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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 15

Nachruf auf Sebastian Haffner

Autor des "Verrats"

Am 2.Januar starb Sebastian Haffner 91jährig. Er war Jurist von Ausbildung, Publizist von Beruf. 1938 war er als Raimund Pretzel nach England emigriert. Seine Lebensgefährtin Erika Hirsch war von den Nazis als "Volljüdin" eingestuft worden. In England nahm er den Namen Sebastian Haffner an. Dort schrieb er 1940 ein Buch, das die Widersprüche des deutschen Nationalcharakters verständlich machen sollte: Germany - Jekyll & Hyde - Deutschland von innen betrachtet. Er arbeitete für den Observer. 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, und zwar bewußt in die "Frontstadt", nach Westberlin.
  Politisch dachte er durchaus konservativ, schrieb für Zeitungen des Springerverlags wie die Welt, argumentierte für Härte im Kalten Krieg, gar für die Atombewaffnung der BRD. Die Spiegel-Affäre 1962 - die Verhaftung Rudolf Augsteins, der Versuch, kritischen Journalismus wegen Enthüllungen zur Regierungspolitik zu kriminialisieren - war für ihn eine traumatische Erfahrung. Er verließ die Springer-Zeitungen wegen ihrer "staatstragenden" Haltung zur Spiegel-Affäre und wurde von der Gesinnung her Linksliberaler, beachteter Kolumnist im Stern, früher Verfechter der späteren "neuen Ostpolitik" von Willy Brandt und der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, schrieb auch Beiträge für die Zeitschrift Konkret.
  Das Neue Deutschland nannte ihn in einem Nachruf einen "bürgerlichen Querdenker". Als solcher schrieb er eine Reihe von popularisierenden zeitgeschichtlichen Werken, darunter eine Churchill-Biografie, vor allem aber immer wieder Bücher zur preußischen und zur deutschen Geschichte. Er bemühte sich, gängige rechtslastige Vorurteile und Legenden zu entkräften, die Verherrlichung der kaiserlichen Hohenzollern oder der Reichseinigung von oben durch Bismarck, die Dolchstoßlegende oder Präventivkriegsthesen.
  Ohne immer fachhistorischen Ansprüchen zu genügen, hat Sebastian Haffner die bestechende Begabung gehabt, wesentliche Zusammenhänge in einfachen Strichen und verständlicher Sprache deutlich zu machen. Seine "Anmerkungen zu Hitler" (1978) sollten gegen das Vergessen und Verdrängen der Verbrechen des braunen Reichs bei den Älteren und gegen das Nichtwissen der Jüngeren gerichtet sein.
  Auf dem Sterbebett soll Sebastian Haffner gezweifelt haben, ob sein Leben und Streben überhaupt einen Sinn gehabt hatte. Für die sozialistische Linke kann es solche Zweifel nicht geben; sie bleibt in seiner Schuld, auch wenn er nur dieses einzige Werk geschrieben hätte: Der Verrat. 1918/19 - als Deutschland wurde, wie es ist. Es erschien zuerst 1968 als Stern-Serie unter dem Titel "Der große Verrat", dann 1969 erstmals als Buch: Die verratene Revolution - Deutschland 1918/19. Seither ist es unter verschiedenen Titeln immer wieder neu aufgelegt worden. Es verdient die Aufmerksamkeit wiederzuerlangen, die es in den späten 60er Jahren erregt hatte.
  Die "Verrats"-These ist keineswegs eine linke Legende. Sebastian Haffner geht mit diesem Begriff durchaus sorgfältig um. Zum Beispiel lag die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten seit August 1914 für ihn durchaus "in der Logik" der Entwicklung und der Politik dieser Partei, obwohl sie in eklatantem Widerspruch zu ihrer Programmatik und zu allen flammenden Appellen und Proklamationen der sozialdemokratischen II.Internationale stand:
  "Die Partei hatte ein richtiges Gefühl dafür, daß der Krieg die Rechnung für ein Vierteljahrhundert imperialistischer Außenpolitik präsentierte und daß von den Früchten dieser Außenpolitik auch der deutsche Arbeiter und die deutsche Sozialdemokratie mitgenossen hatten. Insofern war es ein Fall von ‚mitgegangen, mitgehangen'. Vor allem aber: Wenn sie mit dem Parlament und durch das Parlament in die Staatsmacht hineinwachsen wollte, dann war der Krieg ihre Chance. Sie wurde jetzt zum ersten Mal gebraucht. Die Partei, die das Vertrauen der Massen besaß, konnte in einem Krieg der Massen nicht mehr übergangen werden. Mit ihrem ‚Ja' zum Krieg glaubte die SPD die Schwelle zur Macht zu betreten."
  Überzeugend beschreibt Sebastian Haffner den Seelenzustand von Männern, die zwar für die wirklichen Herren linker Abschaum bleiben, aber aus Opportunitätsgründen doch eine Rolle zugewiesen bekommen haben: "Sie waren jetzt salonfähig geworden, sie gingen in den Ämtern aus und ein, und selbst im Großen Hauptquartier wurden sie gelegentlich empfangen und höflich angehört. Es war eine ungewohnte Erfahrung für sie, und sie konnten nicht umhin, bei dieser neuen Höflichkeit und Leutseligkeit der Mächtigen ein gewisses weiches und warmes Gefühl zu verspüren." Das war das Führungspersonal der Partei, die sich 1918/19 widerwillig an die Spitze der Revolution stellte, um der Gegenrevolution willig zum Sieg zu verhelfen.
  Sebastian Haffner zeigt, wie die SPD-Führung unter Friedrich Ebert immer wieder lügt und betrügt, um Staat und überkommene Ordnung vor den revoltierenden Massen zu retten. Dazu gehört auch die heimliche Konspiration mit dem Generalstab und die aktive Beteiligung an der Rekrutierung und am gezielten Einsatz der pränazistischen Freikorps, die bewußte Entfesselung eines blutigen Bürgerkriegs, der Tausende das Leben kostete - und die politische und sehr wahrscheinlich auch operative Mitverantwortung für die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Ebert mußte "Verräter" an der Revolution werden und mit den Vertretern der äußersten Reaktion zusammenarbeiten, schreibt Sebatian Haffner, um sein "Ziel" zu erreichen: "die Rettung des bestehenden Staats und der bestehenden Gesellschaft".
  Diese Politik hat letztlich die Grundlagen für die spätere Machtergreifung der Nazis gelegt, und die Erwürgung der Revolution durch Verrat bestimmt bis heute "wie Deutschland ist": "Mitte 1919 war der deutschen Revolution das Genick gebrochen. Die SPD regierte jetzt einen bürgerlichen Staat, hinter dem als wirklicher Machtträger die von ihr herbeigerufene Gegenrevolution stand. Äußerlich war die Stellung der SPD glänzend wie nie zuvor - und wie nie nachher. Im Reich, in Preußen, in Bayern besetzte sie alle Spitzenpositionen. Aber ihre Macht war hohl. In dem bürgerlichen Staat, den sie wiederhergestellt hatte, blieb sie ein Fremdkörper. Für die gegenrevolutionären Freikorps, mit deren Hilfe sie ihn wiederhergestellt hatte, blieb sie ein Feind. Und ihre eigene Machtgrundlage hatte diese Arbeiterpartei zerstört, als sie die Revolution der Arbeitermassen niedergeschlagen hatte."
  Das Buch endet mit dem Fazit: "Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen. Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute."
  Bruno Becker