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Am 2.Januar starb Sebastian Haffner 91jährig. Er war Jurist von
Ausbildung, Publizist von Beruf. 1938 war er als Raimund Pretzel nach England emigriert. Seine
Lebensgefährtin Erika Hirsch war von den Nazis als "Volljüdin" eingestuft
worden. In England nahm er den Namen Sebastian Haffner an. Dort schrieb er 1940 ein Buch, das die
Widersprüche des deutschen Nationalcharakters verständlich machen sollte: Germany - Jekyll
& Hyde - Deutschland von innen betrachtet. Er arbeitete für den Observer. 1954 kehrte er nach
Deutschland zurück, und zwar bewußt in die "Frontstadt", nach
Westberlin.
Politisch dachte er durchaus konservativ, schrieb für Zeitungen des Springerverlags wie die Welt,
argumentierte für Härte im Kalten Krieg, gar für die Atombewaffnung der BRD. Die
Spiegel-Affäre 1962 - die Verhaftung Rudolf Augsteins, der Versuch, kritischen Journalismus wegen
Enthüllungen zur Regierungspolitik zu kriminialisieren - war für ihn eine traumatische
Erfahrung. Er verließ die Springer-Zeitungen wegen ihrer "staatstragenden" Haltung zur
Spiegel-Affäre und wurde von der Gesinnung her Linksliberaler, beachteter Kolumnist im Stern,
früher Verfechter der späteren "neuen Ostpolitik" von Willy Brandt und der
völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, schrieb auch Beiträge für die Zeitschrift
Konkret.
Das Neue Deutschland nannte ihn in einem Nachruf einen "bürgerlichen Querdenker".
Als solcher schrieb er eine Reihe von popularisierenden zeitgeschichtlichen Werken, darunter eine
Churchill-Biografie, vor allem aber immer wieder Bücher zur preußischen und zur deutschen
Geschichte. Er bemühte sich, gängige rechtslastige Vorurteile und Legenden zu
entkräften, die Verherrlichung der kaiserlichen Hohenzollern oder der Reichseinigung von oben
durch Bismarck, die Dolchstoßlegende oder Präventivkriegsthesen.
Ohne immer fachhistorischen Ansprüchen zu genügen, hat Sebastian Haffner die bestechende
Begabung gehabt, wesentliche Zusammenhänge in einfachen Strichen und verständlicher
Sprache deutlich zu machen. Seine "Anmerkungen zu Hitler" (1978) sollten gegen das
Vergessen und Verdrängen der Verbrechen des braunen Reichs bei den Älteren und gegen das
Nichtwissen der Jüngeren gerichtet sein.
Auf dem Sterbebett soll Sebastian Haffner gezweifelt haben, ob sein Leben und Streben überhaupt
einen Sinn gehabt hatte. Für die sozialistische Linke kann es solche Zweifel nicht geben; sie bleibt in
seiner Schuld, auch wenn er nur dieses einzige Werk geschrieben hätte: Der Verrat. 1918/19 - als
Deutschland wurde, wie es ist. Es erschien zuerst 1968 als Stern-Serie unter dem Titel "Der
große Verrat", dann 1969 erstmals als Buch: Die verratene Revolution - Deutschland 1918/19.
Seither ist es unter verschiedenen Titeln immer wieder neu aufgelegt worden. Es verdient die
Aufmerksamkeit wiederzuerlangen, die es in den späten 60er Jahren erregt hatte.
Die "Verrats"-These ist keineswegs eine linke Legende. Sebastian Haffner geht mit diesem
Begriff durchaus sorgfältig um. Zum Beispiel lag die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten
seit August 1914 für ihn durchaus "in der Logik" der Entwicklung und der Politik dieser
Partei, obwohl sie in eklatantem Widerspruch zu ihrer Programmatik und zu allen flammenden Appellen
und Proklamationen der sozialdemokratischen II.Internationale stand:
"Die Partei hatte ein richtiges Gefühl dafür, daß der Krieg die Rechnung für
ein Vierteljahrhundert imperialistischer Außenpolitik präsentierte und daß von den
Früchten dieser Außenpolitik auch der deutsche Arbeiter und die deutsche Sozialdemokratie
mitgenossen hatten. Insofern war es ein Fall von ‚mitgegangen, mitgehangen'. Vor allem aber: Wenn
sie mit dem Parlament und durch das Parlament in die Staatsmacht hineinwachsen wollte, dann war der
Krieg ihre Chance. Sie wurde jetzt zum ersten Mal gebraucht. Die Partei, die das Vertrauen der Massen
besaß, konnte in einem Krieg der Massen nicht mehr übergangen werden. Mit ihrem ‚Ja'
zum Krieg glaubte die SPD die Schwelle zur Macht zu betreten."
Überzeugend beschreibt Sebastian Haffner den Seelenzustand von Männern, die zwar
für die wirklichen Herren linker Abschaum bleiben, aber aus Opportunitätsgründen
doch eine Rolle zugewiesen bekommen haben: "Sie waren jetzt salonfähig geworden, sie
gingen in den Ämtern aus und ein, und selbst im Großen Hauptquartier wurden sie gelegentlich
empfangen und höflich angehört. Es war eine ungewohnte Erfahrung für sie, und sie
konnten nicht umhin, bei dieser neuen Höflichkeit und Leutseligkeit der Mächtigen ein
gewisses weiches und warmes Gefühl zu verspüren." Das war das
Führungspersonal der Partei, die sich 1918/19 widerwillig an die Spitze der Revolution stellte, um
der Gegenrevolution willig zum Sieg zu verhelfen.
Sebastian Haffner zeigt, wie die SPD-Führung unter Friedrich Ebert immer wieder lügt und
betrügt, um Staat und überkommene Ordnung vor den revoltierenden Massen zu retten. Dazu
gehört auch die heimliche Konspiration mit dem Generalstab und die aktive Beteiligung an der
Rekrutierung und am gezielten Einsatz der pränazistischen Freikorps, die bewußte Entfesselung
eines blutigen Bürgerkriegs, der Tausende das Leben kostete - und die politische und sehr
wahrscheinlich auch operative Mitverantwortung für die Morde an Rosa Luxemburg und Karl
Liebknecht. Ebert mußte "Verräter" an der Revolution werden und mit den
Vertretern der äußersten Reaktion zusammenarbeiten, schreibt Sebatian Haffner, um sein
"Ziel" zu erreichen: "die Rettung des bestehenden Staats und der bestehenden
Gesellschaft".
Diese Politik hat letztlich die Grundlagen für die spätere Machtergreifung der Nazis gelegt,
und die Erwürgung der Revolution durch Verrat bestimmt bis heute "wie Deutschland
ist": "Mitte 1919 war der deutschen Revolution das Genick gebrochen. Die SPD regierte jetzt
einen bürgerlichen Staat, hinter dem als wirklicher Machtträger die von ihr herbeigerufene
Gegenrevolution stand. Äußerlich war die Stellung der SPD glänzend wie nie zuvor -
und wie nie nachher. Im Reich, in Preußen, in Bayern besetzte sie alle Spitzenpositionen. Aber ihre
Macht war hohl. In dem bürgerlichen Staat, den sie wiederhergestellt hatte, blieb sie ein
Fremdkörper. Für die gegenrevolutionären Freikorps, mit deren Hilfe sie ihn
wiederhergestellt hatte, blieb sie ein Feind. Und ihre eigene Machtgrundlage hatte diese Arbeiterpartei
zerstört, als sie die Revolution der Arbeitermassen niedergeschlagen hatte."
Das Buch endet mit dem Fazit: "Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und
unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen.
Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute."
Bruno Becker