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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite

Europas Sozialdemokratie

im neuen Gewand?

Ob die europäische Sozialdemokratie die neoliberale Politik mit anderen Mitteln fortsetzt, oder ob ihre Regierungspolitik sich von der konservativen durch Rückgriffe auf den Keynesianismus und eine nachfrageorientierte Politik wesentlich unterscheidet, ist derzeit unter Linken umstritten. Von der Beantwortung dieser Frage hängt nicht selten ab, wie die Betreffenden ihr Verhältnis zu einer der elf (von fünfzehn) sozialdemokratisch geführten Regierungen in der EU definieren. Verschärfend kommt hinzu, daß dieselben Regierungen manchmal mit ganz unterschiedlicher Zunge sprechen (so stieß Lafontaines Vorschlag für eine EU-weite Steuerharmonisierung auf heftigen Widerstand von Blair). Über den Charakter der Sozialdemokratie kann also erneut trefflich gestritten werden.
  Die SoZ interviewte DANIEL BENSAID, der über die Politik der europäischen sozialdemokratischen Parteien Beiträge in "Le Monde Diplomatique" und im "Figaro" veröffentlicht hat.
 
  Wie kommt es, daß die repräsentativste Zeitung des französischen Bürgertums den Beitrag eines bekannten revolutionär-marxistischen Intellektuellen veröffentlicht?
 
  Daniel Bensaïd: Man sollte das nicht überbewerten, da haben sicher auch Zufälle eine Rolle gespielt. Auch "Le Monde" läßt sonst radikale Linke eher zu Fragen der Dritten Welt oder mit abstrakteren Analysen zu Wort kommen. Der "Figaro" wollte nach dem Wahlsieg von SPD und Grünen in Deutschland eine Serie verschiedener Stellungnahmen veröffentlichen. Und linke Intellektuelle mit eigenständigen Positionen gibt es in Frankreich nur noch eine Handvoll.
 
  Worin siehst du das Neue in der jetzt entstandenen Situation?
 
  Nach den Bundestagswahlen in Deutschland regiert die Sozialdemokratie in 13 von 15 EU- Ländern. Präsident der Europäischen Zentralbank ist Wim Duisenberg, ein Sozialdemokrat. Somit ist die "neue" Sozialdemokratie jetzt in der Verantwortung. Wenn sie nichts gegen die Massenerwerbslosigkeit ausrichtet, wird sie sich kaum herausreden können. Nach jahrelanger Übernahme wirtschaftsliberaler Positionen, so das Gerücht, gibt es nunmehr eine Rückkehr zu klassischeren Formen des Reformismus. Doch das ist eine Täuschung.
  Die neoliberalen Dogmen haben an Glaubwürdigkeit verloren. An die 40 Prozent der Weltwirtschaft sind bereits in der Rezession. Die Frage ist nicht mehr, ob die Krise auch Europa erreichen wird, sondern nur noch, in welchem Maße. Und auch, ob die Interventionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) verhindern können, daß eine dauerhafte Depression daraus wird.
  Giorgio Fossa, der Präsident des italienischen Unternehmerverbands, erklärt, die Verbesserung der Beschäftigungssituation hänge "vom Gebrauch mehrerer Hebel ab: der Leitzinsen, der Steuern, der Arbeitskosten und der Flexibilisierung". Im Klartext: Für die Kapitalseite bleibt die Priorität die Wettbewerbsfähigkeit, die Senkung der Arbeitskosten, die Senkung der Steuern, möglichst schrankenlose Flexibilisierung und Umwidmung von Teilen der Lohnmasse in Rentenfonds.
  Die Weltbank appelliert an die Regierungen, die Sparpolitik noch zu verstärken. Der französische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn hat sich in London für weitere "notwendige Korrekturen bei den öffentlichen Finanzen" ausgesprochen. Und Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung eine Senkung der Steuern und der öffentlichen Ausgaben in Aussicht gestellt. Die europäischen Börsen zeigen sich seit einiger Zeit nicht mehr besorgt, wenn "Mitte-Links"-Regierungen ans Ruder kommen. Sie reagieren eher positiv auf sozialdemokratische Wahlsiege.
 
  Macht es Sinn, von einer neuen sozialdemokratischen Politik zu sprechen?
 
  Die Logik des Profits verlangt eine Drosselung der öffentlichen Investitionen, ständigen Druck auf die Löhne, die Beseitigung immer weiterer "Investitionshemmnisse". Daraus ergibt sich ein Schrumpfen der Binnennachfrage in einer Zeit, in der die Zukunft der Exportgewinne sehr ungewiß ist. Dazwischen gibt es nur wenig Spielraum. So dürfte es in den nächsten Jahren kaum einen bedeutenden Rückgang der Erwerbslosigkeit und der sozialen Ausgrenzung geben.
  Es bringt wenig, über die neuen Gewänder der Sozialdemokratie zu spekulieren. Eine Bilanz ihrer neoliberalen Mauser der 80er Jahre ist aber fällig.
  Die offizielle "blairistische" Ideologie will als "dritter Weg" zwischen schrankenlosem Marktliberalismus und etatistischem Reformismus verstanden werden. Sie proklamiert den Abschied vom Wohlfahrtsstaat, vom öffentlichen Eigentum, vom Lohnverhältnis auf der Grundlage kollektiver Tarifverträge, von der Anpassung der Löhne an die Produktivitätssteigerungen, von sozialen Sicherungssystemen, die auf Solidarität und Umverteilung beruhen. Die "neue Mitte" Gerhard Schröders ist nur eine deutsche Variante dieses Programms.
  Die Sozialdemokratie hat sich auch in sozialer Hinsicht gewandelt. Ihre Bindungen an soziale Bewegungen und Gewerkschaften sind schwächer geworden. Im umgekehrten Verhältnis dazu haben die Beziehungen zur Geschäftswelt und zu den Spitzen der Verwaltung an Gewicht gewonnen. Mit der "Reform" der sozialen Sicherungssysteme hat Tony Blair eine ehemalige Spitzenkraft der Investmentbank Barclays beauftragt und eine ehemalige Führungsfigur der Versicherungsgruppe Prudential mit der "Reform" des Wohlfahrtsstaats!
  Die Sozialdemokratie ist von der Übernahme neoliberaler Positionen zu deren Umsetzung in Regierungspolitik übergegangen. Seit zwei Jahren haben die Regierungen Prodi, Blair, Jospin den Vertrag Maastricht II unterschrieben, dem Stabilitätspakt zugestimmt und die Unabhängigkeit der Zentralbanken von gewählten politischen Gremien vorangetrieben. Sie haben alles dafür getan, ihre Länder in den Rahmen der EU-Konvergenzkriterien zu zwängen.
  Wir sind also keineswegs Zeugen einer spektakulären Wende. Es ist höchstens die Rede von Leitzinssenkungen und eventuellen europäischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die durch öffentliche Anleihen finanziert würden.
  Dabei haben die jüngeren ökonomischen Forschungen, insbesondere der Regulationsschule, unterstrichen, daß die sog. keynesianische Politik nicht auf Finanzmanipulationen beschränkt war. Sie enthielt einen gewissen Ausgleich von Akkumulationsrate und Lohnzuwachs, Angleichungen der Löhne an den Produktivitätszuwachs, Annäherung an Vollbeschäftigung als ständiges Ziel, Ausbau sozialer Sicherung, öffentliche Dienste, die den Marktgesetzen teilweise entzogen waren, und eine Industriepolitik, die sich auch auf einen staatlichen Sektor stützte. Diese Werkzeuge werden systematisch zerstört.
 
  Argumentierst du denn für eine Rückkehr zu Keynes?
 
  So stellt sich die Frage für mich nicht. Eine wirkliche Kehrtwende wäre nötig: Eine drastische Umverteilung zugunsten der abhängig Beschäftigten auf Kosten der Kapitalprofite, kräftige Erhöhungen der sozialen Zuwendungen und der Löhne, ein Verbot von Massenentlassungen und Arbeitszeitverkürzung ohne Lohneinbußen und mit proportionalen Neueinstellungen, eine Politik öffentlicher Beschäftigungsprogramme bei gleichzeitiger Reform der öffentlichen Dienste im Sinne ihrer demokratischen Wiederaneignung von unten, eine Besteuerung der spekulativen Kapitalströme und des internationalen Handels.
  Ein solche Politik würde auf den entschiedenen Widerstand des Kapitals, auf Investitionsstreiks und Kapitalflucht stoßen. Dem "Recht" des Privateigentums stehen die sozialen Menschenrechte antagonistisch gegenüber, die Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Zwischen beidem kann nur das gesellschaftliche Kräfteverhältnis entscheiden.
  Ein erster Schritt wäre der Bruch mit den unsozialen Maastricht-Kriterien. Die sozialdemokratisch geführten Regierungen hätten die institutionellen Möglichkeiten, Neuverhandlungen durchzusetzen. Sie wollen es nicht.
  Die klassischen Parteien des Bürgertums sind in der Krise (italienische und deutsche Christdemokraten, französische Rechte, britische Konservative). So ist die Sozialdemokratie zum wirksamsten Instrument des werdenden europäischen Imperialismus geworden. Der "dritte Weg" der rosa Linken erscheint weniger als neues Gewand denn als Lumpenkleid eines angeblich "sozialen" Liberalismus.
  Die Linksregierung in Frankreich, behauptet Dominique Strauss-Kahn, treibe eine "realistische und linke Politik". "Aber um sich davon zu überzeugen", fügt er hinzu, "muß man auf die üblichen Maßstäbe verzichten." Allerdings; und darum wäre wesentlich mehr nötig, um uns davon zu überzeugen.
 
  Daniel Bensaïd ist Dozent der an der Philosophischen Fakultät der Universität von St.Denis (Paris) und Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) - in SoZ 13/98 erschien seine Auseinandersetzung mit dem "Schwarzbuch des Kommunismus" als Beilage.