sich Commerzbank, BASF und
FAG Kugelfischer in nur einem halben Jahr mit insgesamt 2 Mrd. DM einkaufen konnten. Dabei haben sie
sich, wie der Direktor der Deutsch-Koreanischen Industrie- und Handelskammer betont, die Filet-
Stücke herausgeschnitten. Der Knochen bleibt für die Koreaner.
Diese Momentaufnahme gibt auch einen Hinweis darauf, wie die Krisengewinnler heißen werden. Ob
Europa nun mit in den Strudel gerissen wird oder nicht: auf jeden Fall werden wir in den nächsten
Jahren eine neue Runde in der Neuaufteilung des Planeten und seiner Märkte erleben, sicherlich auch
in den Klassenkämpfen.
Das scheint auch einem Francis Fukuyama zu dämmern, der als politischer Berater George Bushs
einst das Wort vom "Ende der Geschichte" geprägt hatte. "Die letzten Monate sind
die ersten seit dem Beginn des Jahrzehnts, in denen ich spürte, daß ich falsch gelegen haben
könnte", gestand er vor kurzem der "New York Times".
Wolfgang Pomrehn