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Ob die europäische Sozialdemokratie die neoliberale Politik mit
anderen Mitteln fortsetzt, oder ob ihre Regierungspolitik sich von der konservativen durch
Rückgriffe auf den Keynesianismus und eine nachfrageorientierte Politik wesentlich
unterscheidet, ist derzeit unter Linken umstritten. Von der Beantwortung dieser Frage hängt nicht
selten ab, wie die Betreffenden ihr Verhältnis zu einer der elf (von fünfzehn)
sozialdemokratisch geführten Regierungen in der EU definieren. Verschärfend kommt
hinzu, daß dieselben Regierungen manchmal mit ganz unterschiedlicher Zunge sprechen (so
stieß Lafontaines Vorschlag für eine EU-weite Steuerharmonisierung auf heftigen
Widerstand von Blair). Über den Charakter der Sozialdemokratie kann also erneut trefflich
gestritten werden.
Die SoZ interviewte DANIEL BENSAID, der über die Politik der europäischen
sozialdemokratischen Parteien Beiträge in "Le Monde Diplomatique" und im
"Figaro" veröffentlicht hat.
Wie kommt es, daß die repräsentativste Zeitung des französischen
Bürgertums den Beitrag eines bekannten revolutionär-marxistischen Intellektuellen
veröffentlicht?
Daniel Bensaïd: Man sollte das nicht überbewerten, da haben sicher auch Zufälle eine
Rolle gespielt. Auch "Le Monde" läßt sonst radikale Linke eher zu Fragen der
Dritten Welt oder mit abstrakteren Analysen zu Wort kommen. Der "Figaro" wollte nach
dem Wahlsieg von SPD und Grünen in Deutschland eine Serie verschiedener Stellungnahmen
veröffentlichen. Und linke Intellektuelle mit eigenständigen Positionen gibt es in
Frankreich nur noch eine Handvoll.
Worin siehst du das Neue in der jetzt entstandenen Situation?
Nach den Bundestagswahlen in Deutschland regiert die Sozialdemokratie in 13 von 15 EU-
Ländern. Präsident der Europäischen Zentralbank ist Wim Duisenberg, ein
Sozialdemokrat. Somit ist die "neue" Sozialdemokratie jetzt in der Verantwortung. Wenn
sie nichts gegen die Massenerwerbslosigkeit ausrichtet, wird sie sich kaum herausreden können.
Nach jahrelanger Übernahme wirtschaftsliberaler Positionen, so das Gerücht, gibt es
nunmehr eine Rückkehr zu klassischeren Formen des Reformismus. Doch das ist eine
Täuschung.
Die neoliberalen Dogmen haben an Glaubwürdigkeit verloren. An die 40 Prozent der
Weltwirtschaft sind bereits in der Rezession. Die Frage ist nicht mehr, ob die Krise auch Europa
erreichen wird, sondern nur noch, in welchem Maße. Und auch, ob die Interventionen des
Internationalen Währungsfonds (IWF) verhindern können, daß eine dauerhafte
Depression daraus wird.
Giorgio Fossa, der Präsident des italienischen Unternehmerverbands, erklärt, die
Verbesserung der Beschäftigungssituation hänge "vom Gebrauch mehrerer Hebel ab:
der Leitzinsen, der Steuern, der Arbeitskosten und der Flexibilisierung". Im Klartext: Für
die Kapitalseite bleibt die Priorität die Wettbewerbsfähigkeit, die Senkung der
Arbeitskosten, die Senkung der Steuern, möglichst schrankenlose Flexibilisierung und
Umwidmung von Teilen der Lohnmasse in Rentenfonds.
Die Weltbank appelliert an die Regierungen, die Sparpolitik noch zu verstärken. Der
französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn hat sich in London für weitere
"notwendige Korrekturen bei den öffentlichen Finanzen" ausgesprochen. Und
Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung eine Senkung der Steuern und der
öffentlichen Ausgaben in Aussicht gestellt. Die europäischen Börsen zeigen sich seit
einiger Zeit nicht mehr besorgt, wenn "Mitte-Links"-Regierungen ans Ruder kommen. Sie
reagieren eher positiv auf sozialdemokratische Wahlsiege.
Macht es Sinn, von einer neuen sozialdemokratischen Politik zu sprechen?
Die Logik des Profits verlangt eine Drosselung der öffentlichen Investitionen, ständigen
Druck auf die Löhne, die Beseitigung immer weiterer "Investitionshemmnisse".
Daraus ergibt sich ein Schrumpfen der Binnennachfrage in einer Zeit, in der die Zukunft der
Exportgewinne sehr ungewiß ist. Dazwischen gibt es nur wenig Spielraum. So dürfte es in
den nächsten Jahren kaum einen bedeutenden Rückgang der Erwerbslosigkeit und der
sozialen Ausgrenzung geben.
Es bringt wenig, über die neuen Gewänder der Sozialdemokratie zu spekulieren. Eine
Bilanz ihrer neoliberalen Mauser der 80er Jahre ist aber fällig.
Die offizielle "blairistische" Ideologie will als "dritter Weg" zwischen
schrankenlosem Marktliberalismus und etatistischem Reformismus verstanden werden. Sie proklamiert
den Abschied vom Wohlfahrtsstaat, vom öffentlichen Eigentum, vom Lohnverhältnis auf
der Grundlage kollektiver Tarifverträge, von der Anpassung der Löhne an die
Produktivitätssteigerungen, von sozialen Sicherungssystemen, die auf Solidarität und
Umverteilung beruhen. Die "neue Mitte" Gerhard Schröders ist nur eine deutsche
Variante dieses Programms.
Die Sozialdemokratie hat sich auch in sozialer Hinsicht gewandelt. Ihre Bindungen an soziale
Bewegungen und Gewerkschaften sind schwächer geworden. Im umgekehrten Verhältnis
dazu haben die Beziehungen zur Geschäftswelt und zu den Spitzen der Verwaltung an Gewicht
gewonnen. Mit der "Reform" der sozialen Sicherungssysteme hat Tony Blair eine
ehemalige Spitzenkraft der Investmentbank Barclays beauftragt und eine ehemalige
Führungsfigur der Versicherungsgruppe Prudential mit der "Reform" des
Wohlfahrtsstaats!
Die Sozialdemokratie ist von der Übernahme neoliberaler Positionen zu deren Umsetzung in
Regierungspolitik übergegangen. Seit zwei Jahren haben die Regierungen Prodi, Blair, Jospin
den Vertrag Maastricht II unterschrieben, dem Stabilitätspakt zugestimmt und die
Unabhängigkeit der Zentralbanken von gewählten politischen Gremien vorangetrieben. Sie
haben alles dafür getan, ihre Länder in den Rahmen der EU-Konvergenzkriterien zu
zwängen.
Wir sind also keineswegs Zeugen einer spektakulären Wende. Es ist höchstens die Rede
von Leitzinssenkungen und eventuellen europäischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die
durch öffentliche Anleihen finanziert würden.
Dabei haben die jüngeren ökonomischen Forschungen, insbesondere der
Regulationsschule, unterstrichen, daß die sog. keynesianische Politik nicht auf
Finanzmanipulationen beschränkt war. Sie enthielt einen gewissen Ausgleich von
Akkumulationsrate und Lohnzuwachs, Angleichungen der Löhne an den
Produktivitätszuwachs, Annäherung an Vollbeschäftigung als ständiges Ziel,
Ausbau sozialer Sicherung, öffentliche Dienste, die den Marktgesetzen teilweise entzogen waren,
und eine Industriepolitik, die sich auch auf einen staatlichen Sektor stützte. Diese Werkzeuge
werden systematisch zerstört.
Argumentierst du denn für eine Rückkehr zu Keynes?
So stellt sich die Frage für mich nicht. Eine wirkliche Kehrtwende wäre nötig: Eine
drastische Umverteilung zugunsten der abhängig Beschäftigten auf Kosten der
Kapitalprofite, kräftige Erhöhungen der sozialen Zuwendungen und der Löhne, ein
Verbot von Massenentlassungen und Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen und mit
proportionalen Neueinstellungen, eine Politik öffentlicher Beschäftigungsprogramme bei
gleichzeitiger Reform der öffentlichen Dienste im Sinne ihrer demokratischen Wiederaneignung
von unten, eine Besteuerung der spekulativen Kapitalströme und des internationalen
Handels.
Ein solche Politik würde auf den entschiedenen Widerstand des Kapitals, auf Investitionsstreiks
und Kapitalflucht stoßen. Dem "Recht" des Privateigentums stehen die sozialen
Menschenrechte antagonistisch gegenüber, die Rechte der Ausgebeuteten und
Unterdrückten. Zwischen beidem kann nur das gesellschaftliche Kräfteverhältnis
entscheiden.
Ein erster Schritt wäre der Bruch mit den unsozialen Maastricht-Kriterien. Die
sozialdemokratisch geführten Regierungen hätten die institutionellen Möglichkeiten,
Neuverhandlungen durchzusetzen. Sie wollen es nicht.
Die klassischen Parteien des Bürgertums sind in der Krise (italienische und deutsche
Christdemokraten, französische Rechte, britische Konservative). So ist die Sozialdemokratie zum
wirksamsten Instrument des werdenden europäischen Imperialismus geworden. Der "dritte
Weg" der rosa Linken erscheint weniger als neues Gewand denn als Lumpenkleid eines angeblich
"sozialen" Liberalismus.
Die Linksregierung in Frankreich, behauptet Dominique Strauss-Kahn, treibe eine "realistische
und linke Politik". "Aber um sich davon zu überzeugen", fügt er hinzu,
"muß man auf die üblichen Maßstäbe verzichten." Allerdings; und
darum wäre wesentlich mehr nötig, um uns davon zu überzeugen.
Daniel Bensaïd ist Dozent der an der Philosophischen Fakultät der Universität von
St.Denis (Paris) und Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) - in SoZ 13/98 erschien
seine Auseinandersetzung mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus" als
Beilage.